DFG-Forschungsprojekt
Ziel des Forschungsvorhabens ist die Untersuchung literarischer Praktiken in Skandinavien um 1900. Der in Kap. 2.1 skizzierte aktuelle Stand der Theorieentwicklung zum Handlungscharakter von Literatur bedingt dabei die Einzelziele unseres Forschungsvorhabens, indem er als Ausgangspunkt für die Untersuchung ausgewählter literarischer Praktiken hinsichtlich der jeweiligen Performativität und Medialität von Literatur dient:
Um dem Problem der begrifflichen Unschärfe zu begegnen, wird in unserem Projekt heuristisch folgendermaßen zwischen Performativität, Performanz und dem von uns in den Vordergrund gerückten Begriff der Praxis differenziert:
Um dem Historisierungsdefizit der Performativitätsforschung abzuhelfen und um eine möglichst dichte Beschreibung der jeweiligen Praktiken, ihrer Funktionen und ihrer Wechselbeziehungen zu leisten, konzentriert sich das Projekt auf einen abgegrenzten historischen Zeitraum: die Jahrzehnte um 1900. Diese stellen nicht nur eine Umbruchzeit in der Medienentwicklung mit entsprechend neuen Praktiken dar (z.B. die Filmaufführung im Kino oder die Speicherungsmöglichkeit von Tonaufnahmen, die neue Archivierungs- und Wiedergabeformen ermöglichen), sondern sind zugleich eine Phase, in der die Literatur sich im Umbruch befindet und sich neu in der Öffentlichkeit positionieren muss. Nachdem der Autor und die Literatur zuvor eine zentrale gesellschaftliche Stellung innehatten, wird in der Zeit um und nach 1900 dieser Status von Text und Autor zusehends in Frage gestellt. Die medialen Umbrüche (u.a. Schnellpresse, ‘Bildindustrialismus’, bewegte Bilder) tragen dabei wesentlich durch die Hypertrophie des Medialisierten zur Erosion der vormals zentralen gesellschaftlichen Stellung der Literatur bei.
Die literarische Entwicklung zielt ästhetisch wie soziologisch auf eine Autonomisierung und Ablösung von anderen gesellschaftlichen Feldern (der Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Pädagogik etc.). Mit der Untersuchungsphase wird ein zentraler Zeitraum der Herausbildung des heutigen Literatursystems fokussiert, denn für alle skandinavischen Länder lässt sich eine weit fortgeschrittene Autonomisierung des – in Bourdieuschen Termini – literarischen Feldes beobachten. Die internationale Durchsetzung von Urheberrechten seit 1886, das rapide wachsende Lesepublikum und die Publikationsmöglichkeiten in der Massenpresse liefern das ökonomische Fundament, um einen Stand von Berufsautoren entstehen zu lassen, die sich – von staatlichen Stipendien abgesehen – frei auf einem Literatur‘markt’ behaupten müssen.
Die finanzielle Abhängigkeit von einem anonymisierten Marktgeschehen und die Konfrontation mit der industrialisierten Moderne führt indes auch zu einer Krise im Selbstverständnis von Literatur wie Literaten, die sich als ästhetisch ungemein produktiv erweist. Eine Antwort auf diese Krise ist es, sich jetzt – im Zuge der sozialen Ausdifferenzierung – wie jede andere soziale Gruppe quasi-gewerkschaftlich zu organisieren (Gründung von Sveriges författarförening und Norsk forfatterforening 1893, von Dansk Forfatterforening 1895). Die Autonomisierung des literarischen Feldes erlaubt den Autoren aber auch zugleich, für ihren Stand den Anspruch zu erheben, in der durch Differenzierung und Anomie charakterisierten Moderne weiterhin ganzheitliche Erfahrungen vermitteln zu können. Die Erhebung dieses Anspruches kann konform mit Bestrebungen laufen, die traditionelle Aura der Literatur für andere gesellschaftliche Felder zu instrumentalisieren. Dieser hier grob skizzierten Entwicklung entsprechen neue literarische Praktiken, aber auch Gegenbewegungen, die versuchen, die herkömmlichen literarischen Praktiken und ihre traditionellen Funktionen zu stabilisieren. Sie leisten also in unterschiedlichem Ausmaß einer Re-Auratisierung von Autorschaft und Literarizität Vorschub. Entgegen dem Trend, dieses Phänomen als wesenhafte Eigenschaft von künstlerischer Performanz zu verstehen, wird hier die sozial und historisch bedingte Strategie der Inszenierung von Autoren und Texten in den Blick genommen. Sollte sich die ästhetische Erfahrung, die die Teilnehmer von literarischen Praktiken machen, als ein Erlebnis von Transzendenz realisieren, so wird dies nicht innerhalb einer Metaphysik der Kunst erklärt, sondern als Teil des Diskurses über Literatur und als Folge einer Sozialisierung in die Regeln der medialen Inszenierungen von Literatur.
Mit der Historisierung einher geht das Ziel, die literarischen Praktiken zum Ausgangspunkt zu nehmen, in denen Texte auf je unterschiedliche Weise ‘in Gebrauch genommen’ werden, statt den Schwerpunkt auf die Untersuchung von Texten und deren ‘innerer Performativität’ zu legen (Problem des Untersuchungsobjektes ‘Text’). Hierbei die Theateraufführung statt des Textes zum Leitmodell zu erheben, wie dies in der Performativitätsforschung tendenziell geschieht (Problem des Leitmodells), hätte in literaturhistorischer Perspektive zwar eine gewisse Berechtigung, da die Aufführung auf der Bühne neben der stillen Lektüre um 1900 zweifellos die hegemoniale Praxis der Literatur war. Um jedoch die kulturelle und damit notwendig historische Kontingenz der Performanz als Untersuchungsmaxime ernst zu nehmen, werden wir nicht mit dem Theater als Leitmodell arbeiten und die beiden (zumal durchweg guterforschten) hegemonialen Praktiken Aufführung und stille Lektüre nur zu Vergleichszwecken heranziehen. Stattdessen wollen wir auf solche Praktiken fokussieren, die bei einer textzentrierten Literaturinterpretation nur als Randphänomene in den Blick kommen. In der skandinavistischen Literaturhistoriographie sind sie bislang entsprechend marginalisiert worden, obgleich sie typisch für die Jahrzehnte um 1900 sind und sich in ihnen die oben skizzierte Transformation des literarischen Feldes sowohl manifestiert als auch diese wiederum vorantreibt: Lesungen, Dichterreisen, Dichterehrungen, Begehung von Literaturjubiläen, Liederabende, Literaturverfilmungen, organisierte Formen des literarischen Gespräches sowie die Archivierung und Musealisierung von Dichterstimmen und bewegten Bildern von Dichtern.
Die skandinavischen Literaturen bieten sich zur Untersuchung des skizzierten Themas gleich in mehrfacher Hinsicht an. Das kulturelle Feld ist hier vergleichsweise begrenzt und daher für die wissenschaftliche Arbeit leichter zu überschauen als etwa für den deutsch- oder englischsprachigen Bereich. Zudem ist die Materiallage sowohl im Bereich der Literatur als auch anderer Kunstarten durch die Konzentration auf wenige nationale Bibliotheken, Archive und Sammlungen hervorragend. Dies gilt insbesondere für die Überlieferung solcher Textsorten, die nicht zur kanonisierten Literatur gehören und die im Zusammenhang des Performativitätsthemas besondere Bedeutung haben (Rezeptionsdokumente, Paratexte aller Art, Drehbücher etc.). Dabei geht es uns jedoch explizit nicht darum, die skandinavische Situation zu einem Sonderfall zu stilisieren, sondern Entwicklungen und Phänomene, die sich ähnlich auch in anderen europäischen Literaturzentren abzeichnen, in exemplarischer Form zu studieren.
Angesichts des sich um 1900 abzeichnenden Siegeszugs der analogen Sekundär und Tertiärmedien ist es erforderlich (und das letzte Beispiel deutet es auch schon an), die mediale Dimension der zu untersuchenden Praktiken einzubeziehen. Die Frage der Verknüpfung von Performativität und Medialität ist in der jüngsten Forschung viel diskutiert worden (vgl. Krämer 2004), wobei uns in Abgrenzung von mediendeterministischen bzw. mediengenerativistischen Positionen à la Kittler die Konzeptualisierung von Medium als kultureller Praxis, wie sie 2005 von Schröder/Hockenjos vorgenommen worden ist, als besonders fruchtbar erscheint. Eine Konzeptualisierung von Medium als kultureller Praxis eröffnet zugleich einen literatursoziologischen Horizont, wobei sich hier vor allem die Arbeiten Pierre Bourdieus als anschlussfähig erweisen: Der Habitus in seiner dialektischen Beziehung mit dem literarischen Feld regelt, welche Aktualisierungen von Literatur möglich sind und damit auch deren Performativität; gleichzeitig werden Habitus wie Feld durch kulturelle Praktiken bestimmt.
In seinen Einzelprojekten strebt das hier skizzierte Vorhaben danach, diese jeweiligen Praktiken differenziert in Bezug auf ihre jeweiligen medialen Aktualisierungsformen, ihre soziokulturellen Rahmungen, ihre Genderdimension, die Mitwirkenden und die gebrauchten Textsorten zu untersuchen. Damit wird sowohl die notwendige kulturhistorische Situiertheit jeder Analyse literarischer Performanz ernst genommen als auch die Orientierung an einer historisch spezifischen Praxis als Leitmodell vermieden. Die Begrenzung auf einen Zeitraum, einen Kulturraum und auf klar definierte Praktiken erlaubt nicht nur eine genaue Untersuchung des breiten Spektrums der Performativität und der vielfältigen, historisch wie kulturell kontingenten Handlungsmöglichkeiten von und mit Texten ohne apriorische Annahme eines bestimmten Leitmodells. Sie gestattet es zudem, die Regeln, Normen und Konventionen des literarischen Feldes in seiner spezifischen Medialität genauer zu untersuchen, da sich die je spezifischen Performativitäten von Literatur aus dem Zusammenspiel kultureller Praktiken in einem literarischen Feld ergeben, welches sich wiederum durch dieses Zusammenspiel formiert.
Die Integration performativitätsorientierter, medienkulturwissenschaftlicher und literatursoziologischer Ansätze ermöglicht uns solchermaßen, die historischen Praktiken von Literatur im medialen und sozialen Kontext differenziert zu beschreiben und folgende Leitfragen zu beantworten:
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Skandinavisches Seminar |
Universiteit Gent Vakgroep Scandinavistiek en Noord-Europakunde |
Universität zu Köln Institut für Skandinavistik/Fennistik |