Forschungsergebnisse
Heuristisches Ziel des Forschungsvorhabens war es, den Konzeptualisierungen der Fotografie mittels einer diachronen
und synchronen diskursanalytischen Lektüre von im Untersuchungszeitraum publizierten fotografischen Handbüchern
nachzugehen. Durch den Vergleich der unterschiedlichen, zum Teil immer wieder neu herausgegebenen, überarbeiteten,
ergänzten und erweiterten Handbücher sollte nachgezeichnet werden, inwiefern es sich bei dem in diesen utilitaristischen
Büchern sedimentiertem fotografischen Wissen um ein wissenschaftliches Wissen handelt, um eines also, das den Parametern
der sich spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierenden (Natur-)Wissenschaften entspricht.
Neben der Physik, mit deren experimentellem und angewandtem Vorgehen einer der frühen deutschsprachigen Handbuchautoren,
Anton Martin, seine fotografischen Untersuchungen verglich, wurde in dem Projekt die Rolle untersucht, die der Chemie
für die Konstituierung der Fotografie als Wissenschaft zukommt. Wobei, wenn die Chemie als Paradigma eingeführt wurde,
es nicht darum ging, sich mit der die chemischen Wirkungen des Lichts untersuchenden Fotochemie zu beschäftigen.
Vielmehr wurde herausgearbeitet, dass die Chemie deshalb als epistemisches Paradigma einer als Wissenschaft
begriffenen Fotografie fungiert, weil sie – ganz im Sinne der Chemie um 1800 – nicht so sehr als Grundlagenwissenschaft
(und hierin liegt die Differenz zu bislang von anderen Fotohistorikern vorgenommenen Gleichsetzungen von Fotografie
und Wissenschaft), denn als angewandte Wissenschaft operiert.
Während sich aber die an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert etablierten Grundlagen der modernen Chemie im Laufe
des 19. Jahrhunderts nicht maßgeblich veränderten, charakterisiert sich die Handbuchproduktion und -dissemination
durch das technischen Medien eingeschriebene Verhältnis von Innovation und Obsoleszenz: Sei es, dass sie als
unverständlich gewertet wurden, als zu ungenau, als zu kompliziert, sei es dass sie durch verfahrenstechnische
Entwicklungen überholt wurden, immer scheint eine Schrift bereits die nächste auf den Plan gerufen zu haben,
die wiederum kritisiert worden ist. Als defizitär wurden allerdings nicht nur die Handhabungen und Erläuterungen
dieser Handhabungen erachtet, sondern auch die materiellen Voraussetzungen der Textbücher, die fotografischen Bilder.
Neben der Kritik an der Diskursivierung und Verfahrenstechnik resultiert somit ein weiterer, für die Ausdifferenzierung
der Handbuch-Literatur verantwortlich zu machender Sachverhalt aus der Tatsache, dass die Fotografien selbst defizitär waren.
Bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus werden technologische Entwicklungen, deren Charakteristikum das Veralten
ist, von einer Form des Wissens gesteuert, die naturwissenschaftliches Wissen mit praktischem Handlungswissen gleichermaßen
wie mit ikonischen Darstellungsverfahren verbindet. Im Laufe unserer Studien wurde deutlich, dass die unter dem Terminus
Polytechnik subsumierten zur Ausübung der verschiedenen Künste und Gewerbe erforderlichen Kenntnisse und Geschicklichkeiten
DAS heuristische Modell bilden, dem alle fotografischen Veröffentlichungen und Praktiken unterworfen waren. Neben chemischen
Handbüchern informiert also ein weiteres epistemisches Modell, das des polytechnischen Wissens, die Wissensproduktion
und –artikulation fotografischer Handbücher.
Die durchgeführten Untersuchungen haben ergeben, dass es sich bei der Handbuchliteratur – ganz im Sinne der polytechnischen
Wissensproduktion und Verbreitung – um eine Kompilationsliteratur handelt. Auch haben die Studien deutlich gemacht, dass die
edukative Anleitungsliteratur weder solitär noch nach auktorialen Parametern untersucht werden kann, sondern dass belastbare
Aussagen nur durch eine breitere Kontextualisierung der Texte getroffen werden können, die neben den individuellen Curricula
und den Netzwerkstrukturen, innerhalb derer die Autoren (im Sinne von Ludwik Flecks Denkkollektiven) agierten, auch die Rolle
des Verlagswesens für die Wissensgenerierung und -dissemination berücksichtigt.
Das Forschungsprojekt hat gezeigt, dass sich kein Medium so sehr dazu eignet etwas über die Rolle der angewandten Wissenschaften
als Modell des neuen Aufzeichnungsverfahrens zu erfahren als die fotografische Handbuchliteratur. Durch diese lässt sich die
Ausdifferenzierung des Mediums Fotografie in vielfältige Anwendungsbereiche und damit Wissensfelder präzise nachvollziehen.
Die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Verankerungen der Lehrbücher trägt darüber hinaus zu einem erweiterten
Verständnis sowohl der Fotografie als Medium als auch des Mediums Fotografie, und somit zu einer methodologisch
neuen Historiografie der Fotografie bei.