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Einige
Gedanken die man sich machen sollte: bevor
man Pädagogik zu studieren beginn ( 187 KB )
Beginnen
wir mit einem Beobachter-Statement über
die Moderne. Die moderne Gesellschaft, d.h.
die Gesellschaft, die auf Industrialisierung,
Arbeits- und Funktionsteilungen in der Lebenswelt,
auf der Trennung von Hand- und Kopfarbeit,
auf der Normierung und Codifizierung rechtlicher,
ökonomischer, politischer und sozial-kultureller
Lebensformen sich aufbaut, erscheint als
eine ungeheure Warenansammlung. Dies macht
auf den ersten Blick wohl den größten
Unterschied zu sogenannten frühen Kulturen
der Menschheit aus. Überall werden
Waren produziert, und sie treten zwischen
die Menschen, sichern das Überleben
sichern und werden zum Überleben und
Leben hergestellt, gebraucht und ver- und
gekauft. Wir leben nicht von der Hand in
den Mund, wir produzieren und reproduzieren
uns nicht direkt und unmittelbar in überschaubaren
Lebensformen, sondern interagieren und kommunizieren
in langen, fast unüberschaubar gewordenen
Handlungsketten(2),
die die Arbeit, den Besitz, die soziale
und persönliche Lebensweise umschließen.
Erscheint die bürgerliche Gesellschaft,
wie Karl Marx am Beginn seiner ökonomischen
Analyse der Moderne, dem "Kapital",
formulierte, als ungeheure Warensammlung,
so ist der Eintritt für einen Studenten
in die heutige Universität ebenso von
solcher Modernität geprägt: Jedes
Fach weist eine ungeheure Sammlung von Theorien
und Theoremen - Bruchstücken von Theorien
- auf, wobei ähnlich der Aufmachung
in den Waren- und Supermärkten der
Neuzeit zunächst wenig Kriterien zur
Verwendung der einen oder anderen Sorte
bekannt sein mögen, außer daß
die jeweilige Verpackung der Farbe, Form
und handlichen Größe nach ansprechender
oder abstoßender wirkt.(3) Hier haben wir wieder unseren bereits geschilderten
Eindruck von der Unübersichtlichkeit
z.B. der Bibliothek, nur daß in dem
jetzt gewählten Bild die Verlockungen
der Waren vordergründig gepriesen werden.
Es ist ein Verlust: Wir haben die Sicherheit
der gängigsten Waren verloren, wir
müssen uns auf Moden, auf Sonderangebote,
ggf. auf Ladenhüter und Raritäten
einstellen. Haben wir auch einen Gewinn
hierbei zu verzeichnen?
Im
Übergang von den stark reglementierenden
und reglementierten absolutistischen
Gesellschaftsformen hin zu demokratisch
orientierten Gesellschaften der Neuzeit
haben sich etliche Veränderungen
ereignet, die bedeutsam für die
Gewinnung relativer Autonomie der
Individuen sind. Eine Verschiebung
von den Fremdzwängen in Herr-Knecht-Verhältnissen
zu sachlicheren Formen der Abhängigkeit
ist mit dem Fortschreiten des Kapitalismus
durchgängig erkennbar. Um zu
bestimmten Zielen zu gelangen, ist
eine Zunahme der erforderlichen Langsicht
der Gesellschaftsmitglieder im Blick
auf ihre Handlungsketten, auf die
Bedeutung und Bedeutsamkeit bestimmter
vorbereitender Handlungen immer unabweisbarer
geworden. Die gewonnene und propagierte
Freiheit des Menschen - und dies ist
unser Gewinn - korrespondiert dabei
mit einer Zunahme an Selbstzwängen,
um diese Freiheit in den Interaktionen
und Kommunikationen lebbar zu halten.
Und dieser Gewinn ist auf der individuellen
Seite nicht zu verachten: Ein Studium
erscheint als große Freiheit,
was seinen Reiz ja auch ausmacht,
um aber zugleich auf ein anderes Gesetz
der Moderne zurückgeworfen zu
werden: den Markt. Ein Studium, und
das ist die Kehrseite der Freiheit,
ist auch die Freiheit jener anderen,
die als Masse meine Freiheit stark
behindern werden. Und nach dem Studium
drängeln wir uns auf dem Arbeitsmarkt.
Die
Professoren hingegen sehen diese Freiheit
ohnehin von Anfang an skeptisch. Sie
haben sich schließlich lange
genug in sie eingenistet, um von jenem
Widerspruch eingeholt zu werden, der
in der Unendlichkeit der Wissensvorräte
selbst lauert: Hier empfindet man
nämlich über kurz oder lang
den Widerspruch zwischen der Aneignung
des bisherigen menschlichen Fortschritts
und Wissens, sozusagen die phylogenetische
Basis der Menschheit, und seinen eigenen,
gegenüber der übrigen Menschheit
immer begrenzten Möglichkeiten,
also seiner ontogenetischen Realisation,
als ernüchternden Schock. Je
länger man studiert, desto schlauer
scheint man zu werden, um doch die
Unmöglichkeit eines sicheren
Wissens nur immer deutlicher zu erkennen.
Hier mag ein wesentlicher Grund der
Resignation vieler Studenten - aber
auch Professoren - insbesondere der
Geisteswissenschaften liegen, die
ein sehr ineinanderfließendes
und wenig exakt abgrenzbares Wissen
angehäuft haben, was schier unendliche
Abarbeitungsbemühungen beinhaltet.
Irgendwann resigniert man an der Vielfalt
und hält die Dinge hoch, die
man begriffen glaubt. So bleibt man
wundersam in einer fließenden
Zeit stehen. Der Fluß selbst
könnte aber auch, positiver gesehen,
gerade Grund für eine Neugier
sein, die zwar weiß, daß
sie nicht alles erschließen
kann, die aber in dem Labyrinth sich
eigene Wege sucht, um zu unbekannten
Ausgängen zu finden.
Doch dies ist schon eine sehr kritische
Position, die nicht unbedingt bereits
im ersten Semester vermittelt wird.
Auch Wissenschaftler, sie hören
dies allerdings nicht gern, sind als
Wesen der Moderne Wesen eines Marktes,
wo um Scheine gehandelt wird. Keine
wissenschaftliche Karriere ist ohne
Austausch solcher Scheinhaftigkeiten
möglich: Finde ich deine Theorie
gut, findest du meine Arbeit gut.
Kritisiere ich unsere Feinde, dann
bin ich dein Freund. Die noch so ehrenhaft
und neutral erscheinende Wissenschaft
besteht ebenso wie alle anderen Firmen
und Institutionen der Moderne schließlich
nicht zu einem reinen Selbstzweck,
auch wenn manche sie gerne so sehen
würden. Aber welches Individuum
kann schon von reinen Selbstzwecken
leben? Blicken wir auf dieses Individuum,
also auf uns selbst, dann ist die
Bedeutsamkeit der Warensammlung nicht
von der Hand zu weisen: Niemand studiert
zu einem bloßen Selbstzweck,
denn ein jedes Selbst und ein jeder
Zweck sind in einer funktionsteiligen,
warenproduzierenden Gesellschaft mit
den Sphären anderer Menschen
und ihrer Zwecke verflochten - auch
wenn dies nicht immer bewußt
geschehen mag.
Wechseln
wir also die Beobachterposition. Treten
wir noch einmal aus der Universität
heraus und gehen wir auf einen beliebigen
Markt der Moderne. Was können
wir beobachten? Da werden Waren angeboten
und verkauft, angenommen und gekauft.
Gewinne und Verluste erscheinen. Aber
sehen wir genauer hin: Die Menschen
unterscheiden in ihren Beobachtungen
auf diesem Markt sehr klar zwischen
dem, was sie von der Ware nutzen wollen,
d.h. wie sie sie gebrauchen, und was
sie kostet. Die Unterscheidung eines
Gebrauchs- und Tauschwerts einer Ware
kann uns vielleicht als Beobachterposition
helfen, uns dies für uns selbst
und die Ziele unseres universitären
Studiums näher zu bestimmen.
Lassen wir uns also auf ein Sprachspiel
ein, indem wir ein trivial erscheinendes
Marktmuster der Moderne auf die hohen
Erwartungen wissenschaftlichen Studierens
anwenden.
Der Gebrauchswert einer Ware
gibt ihren Nutzen für mich an,
das Realitätsprinzip, das in
ihr steckt und mich dazu bringt, Bedürfnisse
zu stillen und zu befriedigen. Diese
Befriedigung finde ich im Gebrauch,
was meist ein Aufbrauchen der Ware
bedeutet, bei bestimmten Waren auch
einen wiederkehrenden befriedigenden
Genuß
Demgegenüber
ist der Tauschwert ein Mittel zum
Zweck, ein interaktiver Nutzen, wenn
man so will, der sich real über
bestimmte Äquivalente - vor allem
Geld - vollzieht, dem aber auch Äquivalente
des Denkens entsprechen können. (4)
Was
nun ist der Gebrauchswert eines Studiums?
Diese Frage ist gar nicht so leicht
zu beantworten. Schließlich
läßt sich Wissen und Wissenschaft
nicht einfach konsumieren, indem ich
alles in mich hineinfresse, obwohl
manche Studienanfänger so tun,
als ob dies eine Lösung sein
könnte. Entsprechend dem Denken
im Kapitalismus rückt für
pragmatisch orientierte Geister hier
auch bereits der Tauschwert nach vorne,
weil sie sich vom Studium erwarten,
einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu
erhalten, ihren gesellschaftlichen
Status zu erhöhen, in der versachlichten
Hierarchie der Gesellschaft aufzusteigen,
um es sich besonders gut gehen zu
lassen, den Wert der eigenen Person
dadurch zu steigern, daß ihr
Wert auf dem Arbeitsmarkt ihnen mitteilt,
welchen Wert sie eigentlich haben.(5) Nietzsche wies mit Grund darauf hin,
daß gegenüber all den bürgerlichen,
hochtrabenden Phrasen des Guten im
Hintergrund des Begriffes gut immer
seine Ableitung aus dem Landgut, dem
Hof, dem Besitz steht.(6) Hier mischt sich das Profane in die
vermeintlich reinen Theorien mit ihrem
Wunsch nach gutem und wahrem Wissen
ein. Und wer dem Tauschwert verfällt,
der scheint für die reine Wissenschaft
verloren. Aber wo gibt es sie denn,
diese reine Wissenschaft? Auch der
Gebrauchswert des Studiums erscheint
als eine gewisse Mischung, je individuell
unterschiedlich akzentuiert, zwischen
Wissensaneignung, -verwendung und
Wissenstransfer oder -abwehr bis hin
zu den imaginierten oder realen Tauschwertverhältnissen.
Und
was ist der Tauschwert eines Studiums
genauer? Wer Geisteswissenschaften
studiert, hat in der Regel scheinbar
bereits Verzicht geübt, er ist
gewollt oder ungewollt in eine Sphäre
gerutscht, die der Gesellschaft bloß
Kosten verursacht, ohne in ihrem Nutzen
direkt erkennbar oder bemessbar zu
sein. Sein Tauschwert unterliegt damit
stärker dem berechnenden Kalkül
von jenen, die auf der produktiven,
direkt produzierenden oder konsumierenden
Seite der Gesellschaft stehen und
damit ökonomische und politische
Macht vereinen und verwalten. Bei
jeder finanziellen Krise der Gesellschaft
werden zunächst die unproduktiven
bzw. unproduktiv erscheinenden Seiten
des gesellschaftlichen Systems hervorgehoben
und der Rotstift der Kürzungen
und Beschneidungen setzt hier - das
ist die Erfahrung zumindest unseres
Zeitalters - als Erstes an. Dennoch
scheint der hier erwerbbare Tauschwert
immer noch höher, gesellschaftlich
anerkannter zu sein als in jenen produktiven
Sphären der Lohnarbeit, wo die
Arbeit verdinglicht, an die Maschine
gefesselt, an den Zeittakt der Industrie
gebunden wird.
Nun haben
wir eine Beobachterposition eingeführt,
mit der sich Fragen an jedes Studium
stellen lassen. Zu Beginn eines Studiums
sollte man sich unbedingt fragen,
welche Gebrauchs- und Tauschwerte
man erwartet. Und auch wie diese beiden
Ebenen zusammenwirken.
Gerade
deshalb beginne ich mit der Unterscheidung
von Gebrauchswert und Tauschwert,
weil sich hier eine Brüchigkeit
zeigt, die ich thesenartig - als Aufforderung
zur Selbstreflexion - festhalten möchte.
Dazu stelle ich folgende vier Thesen
auf:
1)
Jeder Mensch denkt sich seine eigene
gedankliche Wirklichkeit, seine Wirklichkeit
ist eine Konstruktion, bei gleichzeitiger
Rekonstruktion seiner Herkunft, der
Herkunft seiner bisherigen Konstruktionen.
Das
Dumme hieran ist, daß solche
Prozesse nicht immer bewußt
vor sich gehen, sondern unbewußt,
unterschwellig bleiben können.
Meine
abgeleitete These lautet: Machen wir
uns möglichst auf jeder Stufe
unseres Lebens deutlich, was wir konstruieren
oder rekonstruieren wollen.
Was
bedeutet dies für die Gebrauchswertseite
eines Studiums? Was erwarte ich also
für meinen individuellen Gebrauch,
für meinen persönlichen
Nutzen, für meine Perspektiven,
wenn ich studiere?
Zunächst
ist es sicher sinnvoll, rekonstruktiv
an diese Frage heranzugehen. In der
Rekonstruktion kommen mir vielleicht
folgende Fragen: Wie komme ich hierher?
Warum studiere ich Geisteswissenschaften?
Dies ist die erste Rekonstruktionsaufgabe,
die sich mir stellt. Daraus lassen
sich viele mögliche Einzelfragen
entwickeln, etwa nach Vorbildern,
die mich leiten, nach Erwartungen,
die ich bezüglich persönlicher
Bedürfnisbefriedigungen habe,
nach meinem Ego und Narzißmus,
nach gesellschaftlichen Zuschreibungen
gegenüber bestimmten Berufen
und Rollen usw.
Aber
für etliche mag diese erste Fragehaltung
nicht ergiebig sein. Vielleicht ist
die eigene Wahl auch zu unbewußt,
zu undeutlich, zu widersprüchlich.
Oft erscheint die Wahl als eine Wahl
mangels Alternativen, was allerdings
auch bereits etwas über den Gebrauchswerthorizont
aussagt. Ganz gleich, ob uns die Rekonstruktionsfrage
hilft, mit den eigenen Erwartungen
gegenüber dem Gebrauchswert unseres
Studiums voranzukommen, als erste
Konstruktionsaufgabe stellt sich:
Was mach' ich nun, wenn ich schon
einmal hier bin? Spätestens hier
stellt sich wieder die Frage nach
dem Gebrauchswert, den jeder für
sich definieren muß, um seine
Veranstaltungen, Schwerpunkte, Literatur
usw. auszuwählen.
Die
Antworten auf diese Gebrauchswertfragen
werden sehr unterschiedlich ausfallen.
Es sind Konstrukte der je eigenen,
singulären, lokalen Wirklichkeit
all derer, die sie sich beantworten
wollen.
Und
was kann ich, als Autor, diesen möglichen
Antworten zur Seite setzen? Welche
berechtigten Forderungen kann ich
anmelden? Da erscheine ich dem aufmerksamen
Leser schon in einer Falle, denn auch
meine Antwort in einem Zeitalter des
nachmetaphysischen Denkens, der neuen
Unübersichtlichkeit, der Unschärfe
der Wissenschaften kann nicht als
universelles und ewiges Wahrheitskonstrukt
mehr gelten. Gleichwohl aber behaupte
ich hier z.B. den Sinn einer bestimmten
Beobachterperspektive: »Frage
nach deinen Gebrauchswerterwartungen
des Studiums«. Und es wird hierbei
nicht bleiben. Ich werde zugleich
eine Forderung aufstellen: »Wenn
wir schon einmal hier sind, dann sollten
wir versuchen, das für uns Beste
aus unseren Konstruktionen zu machen«.
Das aber können wir nur, wenn
wir wissen, wozu wir überhaupt
etwas konstruieren wollen.
Hier
nun sind wir an einem Scheideweg,
der durch die Moderne und den Kapitalismus
selbst eingeführt wurde. Die
Frage »wozu« verquickt
sich in unserem Zeitalter immer mit
der Erwartung eines Tausches: Wenn
ich etwas tue, dann erwarte ich, das
etwas für mich getan wird. Solche
Tauschwerterwartungen dominieren mittlerweile
auch bei vielen Studenten die Gebrauchswerterwartungen.
Daraus aber entstehen völlig
andere Fragen: Welche Tauschabstraktionen
leiten mein Hiersein? Sind es Hoffnungen
aufs Lehramt, um eine sichere Stelle
zu bekommen? Oder Hoffnungen als Diplompädagoge
wider Erwarten doch eine Stelle zu
bekommen? Erwartungen an gutes Geld
und viel Freizeit? Oder wenig Geld
und viel vermeintliche Freiheit? Oder
bestimmt mein Hiersein das Warten
auf den Lebenspartner? Oder tausche
ich die Zeit hier als ein Parkstudium
in Hoffnung auf ein anderes Studium
oder überhaupt ein anderes Leben
ein? Oder bestimmt mich, da ich Pädagoge
werden will, ein Helferideal, weil
ich vielleicht meine, vieles besser
als andere machen zu können?
Beobachten
wir diese oder mögliche andere
Fragen des Tauschens genau! Was geschieht?
Hier rückt ein anderer Mechanismus
vor den Gebrauch, vor die zwar zugegebenermaßen
unübersichtlichen und widersprüchlichen,
aber eben doch insgesamt irgendwie
zu gebrauchenden wissenschaftlichen
Erwartungen. Von diesen ist jetzt
nicht mehr die Rede. Vielmehr wechseln
wir die Position in eine Erwartung
nach Sicherheit, Geld, Freizeit, Freiheit,
vielleicht nach Hoffnungen und Wünschen
nach noch Unbekanntem. Vielleicht
auch, wie beim Helferideal, an einen
Maßstab des Besserwissens, den
wir eintauschen wollen, um als besonders
guter Mensch zu erscheinen. Solch
ein Eintausch ist besonders gefährlich,
weil unter dem Mantel des Helfens
immer auch eigene Machtansprüche
verpackt sind - wahrscheinlich haben
wir alle etwas davon, wenn wir Geisteswissenschaften
für Lehrämter, Pädagogik,
Psychologie, Philosophie oder Sozialwissenschaften
studieren. Ich für meinen Teil
wollte besser als die meisten meiner
Lehrer werden. Warum eigentlich will
ich besser als andere sein? Und: Wer
soll bemessen, ob ich besser bin?
Die
erste These mit ihren Fragen mag helfen,
uns über unser eigenes Wollen
besser zu informieren. Unsere möglichen
Antworten enttarnen (dekonstruieren)
unsere konstruktiven Entwürfe
(= das, was wir so sicher wähnten)
und unsere rekonstruktive Herkunft
(= das, was als so klar und selbstverständlich
von uns erwartet erschien). Die Antworten
dekonstruieren damit aber auch meine
These, denn sie zeigen auf, daß
wir, wenn wir in solchen Antworten
angekommen sind, bereits woanders
sind. Dies leitet auf den nächsten
Gedanken über, denn die Bedeutungen
solchen Woandersseins hängen
von uns ab:
2)
Jeder Mensch ist frei, sich für
oder gegen etwas zu entscheiden, aber
diese Freiheit wird doch nie vollständig
erreicht.
Meine
abgeleitete These lautet: Machen wir
uns klar, wo wir frei sind, etwas
zu können
Besonders
ergiebig kann dies im Blick auf das
Studium für die Gebrauchswertseite
erscheinen: Die Freiheit des Studierens
gegenüber dem Beruf ist nicht
zu verleugnen. Besonders in den Geisteswissenschaften
erscheint jenes ominöse "anything
goes" (Paul Feyerabend), aber
meist leider mehr imaginär und
weniger symbolisch.(7) In den bildhaften Vorstellungen könnte
man sich so vieles ausmalen, aber
die symbolischen Studienordnungen
zwingen nach anderen Regeln als denen
der vermeintlich freien Wissenschaft
zu einem Selbstzwangverhalten, das
dort am meisten Zeit investieren heißt,
wo die Scheine - unabhängig von
der Qualität der Forschung und
Lehre - besonders schwierig zu erwerben
sind. Die Suche nach Symbolik zieht
sich durch die Semester: Gehe lieber
dorthin, wo du formal etwas mitnehmen
kannst, so lautet die Verschiebung
der Kreativität hin aufs Scheinesammeln
oder die angepaßte Prüfungsvorbereitung.
Und das »Studium generale«?
Die Allgemeinbildung, die eine Universität
vermitteln sollte? Sie führt
zurück auf den selbst erwählten
Gebrauchswert: Wie tief will ich überhaupt
etwas konsumieren, von dem mir allenfalls
meine Imagination sagen kann, wozu
ich es einst gebrauchen könnte.
Vielleicht ist es sogar so, daß
das, was man eigentlich nie braucht,
weiter führt als das, was gleich
nach Praxis riecht.
Solche
Symbolik zwingt uns oft, die eigenen
Hoffnungen zu verschieben: Als Schieben
von der Realität in die Utopie,
von der Ordnung der bürgerlichen
Welt in die Unordnung einer - immer
noch - bürgerlichen Studentenwelt
usw. Wir brauchen solche Verschiebungen,
um unsere Hoffnungen zu bewahren,
uns noch imaginieren zu können,
daß es auch ganz anders gehen
könnte, aber wer nicht die Bruchstellen
zur Realität erkennt, der verliert
mitunter den Kontakt zur Konstruktion
der Wirklichkeit, so wie die Masse
der Anderen sie sieht. So werden die
möglichen Antworten brüchig:
Wieviel Imaginäres darf ich mir
leisten, wenn ich doch "ordentlich
studieren" soll? Meine Imaginationen
sind stets von der übermächtigen
Symbolik der Prüfungsfächer
bedroht.
Das
Thema von Imaginationen ist aber auch
die Verdichtung, das Dichten einer
Welt, die Bild- und Dinghaftmachung
in Symbolik, neuen Begriffen, fremdartiger
Sprache, mitunter Dichtung, meistens
Fachjargon; dies ist die Isolationshaft
Universität, um die andere uns
beneiden und die wir fürchten,
wenn wir erst einmal begriffen haben,
mit was für Stacheltieren wir
es hier zu tun bekommen können.
Arbeitet es sich nicht leichter zu
zweit, zu dritt, im Team? Dies bleibt
hier der Eigeninitiative vorbehalten
- meist endet sie sehr schnell, weil
der Gebrauchswert Zeit etwas im Studium
ist, das keiner preisgeben will. Zeit
zu verlieren, das wäre eine Maxime,
die in der Universität wie allgemein
überhaupt in der Erziehung gar
nicht ernst genug genommen werden
kann.(8) Aber diese Maxime bedeutet nicht,
ewig im Rahmen der Hochschule zu studieren,
sondern sich für das Studium
eine begrenzte Zeit - dies aber intensiv
- wirklich zu nehmen, die ein späteres
- eigenes - Weiterstudium in anderen
Bezugskreisen nicht ausschließt,
sondern vorbereiten hilft. Will ich
mich vorbereiten, so gehört der
Verlust von Zeit notwendig dazu. Aber
kann ich solche Verluste ertragen,
wenn ich in einer Kultur lebe, die
mir die Maximierung von Zeit als ständige
Zunahme von Geschwindigkeit meiner
Aktionen suggeriert? (Virilio 1993)
So sitze ich oft gefangen in den multimeialen
Ablenkungsangeboten, die in Lichtgeschwindigkeit
in einem Nebeneinander gesendet werden,
um in mir Zwänge zu produzieren,
bloß keine Zeit zu verlieren
und alles gleichzeitig anschauen zu
müssen. Je mehr ich sehe, desto
weniger blicke ich durch.
Die
Freiheit des Nachdenkens, dies ist
zunächst immer Freiheit der Zeit.
Zumindest der Zeiteinteilung. Dies
kehrt später so schnell nicht
wieder. Aber die vielen Nebenjobs,
um sich Urlaub und Auto zu finanzieren,
oder die Finanzierung überhaupt,
dies ist der Zeittakt der modernen
Gesellschaft, der nach oder vor dem
Denken kommt, es aber meist bis zur
Vernichtung behindert. Man müßte
als Professor das Studium beginnen
können, dann hätte man die
Zeit, es auszuprobieren. Oder als
Adliger wie im 19. Jahrhundert. Aber
hätte man auch die Lust, sich
den Zwängen des Lernens auszusetzen?
Was ist das für eine eigenartige
Lust, die Leute zu Wissenschaftlern
und Studenten zu wirklich Studierenden
werden läßt?
Bei
solcher Frage nach Lust beginnen sehr
oft Tauschwertüberlegungen einzusetzen,
denn alle Lustklischees der Gegenwart
können sich eine Verausgabung
von Zeit für eine Kunst um der
Kunst willen nicht mehr vorstellen:
Deshalb handhabt die Gesellschaft
die vermeintliche Freiheit der Universität
ambivalent. Während des Studiums
mit Skepsis - die haben so viel Zeit
-; nach dem Studium mit nicht selten
geübter Schadenfreude und Entwertung
in bestimmten Fächern, besonders
in geisteswissenschaftlichen. Da kann
man sich dann Kommentare anhören,
daß es ja wohl nicht gelohnt
hätte, so lange zu studieren.
Und dies spiegelt sich zunehmend auch
allgemein in Veränderungen gesellschaftlicher
Erwartungen wider: Status, Geld, Sicherheit,
Freiheit, Freizeit usw. sind nicht
mehr allein durch ein Studium sicher
gewährleistet. Dies regelt schon
Angebot und Nachfrage. Die Massenuniversität
hat sich selbst ihrer Tauschwertsicherheit
beraubt. Dabei ist der Tauschwert
von Geisteswissenschaftlern besonders
entwertbar: Die geleistete Arbeit
erscheint als unproduktiv, weil mit
ihr nicht direkt materiell sichtbarer
Reichtum erwirtschaftet werden kann.
Die Leute verzehren nur Steuergelder,
so heißt es dann, sie leben
von dem, was Handarbeiter erst schaffen
müssen, sind nicht sehr rentabel
oder eben nur fiktiv rentabel, und
solche Fiktionen, die nach einem Bildungsbürgertum
rufen, wo Gebildetheit über das
Geld gestellt wird, die sind anachronistisch
geworden. Bei den Lehrern und Erziehern
kommt hinzu, daß sie immer Ordnungshüter
bestehender Wirklichkeiten sind, sich
mit knappen Mitteln und nervösen
Kindern herumschlagen müssen,
was das Ansehen ihrer vermeintlichen
Freiheit, das einen hohen gesellschaftlichen
Status implizieren könnte, zumeist
ins Gegenteil verkehrt. Aber auch
hier gibt es ganz andere Beobachterstandpunkte:
Von den Betriebswirtschaftlern und
anderen vermeintlichen Insidern des
Marktes verspottet, so ist man von
den Arbeitern her gesehen immer noch
was Besseres.
Je
mehr wir solche Assoziationen wandern
lassen, desto mehr erscheint das,
was wir nicht können! Weder Gebrauchs-
noch Tauschwert weisen uns auf das
Außergewöhnliche hin, was
uns Texte aus der Antike suggerieren
oder Bildungsidealisten des 19. Jahrhunderts
propagieren. Freiheit? Die Gedanken
immerhin sind frei! Aber sie allein
haben es meist nicht sonderlich weit
gebracht. Doch ohne sie? - da läuft
gar nichts mehr!
Damit
kehren wir zur Ausgangsthese zurück:
Wir sind immerhin frei, uns für
ein möglichst hohes Maß
an Freiheit zu entscheiden. Je mehr
wir auf die Unmöglichkeit solcher
Freiheit blicken, desto weniger werden
wir tun. Dann erscheint die sich selbsterfüllende
Prophezeiung (vgl. dazu genauer Kapitel
2), daß wir doch nichts verändern
können. Aber selbst wenn dies
so wäre, selbst wenn wir wie
Sysiphos immer aufs neue einen Stein
den Berg hinaufrollen, um ihn dann
wieder herunterfallen zu sehen, so
mag es die Lust auf unsere Freiheit
sein, die uns etwas Hinaufschaffen
läßt, von dem wir nicht
wissen, wie lange es uns die Gunst
auf die bessere Aussicht gewährt.
Und wir müssen ja nicht gleich
mit den größten Steinen
beginnen, die wir aus dem Weg schaffen
wollen.
3)
Keiner kann alles!
Meine
abgeleitete These lautet hier: Machen
wir uns klar, was zu uns paßt,
was wir wollen!
Aber,
wenn wir an den Gebrauch im Alltag
denken, solche Freiheit ist anstrengend,
denn sie erfordert Arbeit. Sie setzt
voraus: Die Rekonstruktion von These
1: Warum bin ich überhaupt hier?
Was will ich? Dann aber auch: Was
kann ich? Das Dilemma der Überforderung:
Sind wir durch den Eintritt in die
Universität nicht bereits erschlagen
durch das Wissen der Anderen? Ist
die Bibliothek nicht ein unheimlicher
Ort, weil in ihr eine Unübersichtlichkeit,
ein Chaos der Gedanken, eine Gegensätzlichkeit
mit heimlichen Klammern des Gemeinsamen
lauert, die nur Eingeweihte durchschauen?
Und wer sind jene Eingeweihten?
Von
manchen Professoren heißt es,
daß sie den Durchblick haben.
Aber wer je, wenn er ihn nicht auch
hat, soll dies überhaupt beurteilen?
Die Überforderung kann anregen,
sich nicht alles gefallen zu lassen.
Ihr Gegenpart, die Unterforderung,
versucht uns hingegen einzuschläfern.
Das Dilemma der Unterforderung: Wer
jetzt stillhält, der verblödet
im Studium. Von dem sagen die Prüfer
hinter vorgehaltener Hand: Er kann
immerhin vieles wiedergeben, auch
wenn er nicht genügend selbst
denkt. Aber können wir ihn deshalb
durchfallen lassen? Nach so langen
Jahren? Er ist jener Kandidat, der
immer erwartete, gesagt zu bekommen,
was er tun solle. Er hat nie begriffen,
daß er nicht alles tun soll,
aber selbst wissen lernen muß,
was zu tun ist. Dies ist eine der
wichtigsten Voraussetzungen des Studiums,
die viele oft erst dann bemerken,
wenn Jahre vergangen sind. Wenn es
zu spät ist, dann kann man nur
noch auf die Tendenz zur Milde bei
den Prüfern hoffen.
Wie
kann ich Über- und Unterforderungen
vermeiden? Es geht darum, einheimische
Orte zu finden, am Ende aber fehlt
die Zeit. Als Beispiel möchte
ich Studenten nennen, die mir nach
bestandener Prüfung oft von ihren
Erfahrungen erzählten. Nach dem
Studium sagten sie, daß sie
jetzt erst wüßten, wie
sie studieren müßten. Warum
erst jetzt? Haben sie denn nicht die
Erfahrungen der älteren Semester
genutzt? Und sie sagten auch, daß
die Abschlußarbeit oder Klausuren
oft zum Scheiterungsgrund jener wurden,
die aus dem Studium ausstiegen. Schriftlich
kann man sich nicht herausreden. Die
Prüfer lesen viele Bücher,
sie vergleichen, was sie lesen und
in einer Massenuniversität beginnt
erst hier ein Aufeinandertreffen der
Erwartungen und der gezeigten Leistungen.
Es ist schlecht an deutschen Universitäten,
daß dies meist sehr spät,
oft erst nach Jahren, geschieht. Aber
in der Massenuniversität ist
Unter- oder Überforderung ein
individualisiertes Problem: ein Problem
der Ver-ein-zelung des Studenten.
Sollte er dann nicht alles tun, diese
aufzuheben, wo immer es ihm möglich
wird?
Es
paßt nur das, was ich anprobiere.
Hier ist es notwendig, zunächst
mehrfach die Kleidung zu wechseln,
bis man sich wohl fühlt. Und
auch dann läuft man nicht täglich
in den gleichen Sachen rum. Viele
jedoch machen den Fehler, sich ihre
Lehrer nach äußerlichen
Sympathien auszusuchen, dann auch:
Sich
zu wenig weiter umzuschauen. Dabei
gilt als Grundregel vor allem im Grundstudium,
mehr als notwendig und bei so vielen
Hochschullehrern wie irgend möglich
zu studieren. Gleichwohl kann dies
sehr stark in manchen Studiengängen
mit unserer Anforderung an den Gebrauch
der Zeit kollidieren, zumal ein jeder
Student im Studium unterschiedliche
Eigenzeiten benötigt, um zu seinem
gesetzten Ziel zu gelangen.
Betrachten
wir auch hier die Tauschwertseite:
Triebunterdrückung
und Triebaufschub führen - so
heißt ein viel zitiertes psychoanalytisches
Konstrukt - vermeintlich zu einem
höheren Genuß, der in die
Zukunft verschoben wird. Aber für
Pädagogen ist dies eher ungewiß,
denn wer will in einem Fach, das in
den letzten Jahrzehnten massenhaft
arbeitslose Akademiker produzierte,
schon erwarten, daß er gesellschaftlich
mit Anerkennung erwartet und empfangen
wird. Aus diesem Umstand vor allem,
so scheint mir, resultierte eine Sinnkrise
nicht nur der Pädagogik, sondern
der Geisteswissenschaften an den deutschen
Universitäten. Sie greift mittlerweile
auf immer mehr Fächer über.
Zudem zerschellte ein Großteil
des auf Veränderung drängenden
Schwungs der Studentenbewegung und
ihrer alternativen Nachbewegungen
in der Massenuniversität. Und
es ergab sich eine massenhafte Unterforderung,
die bei vielen Studierenden im Kopfe,
als eine Art selbsterfüllende
Prophezeiung, sich breit machte: Wenn
du schon so ein Fach studierst, dann
solltest du eben auch nicht zu viel
erwarten. Hier handelt es sich um
eine Studierfalle, ganz ähnlich
jener Beziehungsfalle, die in der
Kommunikationstheorie von Watzlawick
und anderen immer wieder beschrieben
wurde: Ein Ehepaar argumentiert so,
daß er sagt, daß er immer
öfter in die Kneipe gehe, weil
sie nörgle; sie sagt, daß
sie nörgle, weil er in die Kneipe
gehe. Hier nach Anfang oder Ende zu
suchen ist genauso ergebnislos, als
wenn man als Student die Schuldigen
für die eigene Studienmisere
herausfinden wollte. Nicht, daß
sich keine Gründe dafür
finden ließen oder finden lassen
sollten. Aber nur eine Änderung
- des zunächst eigenen - Handelns
wird helfen können.
Damit
aber bleibt als Lösung nur, sich
der Tauschwertseite an dieser Stelle
zu entfremden, den Tauschwert zu ignorieren,
um über die Stärkung des
Gebrauchswertanteils Hoffnungen zu
gewinnen. So habe ich viele Studenten
erlebt, die mit diesem Gebrauchswert
später wuchern konnten, ihn in
bare Münze verwandelten, auch
wenn sich nicht alle Tauschwerthoffnungen
immer befriedigen ließen.
Der
Tauschwert erhält sich ohnehin
nur, wenn ich realistisch und alltagsbezogen
auf ihn sehe: Zunächst muß
ich - egoistisch genug - in der Massenuniversität
überleben. Ich muß die
Themen suchen, die mich entschieden
weiter bringen. Aber auch die Prüfer,
die solche Themen letzten Endes prüfen.
Und mich rechtzeitig mittels Praktika
oder anderer außeruniversitärer
Bindungen abstoßen von diesem
Moloch Universität, der mir eine
Geborgenheit und Existenz allenfalls
auf Zeit in kleineren gewählten
Gruppen und bei Vermassung nur widerwillig
zugesteht.
4)
Freiheit ist nicht beliebig, sondern
unterschiedlich begründet.
Meine
abgeleitete These lautet: Machen wir
uns klar, was wir nicht wollen und
begründen wir dies!
Mehrfach
ist schon deutlich geworden: Die bisherigen
Strategien positiven Wissens passen
nicht mehr. Kein Lehrer sagt uns -
zumindest keiner derjenigen, die ich
für kompetent halte - was wir
hier, in der Universität, behalten
oder denken sollen. Jeder dieser Lehrer
weiß, daß es zahlreiche
Lösungen und nicht die eine Lösung
in den Geisteswissenschaften gibt.
Wir haben keinen Klassenverband mehr,
keine stündlich wiederkehrende
Zuwendung und begrenzte Wissensprüfungen.
Ausgrenzung und Abgrenzung, Arbeit
in die Tiefe, Modi der Übertragung
des Gelernten, all dies bleibt ganz
uns überlassen. Ob wir nun adäquat
darauf vorbereitet sind oder nicht:
Die Hochschule erwartet dies nach
ihrem Selbstzweck, den sie sich nicht
zu hinterfragen traut.
Dies
hat auf der Gebrauchswertseite einen
ungeheuren Vorteil, den man oft erst
spät sieht: Hier bin ich frei,
aber auch: Hier kann ich es sein!
Allerdings ist die Freiheit mit einer
Arbeit der Begründung erkauft.
Ich habe die Freiheit der eigenen
Begründung. Dies ist die genuine
Freiheit der Wissenschaft, sie drückt
sich an deutschen Universitäten
in der Freiheit von Forschung und
Lehre aus, aber auch in der Freiheit
jedes Studierenden, der sie nutzen
will. Nicht jeder Hochschullehrer
wird sich gleichermaßen auf
solche freien Diskurse einlassen,
aber zwischen ihnen, gegen sie, mit
ihnen wird der freie Diskurs als ein
jeweils begründeter Diskurs möglich,
ja sogar vielfach - besonders in den
Geisteswissenschaften - erwünscht
sein. Jeder Studierende kann hier
sein eigenes Denk- bzw. Weltbild gewinnen,
aber er sollte ebenso wie die Hochschullehrer
vorsichtig genug bei seinen Begründungen
sein, dies gewonnene Bild nicht als
das einzig richtige zu behaupten.
An solcher Freiheit kann man süchtig
werden, weil sie umfassender als andere
ist, sie unterscheidet sich als Schonraum
der Grundlagenforschung radikal von
jenen Interessen, die sofort einen
Nutzen - oder Tauschwert - aus jedem
Wissen ziehen wollen. Zwar mag sie
manche Blüten hervorbringen,
deren Stil uns abwegig erscheint,
aber dies Abwegige zu tolerieren,
sollte uns wichtig genug sein, wenn
wir diese Freiheit überhaupt
wollen. Der von uns erwartete Gebrauchswert,
wenn er denn nicht nur unter dem Joch
des Tauschwertes stehen soll, zwingt
uns dazu, dies zu wollen. Es bedeutet
dies ja auch nicht, die Verantwortung
für die Anwendbarkeit des eigenen
Wissens abzustreifen oder gegen die
Welt ignorant zu werden. Aber wann
immer eine ignorante Welt in diese
Freiheit eingreifen will, werden wir
gefordert sein, diese gegen den Absturz
in reine Nützlichkeitserwägungen
oder politische Konformität zu
verteidigen.
Amöbenhaftes
Lernen allerdings führt zu Verdauungsstörungen
und Überfettung, es macht unbeweglich.
Deshalb ist eine Auswahl der Nahrung
vor die Fettsucht gesetzt. In den
Geisteswissenschaften, so mein persönlicher
Eindruck, üben sich die meisten
Studierenden aber wohl eher in Magersucht,
um der Unerträglichkeit der Freiheit
zu entgehen, denn Freiheit heißt,
- Begründungen zu finden und verteidigen zu können.
- Arbeit
als: lesen, lesen, lesen und als schreiben,
schreiben, schreiben! Von einem Sportler
erwarten wir keine Leistung, wenn
er nicht trainiert; von einem Handwerker
kein Resultat, wenn er sein Handwerk
nicht übt; Studierende der Geisteswissenschaften
warten hingegen oft auf das Wunder
einer einmaligen Erleuchtung.
- Kommunikation
als Diskussion, Streit, Auseinandersetzung,
aber auch immer Weiterentwicklung
um das, was hier begründet und
gearbeitet wird.
- Handlungen
erreichen, weil die Imaginationen
über Praxis immer anders sind
als die Praxis.
Da
die Geisteswissenschaften, insbesondere
aber die Pädagogik und Psychologie,
Wissenschaften über menschliches
Verhalten und Beziehungen sind, ist
ihre Praxis immer der Umgang mit Menschen,
was Freude am Kontakt, Spaß
an der Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit
des Lebendigen voraussetzt, aber weniger
geeignet ist, solcherlei Voraussetzung
bei den Studierenden erst zu erzeugen.
Die
Tauschwertseite kann allerdings gerade
hier negativ eingreifen. Aber sie
ist nicht zu verleugnen, denn sie
macht sich geltend: Wer bezahlt eigentlich
diese Freiheit? Hier mag man an das
alte Dilemma der Privatdozenten erinnert
sein: Ihnen konnte nur eine Erbschaft
oder die Gewährung eines Unterhalts
Voraussetzung einer unbegrenzten Freiheit
werden. Auch in einer Wohlstandsgesellschaft
wie der unseren sind hier die Chancen
sehr ungleich verteilt. Obwohl die
Studentenzahlen sich rasant erhöht
haben, so ist im Verhältnis der
Anteil studierender Arbeiterkinder
gesunken. Darüber spricht man
aber kaum noch, weil der Kapitalismus
der 90er Jahre die Devise vertritt,
daß offensichtlich jeder mit
sich selbst klar kommen muß.
Insoweit aber gibt es neue Bildungsprivilegien:
Diejenigen, denen die Eltern das Studium
voll bezahlen, können es sich
scheinbar leisten, mehr Zeit zu verlieren,
um Gebrauchswert für sich zu
gewinnen. Allerdings wird dies immer
dann problematisch, wenn die finanzierenden
Eltern mit sozialer Kontrolle Druck
ausüben, weil sie die Maxime,
Zeit zu verlieren, in die Maxime eines
schnellen Abschlusses verkehren.
Diejenigen,
die mit der gesellschaftlichen Standardisierung
des Minimums (BAföG) oder eines
hohen Eigenanteils von Jobs, um sich
zu finanzieren, studieren müssen,
haben immerhin den Vorteil, eher sich
selbst kontrollieren zu können,
wenngleich der Schuldenberg am Ende
des Studiums abschreckend wirkt.
Tauschwerte
erhöhen sich durch gute Noten,
das ist die Hypothese einer Leistungsgesellschaft,
aber darauf gibt es keine Garantie,
das ist die Marktrealität. Insoweit
ist die Ware Studium ein Scheinprodukt
im doppelten Wortsinne: Zeugnis und
Idealisierung. Gerade darin mag aber
auch ein besonderer Reiz liegen, denn
die Vielfältigkeit der Möglichkeiten
des Tausches ist im Kapitalismus sehr
groß; und von der Existenzangst
der Menschen in der sogenannten dritten
Welt sind wir deutlich entfernt.
Diese
vier Thesen mit ihren Widersprüchen
zwischen Gebrauchs- und Tauschwertseite
zeigen einen hohen Eigenanteil, eine
starke individuelle Autonomie, die
in unserer Kultur dem Prozeß
des Studierens zugestanden sind. Wir
erwarten, daß hier jeder seinen
Weg findet. Aber uns bleibt das Staunen
vor dem anderen, der uns als fremd,
uns entfremdet erscheint, weil er
all das, was wir erleben, so anders
verarbeitet. Sehr subjektiv sehe ich
zwischen den sehr individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten
immer wieder drei typische Formen
im Umgang mit der Pädagogik im
Studium. Es sind dies sozusagen Schablonen,
die als Typologien helfen mögen,
den eigenen konstruktiven Weg zu unterscheiden
oder den hier aufgestellten zu bekämpfen
- beide Male hilft dies zur Klärung
der Beobachterstandpunkte:
Typ
1) Identifikation im Sinne der Annahme
oder - mehr oder minder begründeten
- Ablehnung. Beide Strategien werden
im Spannungsfeld zwischen Minimalisierung
und Maximalisierung betrieben.
Die
maximalen Identifizierer gehen im
Fach selbst auf, sie werden schnell
zu Fachidioten und rekrutieren gerne
den Nachwuchs der jeweiligen Disziplin.
Die Ablehner hingegen versuchen immer
wieder das Fach zu verstören,
es auf seine Defizite hin zu befragen,
vielleicht weil sie ein grundsätzliches
Unbehagen an jenem Hang der Pädagogik
verspüren, mit irgendwelchen
Maßnahmen normativen Erfolg
zu sichern. Dennoch bleiben sie mit
den Fragestellungen des Faches identifiziert,
sie wollen aber alternative Lösungen.
Wird gegen sie gearbeitet, so beraubt
sich das Fach seines eigenen kreativen
Nachwuchses.
Die
minimalen Identifizierer finden das
Fach ganz gut, aber sie wollen es
mit möglichst geringem Aufwand
durchlaufen, meist weil sie in ihren
anderen Fächern Interessen oder
hohe Pflichtstunden haben. Die minimal
operierenden Ablehner finden das Fach
eher schlecht, aber ihnen lohnt der
Aufwand einer näheren Beschäftigung
nicht, sie suchen sich andere Fächer
und Interessen. Auch sie identifizieren
sich mit pädagogischen Kontexten
und Fragestellungen, aber nicht mit
pädagogischen Theorien.
Typ
2) Wenn die Identifikation abgewehrt
wird, dann findet sich oftmals eine
Regression. Ein Bild solcher Regression
ist die Rückkehr zu allein zugestandenen
eigenen Erfahrungen, die gleichsam
das Studium ersetzen oder aufheben
sollen, weil die Vielfalt und Theorielast
als unerträglich erscheint. Diese
Regression bedeutet das Zurückfallen
auf ein niedriges Theorieniveau, d.h.
sie fordert besonders häufig
einen Hang zu trivialisierter Fachliteratur
im Sinne von Ratgebern, Rezeptbüchlein,
Welterklärungen heraus, die meist
unkritisch benutzt werden. Es kann
aber auch als Hintergrund schlichte
Faulheit konstatiert werden, wobei
diese die Unerträglichkeit mühseliger
Studien abwehrt und sich in einer
meist selbstgestrickten Theorie ihre
vermeintlich rationalen Gründe
schafft.
Typ
3) Eine andere Strategie ist das Ausweichen.
Die Mehrzahl der Ausweicher sind nicht
die bewußten Ablehner der ersten
Gruppe, die sich ja immerhin noch
mit pädagogischen Fragestellungen
beschäftigen. Hier sind vielmehr
vor allem Studenten zu finden, die
eigentlich Psychologie oder ein anderes
NC-Fach studieren wollten, aber wegen
ihrer Noten in einem pädagogischen
Studiengang gelandet sind. Aber es
gibt auch andere Teilgruppen, die
aus der Vorliebe zu bestimmten Fächern
den Fragestellungen des Hauptstudienganges
gerne ausweichen. Der früher
typische Ausweicher war der Fachidiot,
der bewußt durch die universitären
Strukturen gefördert wurde und
mit Pädagogik gar nichts anfangen
konnte. Heute folgt das Ausweichen
sehr oft rein organisatorischen Gesichtspunkten
in der Massenuniversität: Wegen
Prüferüberlastung, hohen
Seminarfrequenzen usw. baut sich der
heimliche Lehrplan des leichtesten
Ganges durch das Chaos auf, dessen
wahre Hintergründe immer nur
die jeweils Eingeweihten für
kurze Zeit durchschauen.
Diese
Typen gelten nicht nur für Studenten,
sondern auch für Professoren.
Hier muß ich die eigene professorale
Sicht dekonstruieren. Hochschullehrer
lieben es nämlich, die Krise
der Pädagogik als Krise der Studierenden
hinzustellen, obwohl es gerade auch
ihre Lehrkrise ist. Nach Typ 1 wird
die Krise der Lehre besonders dadurch
gefördert, daß die einen
zu eng in ihren Theorien stecken,
so daß kaum noch Praxisrelevanz
erkannt werden kann, und andere der
Pädagogik als Fach nur wenig
Relevanz abgewinnen mögen. So
fällt es schwer, Motivation an
Studenten zu vermitteln. Typ 2 erscheint
besonders in Meisterlehrern und bei
Vereinfachern, die zum Aufstieg der
Ratgeberliteratur und Rezepte beitragen,
indem sie dafür die Texte schaffen.
Systemisch betrachtet sind die Studenten
nicht nur diejenigen, die Vereinfachungen
wollen, sondern auch Gefangene jener
Autoren, die Vereinfachungen vorgeben.
Und auch der Typ 3 fehlt nicht: Auch
Professoren weichen gerade in der
Pädagogik davor aus, der Krise,
die sie oft wortreich theoretisch
ausmalen, wenigstens in eigenen Seminaren
durch positive Gegenbeispiele zu begegnen.
So wie Professoren allgemein an deutschen
Universitäten haben auch pädagogische
Hochschullehrer sehr wenig Beziehungskontakte
zu ihren Teilnehmern. Wie aber wollen
sie dann die Motivation und Denkweise
ihrer Studenten wahrnehmen? Wie wollen
sie ihre Lehrkrise überwinden?
Zur
Zeit täuschen die organisatorischen
Strukturen der Massenuniversität
darüber hinweg, daß gerade
in der Pädagogik die Krise ein
systemisches Wechselspiel zwischen
Studenten und Hochschullehrern ist.
Wenn beide ein äußeres
Feindbild aufbauen, um in den gesellschaftlichen
Strukturen von Mittelkürzungen
und Beschränkungen die alleinige
Ursache jeder Krise auszumachen, so
verdeckt dies den Mangel an Beziehungsarbeit
zwischen ihnen, die unabhängig
von Mittelzuweisungen möglich
wäre. Diese Kritik höre
ich immer wieder, wenn ich mit Studenten
diskutiere.
Es
ist ein Glück, daß diese
Typenlehre uns zwar Beobachtungen
machen läßt, die sich mit
den Typen decken, die wir in der Uni
herumlaufen sehen, uns im Einzelfall
aber auch oft betrügt. Nicht
nur, daß jeder Student (und
auch Professor) anders als ein anderer
ist, hinzu kommt auch noch ein ständiger
Wandel im Leben. Oder täuschen
wir uns erneut? Sind im Studium nicht
bestimmte Typen bevorzugt?
Ich
will die Pädagogik als ein Familienbild
darstellen: Erziehung gibt es immer
schon, aber die Pädagogik ist
ein sehr junges Fach: Ihre Geburt
fällt in die Neuzeit, die Eltern
sind Theologie und Philosophie, die
Urgroßeltern Ritual und Mythos.
Allerdings ist der weibliche Anteil
bei den Eltern eher gering geschätzt,
er wurde auch wenig dokumentiert.
Die Familie dieser Disziplin ist inter-disziplinär,
d.h. weder bei der Ahnen- noch Geschwisterreihe
herrschen klare Abgrenzungen vor.
Dies erschwert die Bestimmung der
eigenen Rolle in der Familie, besonders
da nebenrangig Geborene wie die Psychologie
und Soziologie sich ständig in
alle Belange einmischen. Umgekehrt
ist das eigene Wachstum nicht so ausgeprägt,
was aufgrund von Minderwertigkeit
die Selbstfindung und Durchsetzung
der eigenen Rolle erschwert.
Und
schon bin ich wieder in einer Typisierung.
Es ist unser Schicksal als Beobachter,
daß wir dann solche Typisierungen
- die immer Schablonen unseres Sehens
sind und die Perspektiven einschränken
- gebrauchen, wenn wir Beobachtungen
- also schon Beobachtetes nach unseren
spezifischen Blicken - Anderen mitteilen
wollen.
Mit
dieser Entschuldigung kann ich fortfahren,
einen spezifischen Blick auf die Pädagogik
zu werfen. Je nach dem Typ, den Sie
wählen wollen, stehen Ihnen verschiedene
Schwerpunkte zur Verfügung. Und
es steht offen, mit welcher Intensität
Sie sich auf solche Schwerpunktsetzungen
einlassen wollen:
a)
der sichere Weg: Historie (historische
Pädagogik)
Dieser
Weg dient vor allem der Familienrekonstruktion,
d.h. in unserem Falle der Bewußtwerdung
von Fragestellungen und Antworten
verschiedener Zeiten zur Erziehung.
Dabei besteht die Betrachtung überwiegend
in der Betrachtung von Betrachtungen,
d.h. in der Interpretation von Interpretationen,
was zumeist eine Kette weiterer Interpretationen
produziert. Ohne einen Blick in diese
Kette von Begriffen und Aussagen würde
der Gebrauch erziehungswissenschaftlicher
Terminologien bzw. Theorien naiv und
unverständlich werden. Bei zu
vielem oder ausschließlichem
Gebrauch entsteht eine vermeintliche
Sicherheit, die sich auf die Fundamente
der Vergangenheit beruft. Bei näherem
Hinsehen jedoch kann solche Sicherheit
sehr brüchig werden, denn die
Versteinerungen, mit denen sie sich
befaßt, bleiben bloße
Momente von scheinbar wahrer Rekonstruktion,
wenn sie nicht in einer Bedeutung
für die Gegenwart auch konstruktiv
erschlossen werden. Ein Minimum an
Einführung in diesen Bereich
sollte gleichwohl jeder gewinnen,
der Pädagogik studiert. (9)
b)
die Lockungen des Vergleichs (vergleichende
Pädagogik)
Vergleichende
Fragestellungen haben aus der Sicht
einer Tauschgesellschaft oft den Hang,
das jeweils bessere Angebot herauszusuchen.
Dies ist für die Geschichte der
Pädagogik früher oft der
Maßstab gewesen: sich selbst
als den besseren Weg herauszustellen.
Die
Kolonialisierung der vermeintlich
unzivilisierten Kulturen führte
zwangsläufig zu einer missionierenden
Erziehung, deren Gewalt bis in die
subtilsten Zweige der Umerziehung
reichte und sich in ihrer Moral immer
eindeutig sicher wußte. Diese
Sicherheit des Glaubens ist durch
die Verunsicherung des Wissens besonders
in der Ethnologie in neuerer Zeit
gebrochen, wenn auch noch nicht vernichtend
geschlagen worden. Und nirgends ist
die Gefahr gebannt, daß wir
uns im Vergleichen - aus welchen Motiven
auch immer - nicht besser fühlen
als die anderen, denen wir beobachtend
Rollen und Gefühle zuschreiben,
um uns selbst besser zu verstehen.
Was fällt uns beim Vergleichen
so schwer? Das Leben anderer Kulturen
erstaunt uns nicht nur in den Inhalten
und Formen, sondern verunsichert unsere
Gefühle, was notwendig Mechanismen
psychischer Reaktion - insbesondere
Abwehr - hervorbringt. Eine andere
Form der Tabuisierung kann die Verweigerung
der Beschäftigung sein. Hier
fällt auf, daß insbesondere
die Pädagogik sich kaum eigenständig
mit dem Vergleich zu anderen Kulturen
befaßt hat. Es ist ihr unentwickeltster
Teil.
c)
Systematik als Rettung
Es
gibt unzählige Systematisierungsversuche
in der Pädagogik. Viele sind
davon geprägt, auf der jeweils
erreichten historischen Stufe ein
angepaßtes Maß an pädagogischen
Notwendigkeiten zu formulieren, was
zumeist eine hohe Moralisierung der
Aufgaben einschloß. Die interessantesten
Versuche scheinen meist jene an gesellschaftlichen
Umbruchstellen zu sein, wo die Pädagogik
über ihr eigentlich verordnetes
Ziel gesellschaftlicher Anpassung
hinausschoß und sich aufmachte,
die Welt aus der Perspektive der Veränderung
auch über erzieherisches Handeln
zu sehen. Hinzu kommen die Systematisierungen
in der Gegenwart, wobei ein jeder
professionell organisierter Hochschullehrer
sein eigenes Steckenpferd reitet,
seine Terminologien, wie abgeschrieben
sie auch sein mögen, modifiziert,
umkonstruiert, als völlig neu
proklamiert. Von solcherlei Systematisierung
hing seine eigene Karriere ab, und
an ihr wird sie meist weiterhin festgemacht.
Daraus
entstehen teilweise Innovationen,
immer mehr aber ergibt sich ein Leerlauf
durch das ständige Umschreiben
längst bekannter Sachverhalte
oder Aussagen. Dem Neuling ist dies
eine Welt der Unübersichtlichkeit,
dem Fachmann oft ein Graus der Wiederholung.
Die Kluft zwischen beiden ist unüberbrückbar
eine des Wissensvorsprungs. Gleichwohl
bleibt auch dem Neuling das wesentliche
Kriterium der Anwendbarkeit der jeweils
gewählten Systematik und der
für ihn herstellbaren Plausibilität.
Auch wenn diese sich im Verlaufe der
Wissensaneignung verändert, so
mischt sich hierein jene Neugier,
die überhaupt nach Erklärungen
sucht und die ihre einheimischen Systeme
dafür findet. Ohne jedes System,
so ist ein jedes Fach organisiert,
ist es nicht zu verstehen und das
Studium kaum zu bestehen.
d)
die Reformer und Praktiker
Reformpädagogische
Bewegungen haben Beispiele hervorgebracht,
an deren praktischen Modellen sich
gut Umsetzungsmöglichkeiten für
Erziehung oder Veränderungen
durch Erziehung studieren lassen.
Solche Bewegungen sind meist in Zeiten
des Umbruchs entstanden, aber es gibt
sie in jeder Zeit, mitunter an versteckten
Orten. Gleichwohl ist unsere Gegenwart
nicht reich an solcher Bewegung, weil
der organisierte und institutionalisierte,
d.h. aber auch notwendigerweise der
reglementierte Bestand an Erziehung
bis in die Nischen der Gesellschaft
differenziert und entwickelt ist.
Insoweit erscheint die Reform eher
in der individualisierten Gestalt
des einzelnen Praktikers und kann
auch nur dort vor Ort gefunden werden.
In
all diesen hier nur formal genannten
Strategien - und im Laufe des Studiums
kommt man ohne sie nicht aus - gibt
es anerkannte Theorien, sogenannte
Referenzen. Es ist so wie mit der
Rationalität: Man versucht in
der Wissenschaft, alles nach der Vernunft
zu ordnen und Gewißheit - so
weit es geht - zu erlangen. Welche
Probleme bei solcher Suche auftreten
können, davon werden wir später
handeln.
Aber
schon hier will ich bemerken, daß
neben der Rationalität immer
auch die Irrationalität zu nennen
ist. Was ist sie dem Grunde nach?
Irrationalität ist zunächst
eine Zuschreibung desjenigen, der
sich rational wähnt. Diese Zuschreibung
sagt so gesehen etwas über ein
Verhältnis aus: Einer will, daß
ein anderer so und nicht anders gesehen
wird.
Im
historischen Prozeß sind solche
Zuschreibungsmuster verfestigt, sie
sind zur Gewißheit geronnen,
indem dieser andere als ver-rückt
(und dies geschieht durch unseren
Blickwinkel) isoliert wird. Wissenschaftlich
betrachtet wird ein Referenzmuster
errichtet, das sich an der sogenannten
Normalität der Aussage orientiert.
Gerade in jüngster Zeit hat die
Moderne jedoch einen Knacks erlitten,
wie wir schon diskutierten, wir sind
verunsichert, und so treten neue Theoretiker
und Praktiker auf, die die Referenz
nicht nur mit neuen und anderen Referenzen,
sondern mit Irreferenz verstören.
Es ist dies ein Begriff, der aus der
systemischen Therapie stammt (Cecchin),
um anzuzeigen, daß die Referenz
irreferent werden kann, wenn wir unsere
Zuschreibungsmuster verstören,
in Frage stellen, vielleicht aufgeben
lernen.(10) Als Beobachter haben wir immer Referenzen.
Aber indem wir sie enttarnen, dekonstruieren,
zeigt sich die eigene Referenz im
Blick auf alles das, was wir sonst
noch sehen könnten, als irreferent.
Ich
erwähne dies, weil dies in einer
systemisch-konstruktivistischen Pädagogik,
die immer auch auf Dekonstruktionen
setzt, unvermeidlich ist: Immer dann,
wenn wir eine nun vermeintlich gültige
Referenz gefunden haben, gilt es,
diese wieder zu verstören. Aber
dabei komme ich nicht ohne Referenzen
aus. Manche sind mir auch besonders
wichtig. Gleichwohl erweisen sie sich
als auch irreferent, entweder durch
mich, wenn ich den Blickwinkel wechsel,
oder durch Sie, den Leser, weil Sie
Ihre Blickwinkel setzen. Wichtig ist
es, nicht nur Referenzen dadurch zu
verunsichern, daß wir jeweils
andere Referenzen neben oder nach
sie setzen, sondern in jeder Referenz
immer auch den irreferenten Teil akzeptieren
lernen. (10)
Es gibt keinen versöhnlichen Schluss, denn dieser Einstieg ist jeweils Anfang und Ende zugleich, weil die Theorien- oder Praxisketten auch in der Pädagogik so ineinandergreifen, dass wir aus dieser menschlich errichteten Konstruktion nicht einfach aussteigen können, sondern sie nur durch Rekonstruktion oder Dekonstruktion entweder zu erhalten oder zu verändern suchen müssen. Wer es mehr tut als andere, der mag sich weniger im Räderwerk fühlen wie die breite Masse, kann aber ggf. leichter unter die Räder kommen. Dies ist besonders bei Menschen, die den aufrechten Gang schätzen gelernt haben, weil er ihnen einen breiteren und besseren Blick ermöglicht, ein unvermeidliches Übel, zugleich aber die größte Hoffnung für alle zu Erziehenden, die gerne einmal groß und aufrecht gehen möchten.
Literatur:
Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik. Wetzlar (Büchse der Pandora) 1982
Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1979
Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1987)
Bourdieu, P.: Homo academicus. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1992
Cecchin, G./Lane, G./Ray, W.A.: Respektlosigkeit. Heidelberg (Auer) 1993
Elias, N.: Über den Prozess der Zivilisation. 2 Bde, Frankfurt a.M (Suhrkamp) 1976
Elias, N.: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1983
Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 19883
Elias,N.: Engagement und Distanzierung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 19902 a
Elias, N.: Über die Deutschen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1990 b
Macpherson, C.B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1973
Reich, K.: Systemisch-konstruktivistisch Pädagogik. Neuwied u.a. (Luchterhand) 1996 (2005 5. Aufl.)
Virilio, P.: Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin (Merve) 1993
Fußnoten
:
1.
Dieser
Text ist in Einführungsveranstaltungen
in die Pädagogik Anlaß
geworden, daß Studenten mit
Fragebögen, in Diskussionsgruppen,
mittels Stellwandtechniken reflektieren,
welche konkreten Erwartungen sie beim
Beginn des Studiums leiten. Diese
Reflexionen sind mir im Sinne eigener
Konstruktion wichtiger als eine bloße
Referierung des Textinhaltes, dessen
Ziel einzig die Initiierung solcher
Selbstproblematisierungen ist.
2.
Vgl.
dazu etwa Norbert Elias (1976, 1983,
1988, 1990). Vgl. einführend
Reich (1996, Kap. 5).
3.
Vgl.
Reich (1996, Kap. 11), wo am Beispiel
von John Dewey diskutiert wird, weshalb
z.B. moderne Didaktiken als Supermarkt-
oder Wühltischdidaktiken erscheinen.
4.
Nehmen
wir diesen letzteren Punkt, dann erweist
sich ein Studium als ein "symbolisches
Kapital". Vgl. weiterführend
etwa Bourdieu (1979, 335 ff.; 1987,
bes. 500 ff.).
5.
Einen
guten Einführungstext in diesen
Zusammenhang des Denkens bietet Mcpherson
(1973), der die ersten Theorien des
bürgerlichen Besitzindividualismus
prägnant herausarbeitet.
6.
Vgl. hierzu
insbesondere Nietzsches "Genealogie
der Moral".
7.
Zu
den Begriffen des Imaginären und
Symbolischen vgl. Reich (1996, Kapitel
4).
8.
Aufgestellt
wurde sie von einem Klassiker der
Pädagogik: Rousseau. Vgl. daz
9.
So
z.B. als Einführung Blankertz
(1982). Aber Einführungen, dies
ist zu bedenken, sind immer schon
ein Konstrukt jener Beobachter, die
sie entwerfen. Eigene Blicke in originäre
Theorien scheinen mir unerläßlich
zu sein, wenn die Oberflächlichkeit
des Schauens durch tieferes Verständnis
ersetzt werden soll. Dann wird auch
klarer, daß Konstrukte der Vergangenheit
meist vielschichtiger als unsere modernen
Zusammenfassungen sind.
10.
"
Der respektlose Therapeut unterminiert
ständig die Muster und Geschichten,
die Familien einengen, fördert
Ungewißheit und gibt dadurch
dem Klientensystem Gelegenheit, neue
Werte, Bedeutungen und weniger restriktive
Muster zu entwickeln." (Cecchin
1993, 25) Der Übersetzer hat
»irreverence« mit »Respektlosigkeit«
übersetzt. Ich bevorzuge die
Wortneuschöpfung »irreferent«.
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