Dr. Svenja Bonmann am Institut für Linguistik der Universität zu Köln und Dr. Jakob Halfmann am Institut für Altertumswissenschaften der Universität Würzburg erhalten Forschungsgelder der Fritz Thyssen Stiftung, um in Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan weitere Inschriften der sogenannten Issyk-Kuschana-Schrift zu untersuchen. Sie planen einerseits, bereits identifiziertes Inschriftenmaterial in Museumssammlungen zu untersuchen. Andererseits werden sie vielversprechende Fundstellen in den drei Ländern dokumentieren, bei denen vermutet wird, dass es sich um Zeugnisse des Schriftsystems handelt. Die Phasen der Feldforschung werden sich mit Analyse- und Auswertungsphasen in Deutschland abwechseln. Das Forschungsprojekt „A Digital Corpus of the Issyk-Kushan inscriptions“ beginnt zum 1. Januar 2025 und läuft zunächst zwei Jahre mit der Option auf Verlängerung um ein weiteres Jahr. Die bewilligten Mittel in Höhe von 200.000 Euro werden auf beide beteiligten Universitäten aufgeteilt.
In einem Gebiet, das sich vom kasachischen Ili-Tal bis in den südlichen Hindukusch erstreckt, wurden bei archäologischen Ausgrabungen seit Ende der 1950er Jahre mehrere Dutzend Inschriften in einem nicht entzifferten Schriftsystem entdeckt, das man später als „Unbekannte Schrift“ bezeichnete. Die meisten Funde dieser Art wurden in die Zeit zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. datiert und dem historischen Baktrien zugeordnet. Bonmann und Halfmann hatten mit einer weiteren Kollegin 2022/23 das Rätsel gelöst und das Schriftsystem teilweise entschlüsselt. Sie nutzten eine in der tadschikischen Almosi-Schlucht kürzlich aufgefundene zweisprachige Inschrift (Almosi-Bilingue) und eine um 1960 unweit von Kabul entdeckte dreisprachige Inschrift (Dašt-i Nāwur Trilingue). Ihr Ergebnis gilt als die erste erfolgreiche Entzifferung eines Schriftsystems seit siebzig Jahren.
Die vorläufigen Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass die Schrift zumindest im Bereich ihrer Fundorte zur Aufzeichnung einer bisher unbekannten mitteliranischen Sprache gedient hat. Bonmann und Halfmann gaben der neu identifizierten Sprache den provisorischen Namen „Eteo-Tocharisch“, wobei sie sich auf die in antiken Quellen beschriebenen Yuezhi-Tocharer beziehen. Für die vormals „Unbekannte Schrift“ schlugen sie den Namen „Issyk-Kuschana-Schrift“ vor, da ihr Zusammenhang mit der Herrscherdynastie des zentralasiatischen Kuschana-Reichs unbestreitbar ist.
Die geplanten Forschungsaufenthalte dienen dazu, das linguistische Verständnis der Issyk-Kushana-Schrift zu vertiefen, die Arbeit an der teilweise (zu circa 60 Prozent) gelungenen Entzifferung des Schriftsystems fortzusetzen und eine digitale Edition aller Issyk-Kuschana-Inschriften zu erstellen. Dabei erarbeiten Bonmann und Halfmann eine komplette Sammlung der „eteo-tocharischen“ Quellentexte mit Katalog und etymologischem Wörterbuch der Sprache. Ferner suchen sie in Kooperation mit zentralasiatischen Archäologen nach neuen Inschriften, um das lnschriftencorpus nach Möglichkeit um bedeutende Neufunde zu erweitern. In diesem Zusammenhang hat ihr Kooperationspartner von der Tadschikischen Akademie der Wissenschaften mehrere aussichtsreiche Fundplätze lokalisiert, etwa einen Ort im Hissar-Gebirge namens Sang-i Navišta („beschriebener Fels“).
Die Forschungsförderung erlaubt den Wissenschaftlern die digitale Erschließung, Sicherung und Erforschung bereits bekannter lssyk-Kuschana-lnschriften in Kombination mit einer Exploration potenzieller neuer Fundstätten. Die Ergebnisse werden ihnen die Chance eröffnen, mehr über die linguistische Frühgeschichte Zentralasiens zu erfahren und die Issyk-Kuschana-Schrift möglichst vollständig zu entziffern. Das wiederum würde neue historische Forschung über das Kuschana-Reich ermöglichen.
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