Interdisziplinäres Forschungsprojekt der Fritz-Thyssen-Stiftung

August Thyssen und Schloss Landsberg - Ein Unternehmer und sein Haus

Bau- und kunsthistorisches Teilprojekt




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Jahresbericht an die Fritz-Thyssen-Stiftung 1999/2000

Jahresbericht an die Fritz-Thyssen-Stiftung 2000/2001

Jahresbericht an die Fritz-Thyssen-Stiftung 2001/2002






















Jahresbericht an die Fritz-Thyssen-Stiftung 1999/2000

Gegenstand des Forschungsprojektes ist der Alterswohnsitz von August Thyssen (1842-1926), einem der maßgeblichen Repräsentanten der industriellen Elite des rheinisch-westfälischen Wirtschaftsraumes: Schloß Landsberg bei Essen-Kettwig an der Ruhr.

Das Projekt verfolgt das Ziel, die bisher wenig beachtete Frage nach den Wohn- und Lebensformen wirtschaftlicher Führungsschichten im Ruhrgebiet in den Jahren des Kaiserreiches und der Weimarer Republik interdisziplinär zu beantworten und verknüpft das methodische Instrumentarium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit den Fragestellungen und Perspektiven der Architekturgeschichte, der Denkmalpflege und der Allgemeinen Kunstgeschichte. Die Integration verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer unterschiedlichen methodischen Zugriffe ermöglicht es, umfangreiche, bislang unerschlossene Quellenmaterialien eingehend unter unterschiedlichen, einander ergänzenden Aspekten zu bearbeiten. Daneben wird ein wesentlicher Beitrag zur interdiziplinären Grundlagenforschung und zur weiteren Entwicklung des noch jungen Forschungsfeldes "Industriekultur" geleistet. Die Anwendung Neuer Medien (Computer gestützte Erfassung, Dokumentation und Auswertung von Bild- und Schriftmaterial) sowie neuerer Fragestellungen der Sozial- und Kulturgeschichte fördert zudem eine Weiterentwicklung innovativer fachübergreifender Arbeitsweisen.

Stand des bau- und kunsthistorischen Teilprojekts

August Thyssen kaufte den ehemaligen Rittersitz im Jahr 1903 aus dem Besitz des westfälischen Zweigs derer zu Landsberg, der Familie Landsberg-Velen, und beauftragte den Architekten Otto Lüer (1865-1947) und den "Gartenkünstler" Julius Trip (1857-1907) mit der Umgestaltung der Gesamtanlage.

Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden Dokumentation und Bewertung dieses Umbaus zum Wohnsitz des Industriellen. Sowohl die bauliche Maßnahme, die künstlerische Ausgestaltung und Ausstattung als auch die Umgebung des fortan "Schloß Landsberg" genannten Anwesens, seine weitläufige Garten- und Parkanlage, sind in die Forschung einbezogen.

Dabei zeichnet sich bereits jetzt ab, daß das architektonische und raumbildnerische Konzept zu großen Teilen in den Händen der ausführenden Architekten selbst und der offenkundig von diesen eingebundenen Künstler gelegen hat, was eine genauere Betrachtung ihres Oeuvres und ihrer künstlerischen Haltung erforderlich macht: Julius Trip war seit 1892 Stadtgartendirektor in Hannover und prägte die Freiraumplanung dieser Stadt ganz wesentlich. Seine vielseitige Tätigkeit, u.a. auch im Ruhrgebiet, sein führendes Engagement in verschiedenen gartenkünstlerischen Vereinigungen sowie bei Ausstellungsbeteiligungen verschafften ihm weit über die Region hinaus Ruf und Ansehen. Otto Lüer war seit Beginn der 1890er Jahre, nach Studium an der noch ganz von dem Gotiker C.W. Hase geprägten TH Hannover, ebendort freier Architekt. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstlern, darunter hervorzuheben der Bildhauer Carl Gundelach, entstanden stadtbildprägende Bauten und Denkmale in und um Hannover. Gemeinsam hatten Trip und Lüer 1900 bereits Haus Harderode mit zugehörigem Garten geplant und realisiert.

Ferner sind August Thyssens Berater, Vertraute und Kontaktpersonen zu benennen und auf ihre Funktionen im künstlerischen Entstehungsprozeß des Wohnsitzes zu befragen. Deutlich zeigt sich auch, daß der Bauherr der Kunstausstattung des Anwesens besondere Aufmerksamkeit widmete. Insbesondere mit den Marmorplastiken des Franzosen Auguste Rodin (1840-1917), die kurz nach dem Einzug im Wintergarten des Schlosses Aufstellung fanden, hatte sich Thyssen selbst intensiv auseinandergesetzt. Ihr symbolistischer Gehalt scheint auf den Industriellen eine große Faszination ausgeübt zu haben.

Zwei weitere Kernpunkte der Untersuchung bilden die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichende Frühzeit der baulichen Anlage - denn nur vor diesem Hintergrund erschließt sich der Umbau nach 1900 - und das Schicksal des Anwesens nach dem Tode August Thyssens. Seinem Testament gemäß wurde Schloß Landsberg 1928 in den Besitz einer Stiftung, der August-Thyssen-Stiftung-Schloß-Landsberg überführt, die bis heute für Erhalt und Pflege des Anwesens Sorge trägt.

Die Quellen, die für die bislang wenig beachtete mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte des Schlosses bekannt sind, scheinen kaum ausgewertet, und für die jüngere und jüngste Zeit stehen umfangreiche Bild- und Textquellen, Inventare, Dokumentationen, Restaurierungsberichte etc. zur Verfügung. Gerade auch in diesem Zusammenhang sind neue Ergebnisse zu erwarten, denn auch diese fast einhunderjährige Phase des Konservierens hinterließ ihre Spuren im überlieferten Bestand. So prägten neben den Eingriffen der Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs immer wieder neue Nutzungen und Sachzwänge und eine dabei immer implizite Interpretation des Vorhandenen die Gesamtanlage. Die jüngst erfolgte umfassende Sanierungs-, Restaurierungs- und Erweiterungsmaßnahme brachte - bei einem insgesamt als bewahrend verstandenen Umgang - in einigen Bereichen die Aufgabe originaler Bausubstanz, Farbfassungen, Tapeten, Verkleidungen, Fliesen und Böden sowie die Einbuße ehemaliger Raumstrukturen und -funktionen.

Weiterführende Untersuchungs- und Vergleichsebenen betreffen zunächst das unmittelbare bauliche und künstlerische Umfeld der Familie Thyssen, darunter die Mülheimer Villen der Brüder August und Joseph Thyssen, aber auch die Villen und Wohnsitze von deren Direktoren. Hier gilt es herauszufinden, ob Hierarchien und gesellschaftlich-soziale Ansprüche ihren Niederschlag in der Haltung ("Decorum") der Bauten, in gestalterischen und funktionalen Abstufungen und in der Ausstattung der Anlagen fanden, um letztlich den vorgetragenen architektonischen Modus von Landsberg zu bewerten.

Weiterhin bilden die Industriellenwohnsitze des Ruhrgebietes und deren Bedeutungsgeschichte sowie dieselbe Bauaufgabe im nationalen und internationalen Vergleich eine wichtige Untersuchungsebene, um in einem angemessenen Rahmen zu einer Beurteilung des Gesamtkunstwerkes Schloß Landsberg zu gelangen.

Neben der Befragung von Zeitzeugen und zeitgenössischen Publikationen, Sammlungen und Archiven kommt der baulichen Gesamtanlage als Primärquelle das Hauptaugenmerk bei der bau- und kunsthistorischen Untersuchung zu. Alle im Verlauf der Bearbeitung erhobenen textlichen, graphischen , fotographischen und videotechnischen Daten werden in einer zentralen Datenbank (DADA - Die Assoziative Datenbank) erfaßt und verwaltet. Auf diesem Weg ist eine medienübergreifende Bündelung und Aufbereitung der Informationen im Sinne eines "elektonischen Raumbuches" angestrebt.

Stand des sozialhistorischen Teilprojekts

Der sozialhistorische Projektteil wendet sich den Lebensbedingungen, Wohnformen und der Alltagskultur von Industriellenfamilien im 20. Jahrhundert allgemein und August Thyssen im Besonderen zu. Die sozialgeschichtliche Betrachtung verfolgt dabei die Absicht, vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwickungslinien der bürgerlichen Gesellschaft sowie den Grundzügen des "bürgerlichen Wertehimmels" am Beispiel der Wohnkultur und des Lebensstils von August Thyssen den Aufstieg, die Blüte und möglicherweise die Erosion großbürgerlicher Lebensformen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus zu untersuchen

Die historische Betrachtung verfolgt insbesondere drei Ziele:

1. Das Projekt erschließt an einem konkreten Fallbeispiel die soziokulturelle Dimension unternehmerischen Wohnens Dementsprechend wird Schloß Landsberg a) als Ort der Ausformung von Familienstrukturen und -beziehungen, b) als Ausdruck gesellschaftlicher Selbstdarstellung, als Ausdruck eines schichtspezifischen Lebensstils, Werte- und Normenkanons und c) als Ort geschäftlicher, politisch-gesellschaftlicher und kultureller Kommunikationsprozesse analysiert.

2. Die Untersuchung betrachtet darüber hinaus Schloß Landsberg als "pars pro toto": Der sozialgeschichtliche Zugriff beabsichtigt, durch den Vergleich mit anderen Industriellenwohnsitzen - zum einen im rheinisch-westfälischen, zum anderen im Frankfurter Wirtschaftsraum - allgemeinere schichttypische Muster großbürgerlicher Wohnkulturen und Lebensstile zu erfassen.

3. Das Projekt hat schließlich die Absicht, den Wandel von wirtschaftsbürgerlichen Wohnstrukturen und Lebensformen im Zeitablauf zu erfassen, mögliche Zäsuren zu markieren und ihre Ursachen auszuleuchten. Die Arbeit konzentriert sich besonders auf die Jahre zwischen dem Umbau Schloß Landsbergs zum Industriellenwohnsitz und dem Einzug August Thyssens bis zu seinem Tod 1926.

Inhaltlich und methodisch fühlt sich die Arbeit einem klassischen sozialgeschichtlichen Ansatz verpflichtet, bemüht sich, die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster individueller Akteure zu beleuchten und bezieht einschlägige soziologische Theorie- und Begriffsbildungen, die sich im Umfeld der Lebensstil- und Lebenswelt-Forschung bewegen ("Habitus-Konzept" Pierre Bourdiues etc.), mit ein. Die Untersuchung stützt sich u.a. auf die Auswertung von "Ego-Dokumenten" August Thyssens, Zeugnisse von Zeitzeugen, die als Besucher das "Ambiente" Landsbergs und die Charakterzüge Thyssens erfahren haben, auf den Diskurs über industrielle Wohnsitze und Schloß Landsberg in zeitgenössischen Printmedien.

Die sozialhistorische Analyse Schloß Landsbergs und die biographische Einordnung August Thyssens aus der Perspektive der Bürgertumsforschung eröffnet neue Einblicke in die Lebensformen und Alltagsstrategien eines führenden "Wirtschaftskapitäns" an der Ruhr. Das bisher gezeichnete Bild August Thyssens als ausschließlich bescheidener, sparsam-asketischer "Fanatiker der Arbeit" greift für eine adäquate Skizze seiner Person zu kurz und ist korrekturbedürftig. Auf Schloß Landsberg pflegt August Thyssen den Lebensstil eines standesbewußten Unternehmers, der seinen Wohnsitz gezielt repräsentativ ausstattet, zur gesellschaftlichen Selbstdarstellung nutzt und mit seinem "Haus" ökonomischen Erfolg symbolisiert. Das Inventar, der Alltag und die Festkultur bringen zentrale Fixpunkte (wirtschafts-)bürgerlichen Selbstverständnisses zum Ausdruck. Zu den konstitutiven Elementen seines individuellen Wertehimmels gehörten Leistung und Arbeit, patriachalisch-hierarchisches Denken, aber auch die klassischen bildungsbürgerlichen Ideale Familie Bildung, Kultur und Geselligkeit, die offenbar auch in einer schwerindustriellen Region ohne gewachsene bürgerlich-kulturelle Infrastruktur unabdingbar gewesen sind, um sich als Bürger zu definieren und in der lokalen Gesellschaft zu positionieren.

Daneben wird im Spiegel der Thyssen'schen Familiengeschichte der Formwandel des bürgerlichen Wertehimmels greifbar. Die erworbenen und angeeigneten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster August Thyssens geraten zunehmend in Konflikt mit den neuen Herausforderungen und Strukturen des bürgerlichen Wertesystems, mit der Auflösung des homogenen bürgerlichen Modells und der Ausdifferenzierung von Bürgerlichkeit (so hielt August Thyssen etwa bei seinen Lösungsversuchen der innerfamiliären Konflikte konsequent am Leitbild des patriarchalischen Familienoberhauptes fest, während sich seine Söhne zunehmend von den traditionellen bürgerlichen FamilienBILDER emanzipierten und herkömmliche Verhaltensmuster aufbrachen); die innerfamiliären Konflikte beleuchten zum anderen schlaglichtartig das latente Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Koordinaten des (wirtschafts-)bürgerlichen Wertesystems - etwa zwischen einem ausgeprägten, für den Erfolg eines Unternehmens notwendigen Arbeits- und Leistungsethos und dem Anspruch, ein zeitaufwendiges und harmonisches und zeitaufwendiges Familienleben zu führen.

Die Publikation der Untersuchungsergebnisse in einem beide Teilprojekte umfassenden, reich illustrierten Band ist angestrebt. Daneben werden aus der sozialhistorischen Analyse zwei Dissertationen hervorgehen: Zum einen soll am Beispiel August Thyssens vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklungslinien des bürgerlichen Wertekanons im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts die praktische Lebensführung eines Wirtschaftsbürgers nachgezeichnet werden. Zum anderen wird der Frage nach der Gestalt, der Wirkungskraft sowie den Ausdifferenzierungen des "bürgerlichen Wertehimmels" und seine Rückwirkungen auf schichtspezifische Wohn- und Lebensformen an Beispielen aus dem Frankfurter Wirtschaftsraum nachgegangen, um im systematischen Vergleich die Eigentümlichkeiten - aber auch die regionsübergreifenden Gemeinsamkeiten - des Thyssen'schen Lebensstils zu erfassen.

Claudia Euskirchen

Jörg Lesczenski

Stephan Strauß

Birgit Wörner

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Jahresbericht an die Fritz-Thyssen-Stiftung 2000/ 2001

Im Berichtszeitraum 1999/ 2000 bewilligte die Stiftung Fördermittel für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt "August Thyssen und Schloß Landsberg. Ein Unternehmer und sein Haus" unter der Leitung von Prof. Norbert Nußbaum, Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, für das bau- und kunsthistorische Teilprojekt und Prof. Werner Plumpe, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Frankfurt am Main, für das sozialhistorische Teilprojekt; weiterhin beteiligt sind Prof. Uta Hassler, Lehrstuhl für Denkmalpflege und Bauforschung der Universität Dortmund, und das Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung der Ruhruniversität Bochum.

In einer Verknüpfung der verschiedenen historischen Disziplinen werden August Thyssen (1846- 1926) als führender Ruhrindustrieller und Wirtschaftsbürger und sein Alterssitz Schloß Landsberg bei Essen-Kettwig erforscht. Dabei verbinden sich die interdisziplinären Forschungsstränge schwerpunktmäßig für die Jahre von 1903 bis 1926, in denen August Thyssen auf Schloß Landsberg gewohnt hat, greifen jeder für sich jedoch darüber hinaus und werden durch vergleichende Betrachtungen ergänzt. Eine ausführliche Vorstellung der Projektziele, Methodik und Herangehensweise erfolgte im Jahresbericht der Fritz Thyssen Stiftung 1999/ 2000, S.109-112.

Ausgangspunkt der Untersuchungen zu Schloß Landsberg bildet der Umbau, den August Thyssen 1903 durch den hannoveraner Architekten Otto Lüer (1865- 1947) und den hannoveraner Stadtgartendirektor Julius Trip (1857- 1907) durchführen ließ. Hinweise zur Verbindung zwischen Bauherr und Planer geben dabei die Planungen von Trip für Privatgärten auch im Ruhrgebiet und die Teilnahme an der Industrie- und Gewerbe- Ausstellung 1902 in Düsseldorf. Ein Vergleichsbeispiel für die Zusammenarbeit beider Planer stellt das 1900 errichtete Haus Harderode am Ith dar.

Im Rahmen einer weit gespannten komperatistischen Untersuchung werden die Villenbauten des deutschen Wirtschaftsbürgertums in der Zeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik vergleichend eingebunden sowie das Thema "Kunst und Architektur um 1900 im Spannungsfeld von Tradition und Reform" an Schloß Landsberg und an verwandten Bauvorhaben vertieft.

Für den Umbau von Schloss Landsberg können bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Planunterlagen hinzugezogen werden (Abb. 1 und Abb. 2), die verdeutlichen, daß die strukturellen Eingriffe in das bauliche Gefüge überwiegend aus der Zusammenlegung von Räumen, der Ergänzung des Wintergartens und der Überformung der Fassade bestanden. Die erhaltenen Planmaterialien werden durch ein aktuelles Aufmaß der Gebäudekontur ergänzt und somit quellenkritisch eingeordnet.

Die Ausstattung wurde 1903 ganz im Stil der Zeit erneuert, und nur wenige Spolien der Vorgängeranlage (Kaminplatten und Wappensteine) fanden Wiederverwendung. Das Mobiliar (im wesentlichen von der zeitgleich auch in der Kruppschen Villa Hügel tätigen Mainzer Firma Bembé ausgeführt) und besonders das sogenannte Pariser Bad (ausgestellt auf der Weltausstellung 1900 und zusammen mit der übrigen Sanitärausstattung auf Landsberg hergestellt von der Straßburger Firma Voltz & Wittmer) verweisen dabei auf die zeitspezifische Programmatik in Kunst, Architektur und Innenarchitektur um 1900. In diesem Kontext erscheint Schloß Landsberg auf der Höhe der zeitgenössischen Reformdiskussion.Ein gerade für den interdisziplinären Ansatz ergiebiges Untersuchungsfeld bietet die in großen Teilen noch heute auf Landsberg präsentierte "Kunstsammlung" August Thyssens, darunter auch fünf Marmorskulpturen von Auguste Rodin, dem "Übervater" der Künstlergeneration um 1900, sowie ein Porträt des von Thyssen hochverehrten Reichskanzlers von Bismarck, ein Werk des Künstlerfürsten Franz von Lenbach. Intention und Charakter der Sammlung geben Aufschlüsse über das Selbstverständnis August Thyssens als Mäzen und über den zugrundeliegenden Habitus des kunstsinnigen Industriellen.

Wirtschaftsbürgerliche Lebensführung wird grundlegend von der jeweiligen regionalen topographischen Konfiguration, von den Raum- und Siedlungsstrukturen, in denen sich Bürgerlichkeit entfaltet, beeinflußt. August Thyssen bewegte sich im Ruhrgebiet in einem gesellschaftlichen Raum, der sich weder durch eine hohe räumliche Konzentration von Unternehmerwohnsitzen, noch durch eine jahrzehntelang gewachsene bürgerliche Infrastruktur mit hoher normativer Kraft auszeichnete. Das großbürgerliche Milieu an der Ruhr, in dem klassische bürgerliche Institutionen (Salons, Vereine, Theater und Museen etc.) weitgehend fehlten, der Zwang zu einer homogenen Lebensführung gering ausgeprägt war, und in dem normabweichendes Verhalten nicht durchgreifend sanktioniert wurde, eröffnete August Thyssen Handlungsspielräume für die individuelle Entfaltung von Bürgerlichkeit, und bei der Wahl der persönlichen Lebensentwürfe und der eigenen wirtschaftsbürgerlichen Alltagsstrategien.

Welche Besonderheiten im Wertekanon und der Lebensführung lassen sich bei August Thyssen unter Berücksichtigung der milieuspezifischen Bedingungen ausmachen?

1. Der bürgerliche Habitus Thyssens, seine Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata speisten sich besonders aus seinem Selbstverständnis als handelnder Eigentümer-Unternehmer und - damit eng verbunden - einem ausgeprägten Arbeits- und Leistungsethos, das der Schwerindustrielle gerade in adeligen Gesellschaftskreisen immer wieder vergebens suchte.

2. Im individuellen Wertehimmel zeichnen sich deutlich Dissonanzen und Spannungsverhältnisse zwischen Anspruch und Wirklichkeit ab. Der von August Thyssen wiederholt vorgetragene Wunsch, ein harmonisches, nahezu idealtypisches bürgerliches Familienleben zu führen (der letztlich durch Schloß Landsberg als Ort regelmäßiger Familientreffen architektonisch seinen Ausdruck fand), stand in einem scharfen Kontrast zu den innerfamiliären Strukturen und Machtverhältnissen: Weder hatte er nach früher Scheidung die nach zeitgenössischen Vorstellungen für den Ehemann unabdingbare "liebende Gattin" und "treusorgende Mutter" an seiner Seite, noch wurden die persönlichen Wertpräferenzen von seinen Söhnen August junior, Fritz und Heinrich geteilt. Die männlichen Nachkommen lehnten das von Thyssen rigoros verfochtene Modell des autoritären Familienpatriarchen ab, strebten nach Adelstitel und verknüpften ihren eigenen Wertekanon weniger mit dem Firmenwohl des Thyssenkonzerns.

3. August Thyssen "imitierte" zentrale Elemente wirtschaftsbürgerlicher Lebensführung. So nahm der Unternehmensgründer durchaus am kulturellen Leben teil und besaß kulturelles Kapital in seiner materiellen Form. Eine systematische "Sammlerleidenschaft", eine über Jahrzehnte erworbene "inkorporierte" Fähigkeit, sich gezielt mit den Inhalten von Kunst und Kultur auseinanderzusetzen, ist dagegen wenig zu erkennen. Ebenso ist fraglich, ob August Thyssen als Bauherr den Umbau seines neuen Wohnsitzes maßgeblich beeinflußte und darüber hinaus die Geschichte und Tradition der architektonischen Arrangements bewußt reflektierte. Bei einer näheren Untersuchung der Ausstattung von Schloß Landsberg wird deutlich, daß zwar wichtige Elemente bürgerlicher Freizeit- und Geselligkeitskultur wie Tennisplatz, Pferdeställe oder die Möglichkeit zur Jagd vorhanden waren, sie von Thyssen selbst aber nicht genutzt wurden.

Die spezifischen Bedingungen wirtschaftsbürgerlicher Wohn- und Lebensformen im Ruhrgebiet, die besonderen Charakteristika der lokalen großbürgerlichen Milieus sowie ihre Rückwirkungen auf die konstitutiven Normen und Alltagspraktiken "schwerindustrieller Lebensführung", erschließen sich durch den systematischen Vergleich mit einer ganz anders strukturierten sozioökonomisch strukturierten Region. Im Projektkontext wurde als Vergleichsfolie zu August Thyssen und Schloß Landsberg der Frankfurter Wirtschaftsraum gewählt.

Anders als im Ruhrgebiet trugen in Frankfurt die geographische Nähe - gleichsam das bürgerliche Alltagsleben "Tür an Tür" - und das engmaschige Netzwerk von privaten (Bürgerhäuser) und öffentlichen Räumen (wie Theater, Oper, Vereine, Clubs, Reitbahn) sowie die daraus erwachsenden regelmäßigen schichttypischen Interaktionsformen wesentlich dazu bei, eine geschlossene bürgerliche Lebenswelt mit einem allgemeinverbindlichen Wertekanon zu konstituieren.

Die Funktionen der Bürgerhäuser an Main und Ruhr sind durchaus vergleichbar. Die Wohnsitze führender Frankfurter Wirtschaftsbürger waren genauso wie Schloß Landsberg Schauplätze von Arbeitsessen und Familientreffen, dienten der "informellen Netzwerkbildung", der Pflege von gesellschaftlichen und freundschaftlichen Kontakten und waren Orte bürgerlicher Geselligkeitsformen. Die Unternehmersitze hatten allerdings unterschiedliche Bedeutungen für die Konstituierung der örtlichen lokalen Milieus. Die alltäglichen Geselligkeits- und ritualisierten Kommunikationsformen in Frankfurt, die im Vergleich zum Ruhrgebiet deutlich höhere Intensität des innerhäuslichen "Festkalenders", die maßgeblich erst durch die topographischen Konditionen ermöglicht wurde, erzeugte und stabilisierte einen geschlossenen bürgerlichen Raum, der es den Repräsentanten der bürgerlichen Elite ermöglichte, sich fortlaufend über die gemeinsamen Werte, Normen und Alltagspraktiken zu verständigen.

Claudia Euskirchen

Jörg Lesczenki

Stephan Strauß

Birgit Wörner



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Jahresbericht an die Fritz-Thyssen-Stiftung 2001/ 2002

Seit Frühjahr 2000 fördert die Fritz Thyssen Stiftung in Köln das interdisziplinäre Forschungsprojekt August Thyssen und Schloss Landsberg. Ein Unternehmer und sein Haus. Das Projekt verfolgt das Ziel, die bisher wenig beachtete Frage nach den Wohn- und Lebensformen wirtschaftlicher Führungsschichten im Ruhrgebiet um 1900 interdisziplinär zu erforschen. Zentraler Untersuchungsgegenstand ist der Alterswohnsitz von August Thyssen (1842-1926), Schloss Landsberg bei Essen-Kettwig, in der Verknüpfung mit seinem prominenten Bauherrn, einem der maßgeblichen Repräsentanten der industriellen Elite des rheinisch-westfälischen Wirtschaftsraumes, und dessen Wohn- und Repräsentationsbedürfnissen.

Die beteiligten Lehrstühle und Institute sind die Universität zu Köln, Kunsthistorisches Institut/ Abteilung Architekturgeschichte (Prof. Dr. Norbert Nußbaum/ Projektleitung bau- und kunsthistorisches Teilprojekt), die Universität Dortmund, Lehrstuhl für Denkmalpflege und Bauforschung (Prof. Dr. Uta Hassler), die Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Prof. Dr. Werner Plumpe/ Projektleitung wirtschafts- und sozialhistorisches Teilprojekt) sowie das Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung ZEFIR der Ruhruniversität Bochum (Ralf Himmelmann M.A).

Neben der Fortsetzung der Quellenrecherche und Literaturarbeit lag ein Schwerpunkt der Arbeit des bau- und kunsthistorischen Teilprojektes innerhalb des Berichtzeitraumes auf der vertieften Auseinandersetzung mit der materiellen Substanz von Schloss Landsberg. Hierbei wurden mit Unterstützung externer Fachleute durch Methoden der historischen Bauforschung einzelne Bereiche des Palas und des Bergfrieds eingehender untersucht und exemplarisch dokumentiert. Neben einer präzisen Vermessung der Außenkubatur, die u.a. zur Überlagerung der erhaltenen Planunterlagen genutzt werden soll, wurden bestimmte Bereiche des Hauses verformungsgerecht aufgemessen, um in die so entstehenden Pläne u.a. die exemplarisch erhobenen Befunde zu kartieren. Wesentliche Fragen betrafen dabei sowohl den Originalzustand um 1903 als auch die dokumentierbaren Veränderungen späterer Maßnahmen, die sich am Objekt ablesen lassen.

Ein weiterer wesentlicher Schwerpunkt des bau- und kunsthistorischen Teilprojektes lag auf einer breit angelegten Komparatistik zum Thema Wohn- und Repräsentationsformen um 1900. Mit Hilfe der vergleichenden Analyse soll Schloss Landsberg als Beispiel großbürgerlichen Bauens zwischen Späthistorismus und den Reformprogrammen der beginnenden Moderne adäquat eingeordnet und profiliert werden. Dabei werden insbesondere die Rahmenbedingungen in den Blick genommen, unter denen Schloss Landsberg als Projekt eines Industriellenwohnsitzes Gestalt annahm. Die Einordnung stützt sich vorwiegend auf die vorhandene Primär- und Sekundärliteratur, soweit erforderlich aber auch auf ergänzende Archivarbeit und Beobachtungen vor Ort. Die getroffene Auswahl der Vergleichsobjekte gliedert sich in verschiedene Bereiche: die Wohnsitze der Familienmitglieder, Wohnformen im rheinisch-westfälischen Wirtschaftsraum sowie überregional und international bedeutende Maßnahmen des Villen- und Landhausbaus und der Burgenrestaurierungen.

Bezogen auf Schloß Landsberg zeichnen sich als Ergebnis der Untersuchung zwei Thesen ab, die auf den ersten Blick widersprüchlich und sich gegenseitig auszuschließen scheinen; bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass hier zwei dem Thyssenschen Wohnsitz immanente Dimensionen aufscheinen:

Die erste These bewertet den Umbau von Schloss Landsberg durch August Thyssen als bewusste Anknüpfung an das Vorgefundene sowie als dessen bauliche und künstlerische ‚Fortschreibung’. Dabei steht der Industriellenwohnsitz im reichsweiten Vergleich als ein Beispiel von vielen für die bürgerliche Aneignung von Schlössern und Burgen, der den Insignien der traditionellen Elite. Die um 1830 vom preußischen Königshaus begründete Tradition der Inbesitznahme der Höhenburgen im Rheintal verdeutlicht exemplarisch, daß auch der Umgang des Adels mit seinen Häusern bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einem Wandel unterlag.

Dem offenkundigen Bestreben des Bauherrn August Thyssen, sich der Tradition des Ortes und der Geschichte des Hauses zu vergewissern, liegt der Anspruch zugrunde, sich in Ermangelung einer eigenen Geschichte, diejenige des Hauses zu eigen zu machen und damit seine gesellschaftliche Stellung zu legitimieren. Dem Erwerb von Schloss Landsberg scheinen darüber hinaus Überlegungen zur Ausbildung eines Familienstammsitzes vorangegangen zu sein. Die Entscheidung der Familie für das nach dem Tode August Thyssens auf Landsberg eingerichtete Mausoleum belegt die Rezeption dieser Vorstellung und ihre Verstärkung im Sinne einer Dynastiebildung.

Die zweite These bewertet den Umbau von Schloss Landsberg als eine moderne, spezifisch bürgerliche Lösung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts werden Elemente des Burgenbaus in die bürgerliche Baukunst integriert, was um 1900 zu einer Transformation der Burgen zu Villen und Landhäusern führte. Dieses Phänomen manifestiert sich deutlich auf Schloß Landsberg. Die Planer des Anwesens bewegen sich mit ihren Konzepten in einem reformhistorischen Kontext, der damals einen ersten Ansatz zur Überwindung des Historismus darstellte. Das Eindringen internationaler Einflüsse, vorwiegend aus England und den USA, offenbart frühe Ansätze eines ‚Internationalen Stils’. Hierbei zeichnet sich ab, dass gerade in dem der Avantgarde offenen Habitus des Wirtschaftsbürgers eine augenscheinliche Divergenz zu den zeitgleichen Maßnahmen und Repräsentationsformen der alten Elite, des Adels besteht. In diesem Zusammenhang stellt sich Schloss Landsberg - über die symbolhafte Aneignung von Bildern einer adeligen Lebenswelt hinaus gehend - als eine spezifisch bürgerliche Kulturleistung dar.

Beide Thesen reflektieren den Niederschlag der in den Jahren um 1900 virulenten (bau)künstlerischen Konzepte und Programme im Spannungsfeld zwischen Konvention und Reform, Tradition und Modernität sowie die kulturellen Handlungsmaximen und Verhaltensweisen in einer von vielfältigen Auf- und Umbrüchen in Kultur und Gesellschaft geprägten Zeit.

Der Schwerpunkt im sozialhistorischen Teilprojekt lag u.a. auf einer vergleichenden Betrachtung der Geselligkeitsformen in großbürgerlichen Haushalten. Die Besonderheiten in der Lebensführung August Thyssens erschließen sich gerade im Vergleich zu wirtschaftbürgerlichen Alltagspraktiken in einer ‚klassischen Bürgermetropole’ wie Frankfurt am Main.

Die Verschränkung von Geselligkeitsformen in privaten und öffentlichen Räumen in Frankfurt verdeutlichen die Tagebuchaufzeichnungen von Mathilde Schmidt, Tante des Privatbankiers Moritz von Metzler. Man traf sich zum Mittagessen, zur Teevisite, zum Abendessen, zu Bällen, machte Spiele, Hausmusik und Laientheater. In der Öffentlichkeit besuchte sie Konzerte der Museumsgesellschaft, Theater- und Opernaufführungen, Ausstellungen im Städelschen Kunstinstitut, nahm an den Sitzungen des Frauenvereins teil und ging jeden Sonntag in die Kirche. Daneben nahmen auch sportliche Aktivitäten breiten Raum im geselligen Treiben ein (Reitsport, Tennis, Golf, Schwimmen, Turnen, verschiedene Wintersportarten, Radfahren). Sport war dabei körperlicher Ausgleich, bot aber auch die Möglichkeit der exklusiven Repräsentation und der Distinktion (v.a. beim Reitsport) oder war Plattform für einen ungezwungeneren Umgang als es sonst bei Gesellschaften üblich war, so dass die Jugend ihn gerne als ‚Flirt – und Heiratsmarkt’ nutzte.

Das gesellschaftliche Parkett in Frankfurt war glatt, Etikette– und Benimm-Regeln mussten eingehalten werden, wollte man sich nicht der Lächerlichkeit preis geben: Tischordnung, Tischsitten, Menuefolge, Kleidung etc. waren festgelegt und erforderten von Gastgebern wie Gästen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Kompetenz. Abendgesellschaften im eigenen Haus wurden von beiden Ehepartnern gemeinsam getragen. Die einseitige Zuschreibung des Hauses als Sphäre der Frau im Gegensatz zur Arbeitswelt des Mannes scheint hier im Selbstverständnis der Eheleute Maria und Moritz von Metzler ihre Grenze zu finden: die zentralen Bezugspunkte Haus und Familie waren gemeinsame Sphären.

Die Teilnahme an Geselligkeiten konnte als Vergnügen empfunden werden, gleichwohl war die Frequenz oftmals eine Belastung. Tolerierte und von allen Mitgliedern der „guten Gesellschaft“ angewandte Ausweichmöglichkeiten waren, sich verleugnen zu lassen oder einen vollen Terminkalender vorzuschieben.

Der tägliche Kontakt zwischen den Frankfurter Familien war wesentliches Strukturmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft und Geselligkeitskultur. Die Familien waren Teil eines Kommunikationsprozesses, der die Konstituierung der Frankfurter Gesellschaft ermöglichte. Neben den öffentlichen Geselligkeitsformen (z.. B. Vereine) spielte dabei die private Geselligkeit in den Bürgerhäusern eine große Rolle. Für den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin war die gesellschaftliche Struktur, ihre Normen und Werte bindend. Der nachweisbare Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben fand nur partiell, sozusagen „stundenweise“ statt und war letztendlich Bestätigung – da von allen toleriert und angewandt – der Funktionstüchtigkeit des gesellschaftlichen Netzwerks.

Auf Schloss Landsberg, das sich für August Thyssen zu einem Lebensmittelpunkt und zu einem Zentrum wirtschaftsbürgerlicher Kommunikationsprozesse entwickelte, lassen sich idealtypisch vier Geselligkeitsformen voneinander unterscheiden: 1) Familientreffen, 2) ‚Arbeitsessen’, 3) Besuche, die der informellen Netzwerkbildung’ dienten (etwa die Einladung regionaler Verwaltungseliten), 4) der Empfang größerer ‚bürgerlicher’ Gesellschaften, die zum einen entweder einen eher offiziellen Charakter (u.a. Überreichung des Ehrenbürgerbriefes der Stadt Mülheim an der Ruhr am 22. Mai 1912) oder zum anderen einen eher privaten Anstrich besaßen und dazu beitrugen, freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Gewisse Rituale wurden offenbar bei so gut wie jeder geselligen Zusammenkunft gepflegt. Nach dem Essen gehörte der gemeinsame ‚Kaffeetrunk’ und die Besichtigung der Marmorplastiken Rodins im Wintergarten genauso zum Pflichtprogramm, wie der obligatorische Spaziergang durch die Wald- und Parkanlagen, der Thyssen augenscheinlich besonders am Herzen lag. Zumindest einigen Gästen (z.B. Cläre Stinnes, Jules Huret) eröffnete Thyssen auch Einblicke in seine Privatgemächer. Die Neigung bei festlichen Anlässen einen eher luxuriösen Konsumstil zu pflegen, der ‚feudal-üppige’ Anstrich mancher Geselligkeit und der unverkennbare Stolz auf ‚sein’ Schloss Landsberg lassen sich möglicherweise mit den Eigenarten des bürgerlichen Leistungsethos erklären. Landsberg und seine Geselligkeitsformen symbolisierten den wohlverdienten Lohn für die zeitraubende und kräftezehrende Existenz des Eigentümer-Unternehmers.

Auch wenn es auf Schloss Landsberg Zusammenkünfte mit ‚privat-bürgerlichem’ Charakter gegeben und August Thyssen die grundlegenden Spielregeln bürgerlicher Geselligkeitsformen akzeptiert hat: Die Festlichkeiten und Einladungen bewegten sich – übrigens nicht erst in Landsberg, sondern bereits in seiner um 1872 errichteten Villa „Froschenteich“ - in ihrer großen Mehrheit im Fahrwasser unternehmerischer Interessen oder trugen familiären Charakter. Im Spiegel der Geselligkeitsformen werden zwei grundlegende Züge des ‚Thyssen’schen Habitus’

greifbar: für den Ruhrindustriellen war – erstens - das eigene Unternehmen zentraler Orientierungspunkt individuellen Handelns. Das gesellige Leben blieb auf die Unternehmerrolle und die eigentliche Erfolgsgeschichte des Schwerindustriellen bezogen. Der ‚Festkalendar’ Landsbergs verweist – zweitens – auf die durchaus mit emotionalen Momenten eingefärbte Familienorientierung Thyssens. Da August Thyssen allerdings zu keiner Zeit bereit war, sich von seiner Rolle als allmächtiger autoritärer Familienpatriarch zu verabschieden und die Bedürfnisse seiner Familienangehörigen im Zweifelsfall daran maß, ob und wie sie mit den unternehmerischen Interessen des Konzern in Einklang standen, klafften Ideal und Alltagspraxis im Hause August Thyssen weit auseinander.

Ganz im Gegensatz zu den wirtschaftsbürgerlichen Wohnsitzen in Frankfurt am Main war Schloss Landsberg kaum ein Ort der ständigen bürgerlichen Selbstvergewisserung, an dem sich die regionale Elite an der Ruhr über die ‚richtige’ bürgerliche Lebensführung verständigte und durch ihr Alltagshandeln immer wieder bestätigte. Zwar gehörten auch führende Repräsentanten der regionalen Industriekapitäne zu den Besuchern auf Landsberg (wie etwa Hugo Stinnes). Insgesamt erschienen die Namen herausragender Ruhrindustrieller allerdings sehr selten auf den Gästelisten. Hinzu kommt: Die Art und Weise der Geselligkeitsformen lassen auch auf Unsicherheiten im Umgang mit den bürgerlichen Verhaltenstandards schließen. Die Erinnerungen an die Gäste, in standesgemäßer Kleidung zu erscheinen, verweist möglicherweise auf fehlende, über Jahre ‚natürlich gewachsene’ gemeinsame Wahrnehmungs- und Handlungs- und Erfahrungsmuster an der Ruhr. Das gesellige Leben erscheint als ein Akt der Inszenierung und weniger als ein Ergebnis jahrzehntelang erfahrener bürgerlicher Umgangsformen.



Claudia Euskirchen

Jörg Lesczenki

Stephan Strauß

Birgit Wörner



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Zuletzt geändert am: 16. 05. 2002 -- Webmaster: Stephan Strsembski