1. Theoretischer und empirischer Hintergrund


1.1. Die Faktenlage zur Glogowski-Affäre
Im Folgenden sollen zusammenfassend diejenigen Geschehnisse dargestellt werden,
die innerhalb einer Woche nach ihrer Bekanntmachung zu dem Rücktritt des
niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski führten.
Die Informationen wurden verschiedenen überregionalen deutschen Tages- und
Wochenzeitungen (z.B. Spiegel, Die Zeit, Die Welt, taz) entnommen.
Am Samstag, dem 20. November 1999, wurde ein erster Zeitungsbericht über
angebliche Gratislieferungen von Getränken an Glogowski anlässlich seiner
Hochzeitsfeier durch den Regierungssprecher bestätigt. Dementiert wurde hingegen,
dass Glogowski und seine Frau ihre im Frühjahr unternommene Hochzeitsreise
erst beglichen hätten, nachdem Gerüchte in Umlauf gekommen waren, sie
hätten diese Reise auf Kosten des Reiseunternehmens TUI unternommen. Daraufhin
forderten die niedersächsischen Oppositionsparteien öffentlich Aufklärung
und die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
Am darauf folgenden Montag wurde die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
im Landtag angekündigt. Glogowski selbst äußerte das Vorhaben,
einen unabhängigen Gutachter hinzuzuziehen, um die Vorwürfe zu klären,
die er als ungerechtfertigt darstellte: Er sei im Oktober auf Einladung des ägyptischen
Fremdenverkehrsministeriums mit der TUI an den Nil geflogen und habe die Rechnung
für den Flug bereits vor längerer Zeit angefordert. Das Reiseunternehmen
TUI widersprach allerdings dieser Darstellung: Die Rechnung sei erst an diesem
Tag angefordert worden.
Mittwochs musste Glogowski einräumen, dass erst die öffentliche Diskussion
um seine Reisen dazu geführt habe, dass Mitarbeiter der Staatskanzlei bei
der TUI nachträglich um eine Rechnung für einen Flug im Oktober nach
Ägypten gebeten hätten. Außerdem kündigte er den Rückzug
aus seinen Ämtern der Stadt Braunschweig, dem Wirtschaftsbeirat des Vereins
Eintracht Braunschweig, dem Vorsitz im Aufsichtsrat der Braunschweiger Stadtwerke
und seinem Mandat im Braunschweiger Stadtrat für das kommende Jahr an. Der
Grund dieser Ankündigung war der Vorwurf, er habe aus diesen diversen Nebentätigkeiten
finanzielle Einnahmen erhalten, die nicht korrekt versteuert wurden.
Am nächsten Tag forderten daraufhin die Grünen im niedersächsischen
Landtag die Entlassung des Regierungssprechers, weil dieser die offensichtlich
unwahren Darstellungen Glogowskis bezüglich der Bezahlung seiner Hochzeitsreise
öffentlich vertreten habe.
Am selben Tag wurde durch die NordLB ein Zeitungsbericht bestätigt, dass
Glogowski im Juli auf Kosten des Unternehmens nach Polen gereist sei und die Rechnung
für diese Fahrt erst am 1. November angefordert habe.
Neben diesen Fakten standen weitere Vorwürfe gegen Glogowski im Raum:
Als Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke Braunschweig soll er eine aufwändige
Abschiedsfeier (sog. ,,Edelsause") für den damaligen Chef des Unternehmens
mit verantwortet haben.
Seit März 1999 nutzten Glogowski und seine Frau eine Wohnung im Gästehaus
der Landesregierung in Hannover. Die Miete dafür sollen sie erst ab November
überwiesen haben, Nachzahlungen wurden angekündigt.
Bei der Vergabe des Auftrags für den Rettungshubschrauber ,,Christoph Niedersachsen"
bestand aus Sicht der Opposition der Verdacht, dass es beim Zuschlag an eine Tochterfirma
der Preussag Unregelmäßigkeiten gegeben habe.
Auch bei der Abrechnung eines ,,Don Giovanni"-Besuches im November 1999 in
Wien habe es Unregelmäßigkeiten gegeben: Glogowski reiste schon am
Vorabend der dienstlichen Termine in Begleitung seiner Frau an, um an der Aufführung
in der Wiener Oper teilzunehmen. Die Karten wurden von einem befreundeten Mitarbeiter
der SalzgitterAG besorgt, Glogowski bezahlte nur eine Teilrechnung. Glogowskis
Frau hatte sich am Tag vor der Reise bei ihrem Arbeitgeber krank gemeldet.
Im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen Glogowski sollen Unterlagen beseitigt,
nachträglich erstellt oder verändert worden sein.
Am Freitag, dem 26. November 1999, erklärte Gerhard Glogowski seinen Rücktritt:
,,Das Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten, meine persönliche
Integrität und Ehre und auch meine Familie haben unter diesen unberechtigten
und unbewiesenen Vorwürfen gelitten. Da offenbar in dieser aufgeheizten Atmosphäre
für viele das Urteil schon gesprochen ist, werden die Belastungen immer größer.
Das ist der Grund, warum ich nun handeln muss, um mein Land, meine Familie, meine
Freunde und meine Partei zu schützen. Ich habe darum gegenüber dem Präsidenten
des niedersächsischen Landtags meinen Rücktritt erklärt."
(SPIEGEL ONLINE 47/1999, 26.11.99)
1.2. Die Faktenlage zur Kohl-Affäre
Die Affäre um den Altbundeskanzler Kohl und die Parteispenden unbekannter
Herkunft umfasst einen weitaus längeren Zeitraum als die Glogowski-Affäre
und reicht bis in die 80er Jahre zurück. Wegen der vielfältigen Verzweigungen,
der Verwicklungen mehrerer Politiker/innen in diese Affäre sowie der Tatsache,
dass zu dem Zeitpunkt der Durchführung unserer Untersuchung die Faktenlage
noch nicht vollständig geklärt war, ist es in diesem Rahmen nicht sinnvoll,
eine lückenlose oder chronologische Entwicklung der Affäre nachzuzeichnen.
Stattdessen beschränken wir uns auf die Darstellung der Tatsachen, die das
Wesen der Affäre verdeutlichen. Auch hier wurden die referierten Geschehnisse
verschiedenen überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen entnommen.
Am 20. Januar 2000 trat ein Bundestags-Untersuchungsausschuss zu seiner ersten
Sitzung zusammen. Er sollte aufklären, ob Spenden an die CDU das Handeln
der alten Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl bei Rüstungsgeschäften
und bei dem Verkauf der ostdeutschen Raffinerie Leuna beeinflusst haben. Vorangegangen
war eine lange Reihe von Vorfällen, bei denen immer wieder Gelder unbekannter
Herkunft auftauchten. 1986/87 beispielsweise ließ Kohl 2,75 Millionen Mark
von Sonderkonten jenseits der offiziellen Parteikasse an mehrere CDU-Landesverbände
überweisen.
Doch nicht nur Kohl stand unter diesem Verdacht, auch viele andere CDU-Politiker/innen
waren in ähnliche Vorkommnisse verwickelt, was zur Unübersichtlichkeit
der Affäre beitrug. Das wichtigste Beispiel: Zwischen 1989 und 1996 flossen
annähernd 13 Millionen Mark unklarer Herkunft dem CDU-Landesverband Hessen
zu, die als "Vermächtnisse" angegeben und nicht als Spende, sondern
als ,,sonstige Einnahmen" ausgewiesen wurden. Das Geld kam aus der Schweiz
sowie aus Liechtenstein; die Namen der Vermächtnisgeber blieben ungenannt.
Im Nachhinein erklärte Prinz Casimir zu Sayn-Wittgenstein (ehemaliger Schatzmeister
der hessischen CDU) im Dezember 1999, er vermute sie "in Kreisen deutschstämmiger
jüdischer Emigranten", was sich jedoch als unwahr herausstellte. Die
Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen erstattete Anzeige wegen
des Verdachts der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche.
Eine andere Begebenheit versetzte die CDU nach ihrem Bekanntwerden nachträglich
in Erklärungsnot: Im Jahre 1991 übergab der Waffenhändler Karlheinz
Schreiber in der Schweiz eine Million Mark in einem Koffer an CDU-Schatzmeister
Walther Leisler Kiep und den CDU-Steuerberater Horst Weyrauch. Das Geld wurde
bei einer Frankfurter Bank auf ein Anderkonto eingezahlt.
Da die Aufbewahrungspflicht von Finanzunterlagen für Parteien sechs Jahre
beträgt, konnten nur die Unterlagen seit 1993 geprüft werden. Hierbei
haben Rechnungsprüfer im Zeitraum von 1993 bis 1996 allein 2,3 Millionen
Mark unbekannter Herkunft gefunden. Ein großer Teil davon waren anonyme
Spenden, die von Kohl bar angenommen wurden. Es blieb deshalb ungeklärt,
wieviel Geld vor 1993 von Politikern/innen der CDU angenommen wurde, ohne es öffentlich
als Spende auszuweisen.
Die besondere Schwierigkeit bei den Aufklärungsversuchen dieser Affären
bestand in der Weigerung Kohls, die Namen der Spender zu nennen. Er berief sich
dabei auf ein ,Ehrenwort`, das er den Spendern gegeben und mit dem er ihnen Anonymität
zugesichert habe. Damit verstieß er jedoch gegen die Verfassung, die von
den Parteien verlangt, dass ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen
entsprechen muss. Sie sind verpflichtet, über die Herkunft und Verwendung
ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft abzulegen.
Genau das aber verweigerte Kohl: ,,Ich sehe mich außerstande, mein Versprechen,
das ich einigen Persönlichkeiten, die meine Arbeit in der CDU finanziell
unterstützt haben, gegeben habe, zu brechen." (Die Zeit, Nr.4/2000,
S. 2) Die Vorwürfe, die Kohl gemacht wurden, nämlich ein Bruch mit der
Verfassung, die Verletzung der Pflicht zur Transparenz von Spendengeldern sowie
die Umgehung parteiinterner Demokratie, die nicht zulässt, nach Gutdünken
und unter der Hand Geld, also Macht, zu verteilen, bezeichnete Kohl lapidar als
Fehler, den er nicht zu beheben versuchte, sondern zu dem er stehe.
Durch sein Schweigen ließ Kohl Raum für verschiedene Interpretationen
seines Verhaltens. So wurde ihm vorgeworfen, ihm seien persönlich ausgehandelte
Abmachungen wichtiger gewesen als Prinzipien und Gesetze. Außerdem wurden
weitere Vermutungen geäußert: Er habe persönliche Abhängigkeiten
geschaffen, indem er mit Hilfe der Gelder von Schwarzkonten gezielt einzelne Landes-
und Ortsverbände unterstützt habe, und er habe einzelne Firmen bevorteilt,
die dann den Erhalt bestimmter Aufträge, z.B. Panzer für Saudi-Arabien
bzw. den Zuschlag an Elf Aquitaine bei dem Verkauf der Leuna-Raffinerie, mit den
zur Diskussion stehenden Geldern unklarer Herkunft auf den sog. schwarzen Konten
honoriert hätten.
1.3. Moralisches Urteilen
1.3.1. Kohlbergs Stufenmodell
Als Grundlage für die Zuordnung der Politiker/innen-Aussagen zu qualitativ voneinander zu unterscheidenden Ebenen des moralischen Urteilens stützen wir uns auf das Stufenmodell der moralischen Entwicklung, das Lawrence Kohlberg im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung an einer Stichprobe von 96 amerikanischen, überwiegend weißen Jungen im Alter von 10, 13 und 16 Jahren entwickelte. Kohlberg führte mit ihnen in einem Abstand von jeweils vier Jahren Interviews durch, in denen die Untersuchungsteilnehmer mehrere moralische Dilemmata lösen sollten, die teils aus der Literatur stammten und teils von Kohlberg selbst entwickelt wurden (z.B. das bekannte ,,Heinz-Dilemma", vgl. Kohlberg, 1995, S. 495).
Anhand der Argumentationsweise der Untersuchungsteilnehmer konnte Kohlberg sechs Stufen des moralischen Urteilens ausmachen, die, so Kohlberg, von jedem Individuum nacheinander und in derselben Reihenfolge durchlaufen werden. Dabei kann keine Stufe übersprungen werden.
Kohlberg ordnet die sechs Stufen der moralischen Entwicklung drei Ebenen zu: der präkonventionellen, der konventionellen sowie der postkonventionellen Ebene. Die präkonventionelle Ebene ist von der Befriedigung eigener Bedürfnisse und Interessen sowie von der Orientierung an Autoritäten und der Vermeidung von Strafe durch diese Autoritäten geprägt. Auf der Stufe 1 dieser Ebene ist das oberste handlungsleitende Prinzip die gehorsame Befolgung von Geboten, um einer Strafe zu entgehen, ohne dabei den Sinn dieser Gebote zu hinterfragen. Da nur die (physischen) Konsequenzen einer Handlung berücksichtigt werden, sind alle Handlungen, die nicht bestraft werden können, akzeptabel.
Auf Stufe 2 zeigt sich der Mensch primär zweck- und austauschorientiert und instrumentalisiert Beziehungen zu anderen Menschen, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Hierbei wird aber auch den Interaktionspartnern/innen das Recht eingeräumt, ihrerseits ihre Interessen vorzubringen und sie zu verwirklichen.
Auf der konventionellen Ebene bilden die Einhaltung der Konventionen und die Erfüllung der Erwartungen anderer die wichtigsten handlungsleitenden Prinzipien. Es herrscht hier eine ,,Tendenz zur Erhaltung wichtiger Sozialbeziehungen vor" (Oerter & Montada, 1998, S. 876). Dies kann sich, wie bei Stufe 3, auf überschaubare und persönlich bekannte Gruppen beziehen und die Übereinstimmung mit den Normen der Primärgruppe (Freunde, Familie) als Bezugspunkt für die moralische Wertung in den Mittelpunkt stellen. Mit Stufe 4 erweitert sich diese Orientierung auf ein etwas abstrakteres System wie die des Staates und seiner Gesetze, das Verhältnis ,,Subjekt-System" löst also die ,,subjekt-subjektbezogene Moral" der dritten Stufe ab (Garz, 1996, S. 59). Die moralische Orientierung der vierten Stufe ist durch das Vertrauen in die soziale Ordnung, Gehorsam gegenüber dem System, seinen Institutionen sowie exekutiven Autoritäten und durch die Einhaltung von Gesetzen und festgelegten Regeln geprägt.
Die letzten beiden Stufen des Kohlbergschen Modells sind die der postkonventionellen Ebene. Auf dieser Ebene ersetzen unabhängige und übergeordnete Prinzipien und Werte die bloße Orientierung an von Autoritäten festgesetzten oder von Gruppen definierten Normen und Gesetzen, die nun als relativ und wandelbar angesehen werden. Auf Stufe 5 werden die Gesetze eines Systems als das Ergebnis eines Sozialvertrags angesehen, der eine (demokratische, konsensuelle) Vereinbarung zwischen Menschen darstellt und dem Wohl aller dienen soll. Es herrscht eine utilitaristische Orientierung vor. Auf der sechsten und nach Kohlberg höchsten zu erreichenden Stufe der moralischen Entwicklung, die aus der Analyse von Interviews mit Persönlichkeiten wie Gandhi oder Martin Luther King jun. gewonnen wurde, jedoch in den Längsschnittuntersuchungen empirisch nicht nachgewiesen werden konnte, orientiert der Mensch sich an abstrakten, übergeordneten ethischen Prinzipien wie der Unantastbarkeit der Freiheit und Würde des Menschen.
Dabei gilt es zu beachten, dass nicht alle Menschen die höchste Stufe erreichen, sondern während der Entwicklung auf einer bestimmten Stufe stehen bleiben können. Da es eine interindividuelle Variation bezüglich des Alters gibt, in dem diese Stufen erreicht werden, sowie hinsichtlich der Zeitspanne, die ein Mensch braucht, um zu der nächsten Stufe zu gelangen, koppelte Kohlberg seine Stufen nicht fest an bestimmte Altersgruppen. Dennoch gibt es gewisse Richtwerte dafür, ab welchem Alter jede Stufe in der Regel erreicht wird. Colby, Kohlberg, Gibbs & Liebermann (1983, referiert nach Garz, 1996, S. 64) konnten in empirischen Untersuchungen nachweisen, dass ein Urteil auf postkonventioneller Ebene frühestens im Alter von 20 Jahren gefällt werden kann.
Bei Kohlbergs Stufenmodell ist zu beachten, dass früher durchlaufene Stufen nicht durch die Herausbildung der nächsten Stufe verschwinden. Sie können auf Befragen reproduziert, und es kann auch weiterhin auf ihnen argumentiert werden. Es gilt also auch hier, in Anlehnung an Chomsky, zwischen Kompetenz und Performanz zu unterscheiden (vgl. Heidbrink, 1996, S. 92ff.)
Abschließend möchten wir kurz auf einen der wichtigsten Einwände gegen das Kohlberg-Modell hinweisen. Es ist zu kritisieren, dass die Stichprobe, an der Kohlberg seine Studien durchführte, ausschließlich aus männlichen Personen bestand. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit seine Ergebnisse auch auf Frauen zutreffen. Kohlbergs Mitarbeiterin Carol Gilligan hat sich mit dieser Fragestellung intensiv auseinandergesetzt (vgl. z.B. Gilligan 1984; für einen weiterführenden Überblick vgl. Nunner-Winkler 1991).
1.3.2. Kategorien moralischen Urteilens
Wir wählen das Stufenmodell Kohlbergs als Grundlage unserer Untersuchung aus, weil es als empirisch fundierte Vorgabe dienen kann, um eine Abgrenzung qualitativer Unterschiede bei Äußerungen mit moralischen Implikationen vorzunehmen. In unserer Untersuchung haben die interviewten Politikern/innen das für die Erreichung der letzten Stufe erforderliche Mindestalter von 20 Jahren alle überschritten. Wir können deshalb davon ausgehen, dass bei unserer Untersuchung potenziell Urteile auf sämtlichen Stufen zu finden sind.
Den theoretischen Grundlagen des Modells können wir aber nicht in allen Punkten folgen, weil es einige prinzipielle Unterschiede zwischen seinem Modell und unserer Fragestellung gibt.
Es geht in unserer Untersuchung nicht um moralische Entwicklung, sondern um die Feststellung, auf welchen Ebenen sich ein moralisches Urteil findet. Deshalb sprechen wir von Kategorien und nicht von Stufen moralischen Urteilens.
Auch wenn wir grundsätzlich bezüglich der Kategorien moralischen Urteilens eine Wertung im Sinne von ,besser` und ,schlechter` für problematisch halten, verwenden wir bei der Gegenüberstellung der Kategorien die Begriffe ,niedriger` und ,höher`, weil die Beurteilung politischen Handelns dies rechtfertigt. Denn bei politischem Handeln ist es nötig, ,,über den Horizont der Primärgruppe hinauszuwachsen", wie Herzog (1991, S. 385) es in einem ähnlichen Zusammenhang formuliert; verantwortliches politisches Handeln setzt voraus, dass die Interessen der Gemeinschaft über die eigenen gestellt werden. Demnach können u. E. alle Argumente, die eine solche Perspektive erkennen lassen, einer höheren Ebene zugeordnet werden als solche, die nur die Verfolgung persönlicher Interessen erkennen lassen.
Außerdem schließen wir uns der Kritik Herzogs (1991) an der Kohlbergschen Zuordnung seiner Stufen zu den drei explizierten Ebenen der Moralität (präkonventionell, konventionell, postkonventionell) an. Kohlberg ordnet seine Stufen 3 und 4 dem konventionellen Niveau zu, das eine generelle Perspektive des Individuums, sich als ein Mitglied der Gesellschaft zu begreifen, postuliert: Auf beiden Stufen werden bei der Begründung für ein moralisches Handeln überpersönliche Werte anerkannt. Bei näherer Betrachtung weisen diese beiden Stufen aber einen wesentlichen Qualitätsunterschied auf. Die Orientierung an ausschließlich persönlichen Bezugsgruppen auf der Stufe 3 zeigt, dass die egozentrische Orientierung an einer persönlichen Ebene, die sich in den Stufen 1 an der Vermeidung von Strafe, in Stufe 2 an der Instrumentalisierung von Beziehungen zeigt, noch nicht überwunden ist. Erst in Stufe 4 ist eine gesellschaftliche Perspektive zu erkennen, in der ,,anonyme soziale Beziehungen relevant werden" (Herzog, 1991, S. 384): Die prinzipielle Orientierung an Gesetzen setzt die Sichtweise voraus, dass eine gegebene soziale Ordnung notwendig für das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist und man sich ihr unterwerfen muss, damit die Gesellschaft als Ganzes funktionieren kann. Auf Stufe 5 und 6 wird diese Sichtweise qualitativ beibehalten und lediglich in ihrem Anwendungsbereich auf immer abstraktere Prinzipien erweitert.
Im Sinne dieser Ausführungen scheint es uns gerechtfertigt, die Stufen bzw. Kategorien 1 - 3 als ,niedriger` zu bezeichnen, die Stufen bzw. Kategorien 4 - 6 als ,höher`. Aus den gleichen Gründen subsumieren wir die Kategorien 1 - 3 unter den Begriff ,Beziehungstreue`, die Kategorien 4 - 6 unter den Begriff ,Prinzipientreue`. Denn in den Kategorien 1 - 3 steht in allen Fällen die Orientierung an Beziehungen zum engeren sozialen Umfeld im Vordergrund: In Kategorie 1 die Orientierung an Vermeidung von Bestrafung durch das engste soziale Umfeld, in Kategorie 2 die Instrumentalisierung dieser Beziehungen (solange der Handlungspartner auch einen Vorteil aus der Handlung hat, ist sie gerechtfertigt); in Kategorie 3 bestimmt allein die Meinung des persönlichen sozialen Umfeldes, was erlaubt ist und was nicht. Stufe 4 - 6 hingegen orientieren sich an der Einhaltung von Prinzipien: die Gesetze der Gesellschaft zu befolgen (Kategorie 4), danach zu streen, den maximalen Gewinn für die Gesellschaft zu erzielen (Kategorie 5) oder übergeordnete ethische Werte einzuhalten (Kategorie 6).
1.4. Hypothesen
Unserer Untersuchung lag die Forschungsfrage zu Grunde, ob sich bei Äußerungen von Politikern/innen zu einer politischen Affäre in der eigenen Partei gehäuft Beurteilungen finden, die einen niedrigeren moralischen Maßstab erkennen lassen, als wenn es sich um Beurteilungen einer Affäre in einer konkurrierenden Partei handelt. Es geht also um die Frage, ob bei der Beurteilung politischer Affären mit zweierlei Maß gemessen wird. Unseren Grundannahmen folgend, dass sich am Beispiel von politischen Affären auf moralisches Handeln bezogene Wertäußerungen von politisch aktiven Angehörigen einer Partei bezüglich dieser Affären den Kategorien moralischen Urteilens nach Kohlberg zuordnen lassen und dass sich die beiden untersuchten Affären hinsichtlich der abgegebenen Beurteilungen grundsätzlich nicht unterscheiden (also vergleichbar sind), stellten wir folgende empirisch-inhaltliche Hypothese auf:
Die Wertäußerungen von politisch aktiven Angehörigen einer Partei
bezüglich einer Affäre in der eigenen Partei finden sich gehäuft
in niedrigeren Kategorien bzw. Stufen moralischen Urteilens nach Kohlberg im Vergleich
zu Wertäußerungen bezüglich einer Affäre in einer konkurrierenden
Partei.

