Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900

DFG-Forschungsprojekt

Forschungsstand

LogoDas Forschungsprojekt behandelt ein wichtiges Desiderat in der internationalen skandinavistischen Forschung. Auch in Skandinavien zeigt sich jüngst ein Interesse an einem veränderten Umgang mit Literatur, in dessen Folge die Interpretation von Texten als dominante literaturwissenschaftliche Praktik zunehmend in Frage gestellt wird. Neben der Bedeutung von Texten rückt ihre Performativität in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und damit die Frage nach ihrer medialen Konkretisation, ihrem ‘Gebrauch’ innerhalb eines kulturellen Feldes, ihrem Handlungscharakter (vgl. das Themenheft “Performativitet” der schwedischen Tidskrift för litteraturvetenskap 2007: 4). Diese Verlagerung des analytischen Fokus von der Textinterpretation auf die kulturelle und mediale Praxis manifestierte sich in der deutschsprachigen ebenso wie in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft schon in den 1980er und 1990er Jahren, beispielsweise mit der Frage nach der “Materialität der Kommunikation” (Gumbrecht/Pfeiffer 1988) und in kulturwissenschaftlichen Forschungsprojekten wie dem Berliner SFB “Ästhetik des Performativen”.

Die einschlägige Performativitätsforschung weist indes fünf Problemfelder auf, die in unserem Forschungsprojekt aufgegriffen werden sollen:

  • Das Problem des Leitmodells: Es besteht in der Forschung eine klare Tendenz, statt des Textes andere diskursive Phänomene als Leitmodell zu wählen. So wird in den Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (Fischer-Lichte 2004) beispielsweise die Theatralität der Performanz betont und solchermaßen das Theater als historisch-kulturell geprägte Vermittlungsinstanz zum zentralen Modell für die Beschreibung von Kulturen funktionalisiert. Dies impliziert die Gefahr, dass das Leitmodell ‘Text’, dessen Lektüre von der Hermeneutik bis zur Dekonstruktion die literaturwissenschaftliche Praxis dominierte, nur durch das neue Leitmodell ‘Theater’ abgelöst wird.
  • Das Problem des Untersuchungsobjektes ‘Text’: Inkonsequenterweise wird meistens am Text als Untersuchungsobjekt und an der Praxis der Textanalyse als grundlegender Arbeitsform festgehalten. Der literarische Text wird dann auf die in ihn eingeschriebenen Performativitätsmarker untersucht (vgl. etwa Jaeger/Willer 2000). Eine konsequent auf Performativität ausgerichtete Lesart von ‘Text’ müsste diesen aber in eine Vielzahl eigenständiger Aktualisierungen und Rezeptionskontexte auflösen.
  • Das Problem des Historisierungsdefizites: Die einschlägige Forschung hat sich bislang vor allem um eine theoretisch-methodologische Konzeptualisierung des Performativitätsbegriffes bemüht. Diese Forschung ist mittels empirischer Untersuchungen um die notwendige historische Dimension zu erweitern, um eine Historisierung und Funktionalisierung des Performativitätsbegriffes zu erreichen.
  • Das Problem der begrifflichen Unschärfe: Die Etablierung der Performativitätsforschung ging häufig einher mit einer zunehmenden Unschärfe der Begriffe ‘Performativität’ und ‘Performanz’, so dass der quantitative Erfolg der ‘performativen Wende’ (Bachmann-Medick 2007) in den Kulturwissenschaften durch eine Einbuße an Analysefähigkeit erkauft (oder vielleicht erst dadurch ermöglicht?) wurde.
  • Das Problem der Re-Auratisierung: Nicht selten kehrt mit dem ‘Performativen’ das Postulat einer Transzendenzerfahrung in die Kulturwissenschaften zurück, die in der Literaturwissenschaft ihre Verbindlichkeit und Relevanz verloren hatte. Die Metaphysik des Ästhetischen wird dabei verlagert von der Ebene des Textes auf die der Performanz als Erfahrung eines spezifischen “leiblichen In-der-Welt-Seins, das schöpferische Prozesse der Gestaltung und Umgestaltung fokussiert” (Fischer-Lichte in Wirth 2002, 289) oder allgemein auf die Ebene der Handlung im Sinne eines “Vollzug[s], in dessen Beschreibung dichotomisch organisierte Begriffsraster an ihre Grenzen stoßen” (Krämer 2004, 21). Im ‘Performativen’ erstrahlt die inzwischen matte Aura des literarischen Kunstwerks in neuem Glanz.

Das Forschungsvorhaben wird sich mit diesen Problemen der kuranten Performativitätsforschung am Beispiel der öffentlichen literarischen Praktiken in Skandinavien um 1900 auseinandersetzen und so einen Beitrag zur ‘allgemeinen’ Performativitätsforschung, zur skandinavischen Literaturhistoriographie und zur Vermittlung von Perfomativitätsforschung in die Skandinavistik leisten. Grundlagen für eine differenzierte Beschreibung der historischen Funktionsweisen der skandinavischen Literatur um 1900 im jeweiligen medialen und sozialen Kontext lassen sich sowohl in genuin literaturhistorischen Arbeiten als auch im weiten Feld der literatursoziologisch orientierten, dann aber auch der kulturgeschichtlichen und medienhistorischen Forschung zu den skandinavischen Literaturen finden. Dieses Feld kann hier nur mit wenigen Beispielen skizziert werden. Zu ihm gehören diachron angelegte Übersichtswerke, die einzelne kulturelle Praktiken wie die mündliche Dichtung (Lönnroth 2008) und (halb)öffentliche Foren für performative Handlungen in den Blick nehmen, wie z.B. die Salonkultur (Scott Sørensen 1998) oder halböffentliche Lesepraktiken im Familienkreis (Johannesson 1980), die Theatergeschichte (für Dänemark: Kvam 1992/93; für Norwegen: Lyche 1991 und Hagnell 1991; für Schweden: Hammergren 2004 und Forser 2007) oder die Geschichte der Literaturkritik (für Dänemark: Jørgensen 1994; für Norwegen: Beyer u. a. 1990–92 und Lervik 1980; für Schweden: Aspelin 1977 u. Rydén 1987). Aber auch identitätshistorische Überblickswerke wie Feldbæk 1991–92 (für Dänemark) oder Sørensen 2001 (für Norwegen) bieten Materialien für die Frage nach der Funktionalisierung von Literatur im Untersuchungszeitraum und zu den damit verbundenen kulturellen Praktiken. Mit Gewinn für unser Projekt heranzuziehen sind ebenfalls mediengeschichtliche (für Dänemark: Bruhn Jensen 2001–2004, für Norwegen: Bastiansen/Dahl 2008) und historisch angelegte literatursoziologische Übersichtswerke (für Dänemark immer noch: Møller-Kristensen 1970 sowie Worsøe-Schmidt 1994; für Norwegen: Dale 1974; für Schweden z.B.: Svanberg 1980, Bennich-Björkman 1970, 1988 und Svedjedal 1993).

 

Letzte Aktualisierung der Seite am: 08. April 2014
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