Im Jahr 1962 veröffentlichte der amerikanische Kunsthistoriker
George Kubler den theoretischen Essay "The
Shape of Time. Remarks on the History of Things".
Darin entwickelte er ein strukturalistisches Modell einer
Historiographie von Kunst, das die kulturellen, zeitlichen
und objektbezogenen Einschränkungen und
Hierarchisierungen der bisherigen Kunstgeschichte in
Frage stellte. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive
handelt es sich bei dem Essay um eine innovative
methodisch-theoretische Schrift der Kunstgeschichte,
welche den eurozentristischen Blick zu überwinden versucht
und einen explizit transkulturellen Ansatz verfolgt.
Kublers methodische Fragen besitzen auch heute noch
ihre Gültigkeit und erhalten zudem eine neue Aktualität
durch die gegenwärtig stattfindenden Erweiterungen der
Kunstgeschichte um kulturwissenschaftliche, medienwissenschaftliche
und postkoloniale Fragestellungen. In
dieser Situation erscheint es lohnenswert, Kublers Theoriemodell
einer Revision zu unterziehen, um den methodischen
Debatten neue Anstöße zu geben. Die Tagung
verfolgt das Ziel, Kublers Theoriemodell in einem interdisziplinären
Rahmen kritisch zu überprüfen, methodisch
weiter zu entwickeln sowie exemplarisch anzuwenden.
Es lassen sich vier thematische Felder von aktueller Relevanz benennen, die jeweils im Kontext der Kunstgeschichte diskutiert werden und so zur interdisziplinären Öffnung des Faches beitragen sollen.
Sektion 1: Formen in der Zeit
Kubler entwickelt seine Theorie vor dem Hintergrund der formanalytischen Tradition in der Kunstgeschichte, reformuliert diese aber in entscheidenden Punkten. Von Henri Focillon übernimmt er die Idee, dass die Formen als Kräfte in der Zeit lebendig sind und eine eigene Wirkungskraft besitzen. In der konsequenten Weiterführung dieses Gedankens Focillons verzichtet er auf die kunsthistorische Kategorie des Stils zugunsten der von ihm neu ins Spiel gebrachten Kategorie der Sequenz, die an keine synchrone oder teleologische Ordnung mehr gebunden ist. In dieser Sektion sollen die Neuerungen Kublers in seinem Verhältnis zur Wissenschaftstradition beleuchtet werden, um den Blick für die Vor- und Nachteile seines Modells zu schärfen. Zudem soll in der Sektion dem neu erwachten Interesse in den Geisteswissenschaften an der Form als medien-, kulturen- und epochenübergreifende Vergleichskategorie Rechnung getragen und das Modell der Sequenz anderen Form-Konzepten, wie beispielsweise dem Morphom, gegenüber gestellt werden.
Sektion 2: Zeitlichkeit und Geschichte
Anstelle der linearen Geschichtsvorstellung, die dem kunsthistorischen Stilbegriff zugrunde liegt, führt Kubler mit dem Modell der Sequenz eine neue diachrone Form der Zeitlichkeit ein. Insbesondere künstlerische Auseinandersetzungen mit Kublers Schrift haben einen wichtigen Beitrag zum Diskurs um Zeitlichkeit und Historizität geleistet, den es hier zu berücksichtigen gilt. Diese Perspektivverschiebung hat angesichts technologischer und gesellschaftlicher Veränderungen an Relevanz gewonnen, denn die Erfahrung einer Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten hat sich durch die Digitalisierung der Medien und das World Wide Web noch verstärkt. Es stellt sich also zum einen die Frage, wie sich die Medienkunst (als „Zeitkunst“ par excellence) und die Medienkunstgeschichte heute zum Problem der Zeitlichkeit positionieren. Zum anderen werden in dieser Sektion die Zeitvorstellungen in der Kunstgeschichte überdacht. Die Diachronizität von Kublers Geschichtsmodells ermöglicht eine neue Kunstgeschichtsschreibung, die nicht mehr evolutionistischen Denkmodellen unterliegt. Mit Kubler kann ein teleologischer Begriff von Geschichte kritisch in den Blick genommen werden, der dem Fach immer noch (unbewusst) zugrunde liegt.
Sektion 3: Die Geschichte der Dinge und postkoloniale Perspektiven
Angesichts Kublers Orientierung an den artefaktgebundenen Wissenschaften (Kunstgeschichte, Ethnologie bzw. Kulturanthropologie und Archäologie) ist eine Auseinandersetzung mit seiner Schrift im Kontext der Material Culture Studies nahe liegend. Dinge oder Artefakte, die vom Menschen hergestellt oder geformt sind, machen mentale Dispositionen und ein kulturelles Verständnis des Menschen deutlich (in Kublers Worten: die Auseinandersetzung mit und die Lösung von Problemen). Kublers Abkehr vom Künstlersubjekt und seinem Geniestatus sowie eine Fokussierung auf die Objekte in ihrer Form und Materialität korrespondiert mit der in den Material Culture Studies verbreiteten Auffassung einer Aufwertung der Gegenstände als Akteure, die aktuell in der kulturwissenschaftlichen Forschung großen Anklang findet. Eine neue Perspektivierung Kublers leistet die Tagung also im Speziellen durch die Anknüpfung an gegenwärtige Diskurse zur Dingkultur, die seinem Ansatz Aktualität verleiht. Kubler im Kontext des erweiterten Dingbegriffs zu lesen, eröffnet nicht zuletzt neue Perspektiven für die Kunstgeschichte: Kubler hat sich als erster im Fach explizit mit Dingen beschäftigt und entwickelte die Idee einer von den Dingen her verstandenen Geschichte. Hiermit erweitert Kubler den kunsthistorischen Gegenstandsbereich nicht nur in Hinblick auf andere kulturelle Produktionen, die außerhalb des traditionellen Kunstbegriffs stehen, sondern auch hinsichtlich anderer Kulturen, die nicht unter dem westlichen Kunstverständnis subsummiert werden können. Hier knüpfen die Ansätze der Material Culture Studies direkt an postkoloniale Fragestellungen an.
Aus der Perspektive der Postcolonial Studies, vor deren Hintergrund Kublers Ansatz mit der Tagung erstmals verortet werden soll, ist insbesondere seine frühe Beschäftigung mit außereuropäischer Kunst und den marginalisierten Bereichen der Kunstgeschichte von Bedeutung. In diesem Kontext erscheint Kublers Theorie als ein Versuch, über die basale Kategorie der Form eine Art universale Methodik für die Analyse von kulturellen Produktionen zu generieren, denn sie ist einerseits gegenstands- und medienübergreifend und andererseits transkulturell angelegt. Hier gilt es, Kublers Ansatz in Hinblick auf die massenmedialisierten Bildkulturen der globalisierten Welt weiterzuentwickeln und auch die Medienkunstgeschichte verstärkt mit postkolonialen Perspektiven in einen Dialog zu bringen.
Kublers Universalismus in der Methode muss selbstverständlich einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Diese Sektion soll vor allem zur Revision von Kublers Theorie in der aktuellen Auseinandersetzung mit einer möglichen transkulturellen Kunstgeschichte beitragen.
Sektion 4: Kubler angewendet
Kublers Modell der Sequenz als einer neuen Form systematischer Zeitlichkeit kann nicht nur eine Berücksichtigung außereuropäischer Kunstgeschichten bewirken, sondern bietet auch die Möglichkeit, die eigenen, europäischen Kunstgeschichten zu revidieren. Ausgehend von seiner Annahme, dass die Geschichte der Kunst vor allem die Geschichte von Problemen und ihren Lösungen ist, lassen sich statt einer linearen Entwicklung neue Bedeutungsketten bilden. Marginalisierte Bereiche der Kunst erhalten damit einen anderen Stellenwert und werden neuen Forschungsansätzen zugänglich. Die Beschäftigung mit künstlerischen Phänomenen, die nicht bestimmten Stilkonventionen entsprechen – oftmals als Produkte genialer Individuen außerhalb von Zeit und Raum betrachtet oder als minderwertige, nicht dem Stilideal entsprechende Randphänomene aus der Kunstgeschichte verdrängt –, könnte mit Kublers Sequenzmodell eine neue methodische Fundierung erfahren. Anstatt eine stilistische Einordnung vorzunehmen (ein mittlerweile ohnehin häufig hinterfragtes Verfahren), werden mit dem Problem als neuer Analysekategorie Problem-Lösungs-Ketten sichtbar gemacht. Das Modell der Sequenz bietet so einen neuen komparatistischen Ansatz: Da die Sequenzen springen und sich an unterschiedlichen Orten und Zeiten fortsetzen können, machen sie Phänomene über alle Disziplinen-, Medien- und Kulturgrenzen hinweg vergleichbar. Das Sequenzmodell ermöglicht folglich eine ahierarchische Verknüpfung europäischer und außereuropäischer Kunstproduktionen ebenso wie von sog. Hochkunst und Populärkultur. In dieser Sektion soll Kublers Theoriemodell für die Anwendung überprüft, aktualisiert und erweitert werden.
Diese Themenbereiche, die in Kublers methodischer Schrift angelegt sind und die mit der Tagung für die heutige Forschung produktiv gemacht werden sollen, sind auf das engste miteinander verknüpft und müssen deshalb nicht zuletzt in ihren Interdependenzen und Strukturanalogien fokussiert werden. Die Tagung wird deshalb die strukturellen Zusammenhänge zwischen Prozessen der Historisierung, der Inklusion und der Exklusion (von Kulturen, Gegenstandsbereichen etc.) in einem interdisziplinären Setting untersuchen.
In 1962, the American art historian George Kubler published
his theoretical essay "The Shape of Time: Remarks
on the History of Things". In his book Kubler developed a
structuralist model for a historiography of art in which he
challenged the cultural, chronological, and object-related
restrictions and hierarchizations having prevailed in art
history so far. From an epistemological perspective, the
essay is an innovative methodological-theoretical document
of art history attempting to overcome the Eurocentric
view and following an explicitly transcultural approach.
Not only have Kubler's methodological questions
remained valid today – they have even become topical,
with art history expanding to embrace issues of cultural
sciences, media sciences, and postcolonial studies. Given
these circumstances, it seems worthwhile to review
Kubler's theoretical model in order to lend methodological
debates new impetus. It is the aim of the conference to
critiqually challenge Kubler's theoretical model on an interdisciplinary
basis, to further refine it methodologically,
and apply it by example.