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Kersten
Reich
last update:
31.08.2007 15:34
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...daß
nie wieder Auschwitz sei!
Gedanken über ein dekonstruktivistisches
Erziehungsziel (1)
(133 KB) |
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Prof.
Dr. Kersten Reich |
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Einleitung |
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In
der konstruktivistisch orientierten
Literatur wird meist sehr breit auf
die Relativität der Wahrheit
von Beobachtern eingegangen, es wird
betont, daß wir die Konstruktionen
von Wirklichkeiten immer abhängig
von den Systemen, für deren Beobachtung
sich Beobachter entscheiden, sehen
müssen. Aber in der systemisch-konstruktivistischen
Pädagogik (Reich 1996, insb.
Kapitel 5) habe ich herausgestellt,
daß die Beobachter sich mit
dieser neuen Erkenntnistheorie nicht
einfach eine neue und bloß ihnen
gemäße Welt erfinden können.
Das Normenproblem, das sich in allen
Beobachterperspektiven stellt, gilt
auch für den Konstruktivisten.
Wann immer ich beobachte, so komme
ich ohne eine gewisse Normierung dieser
Beobachtung, in die Traditionen, Konventionen,
Sozialisationseffekte usw. eindringen,
nicht aus. Ich kann zwar Fehler einer
zu engen oder immer gleich fixierten
Beobachtung auszuschließen versuchen,
aber ich kann nicht ausschließen,
daß ich auch als Konstruktivist
mich gegenüber unterschiedlichen
Welt- und Lebensfragen spezifisch
normativ verhalte. |
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An
dieser Stelle schätzen wir im
interaktionistischen Konstruktivismus
deshalb die Dekonstruktion sehr hoch.
Mittels der Dekonstruktion können
Beobachters ich klarer auch im Blick
auf eigene Normsetzungen verhalten,
indem sie diese systematisch zu hinterfragen
lernen. Solche Hinterfragung sollte
nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall
sein. |
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Eine
kritische dekonstruktivistische Sicht
ist aber gewiß nicht nur bei
den eigenen Konstruktionen angebracht,
sondern vor allem dort notwendig,
wo gesellschaftliche Strukturen rekonstruktiv
in unsere Konstruktionsmöglichkeiten
eingreifen. Wenn Konstruktivisten
an dieser Stelle blind bleiben oder
sich nur in allgemeinen Statements
äußern, ohne konkrete Dekonstruktionen
durchzuführen, dann wird ihr
Ansatz im Blick auf Gesellschafts-
und Alltagsprobleme nichtssagend und
insbesondere für die Pädagogik
unbrauchbar. |
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Ein
exemplarisches Beispiel soll eine
solche Dekonstruktion im Blick auf
Normenfragen illustrieren helfen.
Es ist kein zufälliges Beispiel,
sondern ein systematisch notwendiges.
Und als ein solches bezeichnet es
ein dekonstruktivistisches Erziehungsziel,
das uns als Konstruktivisten nicht
vor die Möglichkeit unzähliger
Erfindungen stellt, sondern durchaus
klare normative Aussagen verlangt.
Dies wird zwangsläufig auch bei
anderen Fragen geschehen, in denen
Gewalt, ungleiche Macht, Verletzung
von Menschenrechten, Rassismus, Sündenbocktheorien
usw. als Normen in einer Kultur uns
konstruktivistisch zwingen, dekonstruktivistisch
Stellung zu beziehen. Wenn wir uns
die Frage stellen, warum gerade konstruktivistische
Autoren bisher sehr wenig zu solchen
gesellschaftlichen Fragen Stellung
nehmen, so erkennen wir, daß
der Konstruktivismus als eine relativierende
Wahrheitstheorie auch eine Schwachstelle
enthält: Man kann sich aus dieser
relativierenden Position schnell zurückziehen
und die Welt- und Alltagsprobleme
von einer höheren, bloß
noch verstehenden Warte aus betrachten.
Dann wird man zum Erkenntnisskeptiker
oder Solipsisten, beides Positionen,
die für Pädagogen nicht
sonderlich taugen. Als Pädagogen,
die in Beziehungen stehen, die in
einer Gesellschaft wirken, müssen
wir stets mit normativen Problemen
umgehen. Dabei können wir selbst
nicht frei von Normensetzungen bleiben.
Aber, dies mag uns konstruktivistisch
gesehen von anderen unterscheiden,
wir wollen uns dabei bemühen,
durchaus unterschiedliche Blickwinkel
einzunehmen und unsere Beobachterpositionen
als eine Möglichkeit von Beobachtung
darlegen. |
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Auschwitz
markiert dabei für mich ein zentrales
Exemplum für ein dekonstruktivistisches
Erziehungsziel. Wir dekonstruieren
dabei gesellschaftliche Normen und
setzen ihnen eigene entgegen. Dies
meint, daß wir nicht bloß
historische Vorgänge betrachten,
die wir rekonstruieren. Dies reicht
bei Normenfragen nicht aus. Wir müssen
uns in unserer Beschäftigung
auch fragen und entscheiden, was wir
daraus als menschlich wünschenswerte
Entwicklung akzeptieren oder scharf
verurteilen wollen. |
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Mit
dem Namen Auschwitz verbindet sich
ein großer Schrecken, ein Unsagbares,
das besonders für die deutsche
Pädagogik zu einer Herausforderung
wurde. Theodor W. Adorno formulierte
in einem Vortrag unter dem Titel "Erziehung
nach Auschwitz" dabei Aussagen,
die Zustimmung oder Ablehnung gefunden
haben. In der Pädagogik nach
1945 stießen sie aber auch auf
eine große Ignoranz, denn die
Erziehungswissenschaft hat sich bisher
eher zögernd mit ihrer eigenen
Vergangenheit auseinandergesetzt.
Aber dies ist schon ein Werturteilsstreit
in der Erziehungswissenschaft selbst,
und viele Pädagogen bestreiten
- aus mir schwer nachvollziehbaren
Gründen - die These von einer
Kontinuität pädagogischer
Normen, die aus der Nazidiktatur in
die demokratische Entwicklung übernommen
wurden. Es ist gerade mir schwer verständlich,
weil ich zu einer Generation gehöre,
die sowohl mit zahlreichen ehemaligen
Nazipädagogen in der Schule konfrontiert
war, als auch mit einer Pädagogik
in Westdeutschland, in der die Beteiligung
z.B. führender geisteswissenschaftlicher
Pädagogen während der Nazizeit
stets heruntergespielt wurde. Deshalb
halte ich Adornos Aussagen gerade
für die Pädagogik für
treffend: "Die Forderung, daß
Auschwitz nicht noch einmal sei, ist
die allererste an Erziehung. Sie geht
so sehr jeglicher anderen voran, daß
ich weder glaube, sie begründen
müssen noch zu sollen. Ich kann
nicht verstehen, daß man mit
ihr bis heute sich so wenig sich abgegeben
hat. Sie zu begründen hätte
etwas Ungeheuerliches angesichts des
Ungeheuerlichen, das sich zutrug.
Daß man aber die Forderung und
was sie an Fragen aufwirft, so wenig
sich bewußt macht, zeigt, daß
das Ungeheuerliche nicht in die Menschen
eingedrungen ist, Symptom dessen,
daß die Möglichkeit der
Wiederholung, was den Bewußtseins-
und Unbewußtseinsstand der Menschen
anbelangt, fortbesteht." (Adorno
1977, 674) |
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Angesichts
der Tatsache, daß wir gerade
in der sogenannten Zivilisation immer
wieder mit barbarischem Verhalten
konfrontiert sind, daß besonders
in Kriegszuständen und bei wirtschaftlichen
Notlagen oder Rezessionen immer wieder
nach Sündenböcken gesucht
wird, sollte man meinen, daß
Adornos Forderungen viel Gehör
gefunden haben müßten.
Aber dies geschah ungleich weniger
und offensichtlich unbedeutender,
als es nötig gewesen wäre,
wie die jüngste deutsche Geschichte
belegt. Nicht nur, daß sich
nach dem Hitler-Faschismus immer wieder
rechtsextreme Organisationen in der
BRD einen Raum behaupten konnten,
die politische Diskussion blieb auch
vielfach blind gegenüber jenen
rechten Ideologien, die in den 90er
Jahren für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit
und Terror von rechts verantwortlich
wurden. WennPeukert Anfang der 90er
Jahre noch fragte und zu verteidigen
suchte, inwieweit Auschwitz als epochales
Ereignis zu begreifen sei, und daß
es in einer multikulturellen Gesellschaft
zunehmend darauf ankommen werde, "auf
einem neuen Niveau und mit neuer Bewußtheit
kommunikative Verhältnisse zu
rekonstruieren, die Individuen stärken
und widerstandsfähig gegen totalitäre
Vereinnahmungen machen" (1991,
136), dann scheint gerade hier auch
ein Versagen jener gesellschaftlichen
Kräfte angesagt zu sein, die
solche Phänomene einerseits bedauern,
ohne ihnen andererseits entschieden
genug konstruktiv entgegenzutreten.
Dies ist kein deutsches Problem, sondern
charakterisiert den heiklen Balanceweg
vieler Völker und der Völkergemeinschaft
im 20. Jahrhundert, weil die gegensätzlichen
Interessenlagen der Menschen und ihre
Triebnatur (2) sich stärker in den historischen
Prozeß einbringen, als dies
aus der verallgemeinerten Sicht von
wünschenswerten menschlichen
Zielsetzungen erscheint. |
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Es
gibt viele Wege, den Sinn von Adornos
Satz näher aufzuspüren und
auf unsere Zeit zu beziehen. Eine
dunkle Stelle, ich habe sie zuvor
schon angedeutet, ist gewiß
die - zunächst unzureichende
- Diskussion über die Beteiligung
der deutschen Erziehungswissenschaft
während des Faschismus und nach
1945, weil sie zu zeigen vermag, daß
der Grundsatz, den Adorno aufstellte,
eigentlich an der Disziplin, in die
wir hier einführen wollen, ziemlich
vorbei ging. Die deutsche Erziehungswissenschaft
hat sich sowohl der Masse als auch
der Qualität der Untersuchungen
nach der Aufgabe entzogen, bereits
in den 50er oder 60er Jahren mit der
eigenen Vergangenheit umfassend im
Sinne kritischer Rekonstruktion oder
Dekonstruktion abzurechnen. Ja, die
Abrechnungen sind bis heute Stückwerk
geblieben. Aber auch die Schulpolitik
wollte die Lehrpläne wenig mit
den Altlasten beschweren, was eigentümliche
Verdrängungsleistungen förderte
und bis in die Zukunft fördern
wird. |
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Aus
den vielen möglichen Wegen des
Aufspürens will ich hier einen
auswählen, der mir besonders
geeignet erscheint, das Ausmaß
und die Wirkungen von Auschwitz zu
begreifen. Ich wähle einen biographischen
Zugang, wobei mir Wissenschaftler,
die selbst im Lager waren und den
Kommandanten von Auschwitz persönlich
kannten, helfen werden, zu einer Interpretation
zu kommen, die ich allein - als nicht
an den Vorkommnissen Beteiligter -
schwerlich so hätte finden können. (3) Bruno
Bettelheim und Ernst Federn, zwei
Psychoanalytiker, die ihren Lageraufenthalt
umfassend reflektierten, werden mir
helfen, sowohl die Beobachterstandpunkte
als auch die Beziehungsfragen zu präzisieren,
die sich dekonstruktivistisch als
Sinnfrage einer Erziehung nach Auschwitz
stellen. Dies schließt ein,
daß wir uns rekonstruktiv damit
auseinandersetzen, was Konzentrationslager
waren und was sie aus den Menschen
in ihnen machten. Und es stellt uns
konstruktiv vor die Frage, daß
wir dies nicht nur aus einer Perspektive
des Lernens einer gewesenen Wirklichkeit
von Auschwitz oder anderen Orten für
uns wahrnehmen, sondern Konstrukte
dafür gewinnen, daß nie
wieder Auschwitz sei. Warum dies aber
vor allem eine Aufgabe der Dekonstruktion
ist, das soll sich im nachfolgenden
Gedankengang selbst enthüllen.
Er baut sich folgendermaßen
auf: |
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Zunächst
will ich aus der Sicht der Augenzeugen (4) rekonstruieren, was eine Extremsituation
ist und was diese für eine Betrachtung
ihrer Inhalts- und Beziehungsseite
bedeutet. Dies führt dann zu
notwendigen Konkretisierungen: Die
Opfer erscheinen, wie sie aus ihrer
distanzierenden Beobachterposition
den Terror erlebten. Ein exemplarischer
Täter - Rudolf Höss, der
Kommandant von Auschwitz - wird rekonstruktiv
vor Augen geführt, um dann beide
Betrachtungsweisen zu einer systemischen
Sicht über Wechselbeziehungen
zwischen Opfern und Tätern zu
verbinden. Hier zeigt es sich, daß
die Augenzeugen Bettelheim und Federn
zu sehr subtilen Überlegungen
gelangten, die aufgrund ihrer klaren
psychoanalytischen Einbindung entmoralisierend
wirken und damit überhaupt erst
ein systemisches Schauen gestatten.
Schließlich wird auf Überlebende
geblickt, um die Rekonstruktion nicht
an der falschen Stelle, einer Historisierung
ohne Bedeutung für die Gegenwart,
abzubrechen. Auch uns als »Überlebende«
in einem anderen Wortsinne stellt
sich eine Aufgabe, die ich als dekonstruktiv
herausarbeiten will. |
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1.
Zur Inhalts- und Beziehungsseite extremer
Situationen |
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Wer
sich mit Dämonen- und Geisterwelten
beschäftigt, die die Menschheit
vor allem in früherer Zeit in
Angst und Schrecken zu versetzen imstande
waren, der weiß, daß bereits
die Namensgebung eine erste Distanzierungsform
des Schreckens - meist des durch Menschen
(ein)gebildeten - war. Neben den imaginären
Schrecken hat die Menschheit aber
auch immer reale Schrecken, die von
Menschen verursacht wurden, hervorgebracht.
Für beide Arten finden wir Namen,
um etwas für uns Furchtbares,
vielfach Unbegreifliches auszudrücken.
Bereits die Wiedergabe des Namens
oder Begriffes, den wir finden, ersetzt
uns das unheimliche oder bedrückende
Gefühl, das wir empfinden. Hier
geschieht etwas Eigentümliches:
Wir wechseln von der Beziehungsseite
auf die Inhaltsseite. Wenn wir heute
den Begriff Holocaust für die
Schrecken der Naziherrschaft benutzen,
"nehmen wir das Ereignis intellektuell,
denn die ungeschminkte Wirklichkeit
würde uns emotional überrollen"
(Bettelheim 1990 a, 103). Es ist eine
sprachliche Umschreibung, die nicht
einmal stimmig ist, weil der Begriff
Holocaust ursprünglich Brandopfer
bedeutet und in der Sprache der Psalmisten
alte Rituale von tiefer religiöser
Natur bezeichnet. Diesen Begriff auf
die Opfer des Massenmordes zu übertragen,
erscheint Bettelheim als äußerst
problematisch, obgleich er es in seinen
Arbeiten auch tut. Aber wie sollte
auch ein Begriff angemessen sein?
In den Nürnberger Prozessen war
technisch kühl von Genozid die
Rede. Auch der Begriff Konzentrationslager,
so belastet er uns erscheinen mag,
verharmlost die eigentlichen Tragödien
des KZ: Ausrottung, Vernichtung, Tod,
Massenmord. |
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Ein
Mensch verfügt im Normalfall
nach Bettelheim über persönliche
wie auch soziale Schutz- und Abwehrmechanismen,
um starken Belastungen, die durch
Fremdzwänge, durch äußere
Gewalt von anderen Menschen, durch
seelischen Streß in Not- und
Entbehrungssituationen verursacht
sind, gewachsen zu sein. Allerdings
können solche Schutz- und Abwehrmechanismen
zusammenbrechen, wenn der äußere
oder innere Druck zu stark wird (vgl.
ebd., 19 f.). Bettelheim selbst war
einer solchen Belastungsprobe ausgesetzt.
Er war von 1938 bis 39 Gefangener
in den Konzentrationslagern Dachau
und Buchenwald und ist nur mit Glück
der Vernichtung entgangen. In solchen
Situationen äußeren Drucks
ist es schon schlimm genug, wenn das
Vertrauen in Mitmenschen und die Gesellschaft
sich als Illusion erweist und zusammenbricht.
Katastrophal ist die Situation des
dabei erfundenen Verlassenseins und
die Erfahrung eines unmittelbar bevorstehenden
Todes, der keine natürliche Ursache
kennt. Der gleichzeitige Zusammenbruch
der Schutz- und Abwehrmechanismen,
"die gegen die Angst vor dem
Tod errichtet worden sind", bringt
den Menschen in eine Lage, die Bettelheim
"Extremsituation" nennt
(ebd., 20). Die Extremsituation wird
in Beziehungen erfahren, wir aber
distanzieren sie, indem wir inhaltlich
mit ihnen umgehen. Wie jedoch sollen
wir empfinden können, was in
diesen Beziehungen geschah, wenn wir
nur unsere Imagination strapazieren
können, um uns über Inhalte
- wie z.B. die hier geäußerten
- solchen extremen Situationen annähern
zu können? |
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So
bemerken wir gleich zu Beginn unserer
Beschäftigung mit der Extremsituation
- dies ist auch nur ein künstlicher
und rationalisierender Begriff - unsere
Sprachlosigkeit, die wir überwinden,
um uns mittels der Distanz von Sprache
einen Rest zu bewahren und zu reflektieren,
der in der Einzigartigkeit eines jeden
Schicksals aufgehoben ist. Bettelheim
ist sich dieser Problematik bewußt.
So hielt er es für eine sinnvolle
Erinnerung, die Namen der Opfer in
ein Mahnmal einzumeißeln, statt
ihrer bloß in Feierstunden allgemein
zu gedenken. Der Name bleibt hier
als eine nüchterne Spur der Biographie
- auch wenn dadurch nichts wieder
gut wird. Die Masse der Namen eines
solchen Mahnmals dekonstruiert einen
bloß allgemeinen Bezug auf den
Holocaust, denn wenn das Allgemeine
zu allgemein bleibt - hier der individuellen
Namen beraubt wird -, dann fällt
es uns schwer, noch begreifen zu können,
welche Ungeheuerlichkeiten sich hinter
diesem Allgemeinen in ihrer Besonderung,
in ihrer Individualität verbergen.
Es entspricht dies der Unfähigkeit
des Menschen, in seinem Alltag auf
grausame Ereignisse zu reagieren,
wenn sie ihm massenhaft vorgeführt
werden. Sterben Millionen an Hunger,
so sagt uns das wenig. Sehen wir den
Einzelfall eines tragischen Unglücks,
dann werden unsere Sympathien geweckt
(ebd., 268). So mögen uns Millionen
von Namen in den Mahnmalen unserer
Städte mehr erschrecken als Sonntagsreden
über ein allgemeines Elend. |
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Aber
zugleich distanzieren wir solche Mahnungen,
weil sie uns im Verdrängungsprozeß
- und muß man nicht jeden Schrecken
irgendwie verdrängen, um sich
eine aufsteigende Angst zu nehmen?
- verunsichern. Wir reden von historischen
Ereignissen. Vielleicht ist es uns
auch unbegreiflich, was geschah. |
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Nun
sind Extremsituationen aber keine
historischen Ereignisse. Der Versuch
der SS in den Vernichtungslagern,
den Häftlingen jegliche Autonomie
zu nehmen, um ihre Persönlichkeit
aufzulösen, ihre Schutz- und
Abwehrmechanismen zu zerstören,
sie damit ihrer Individualität
zu berauben, war besonders erschreckend
und in einem bisher unbekannten Umfang
durchgeführt. Aber dies war weder
der erste noch der letzte Versuch
in der Menschheitsgeschichte. Politische
Systeme, die aufgrund ihrer totalitären
Struktur auf Fremdzwänge als
Motor der Selbstzwänge der Menschen
vertrauen müssen, benötigen
den Schrecken für bestimmte Gruppen,
um die Angst vieler zu schüren
und die Macht damit zu kontrollieren.
Bettelheim war überzeugt, daß
der Terror von Konzentrationslagern
ein inhärentes Potential von
technologisch ausgerichteten und totalitär
orientierten Massengesellschaften
sei, dem nur die Tendenz von Menschen
entgegenwirken könne, moralische
Skrupel aus eigenen Autonomiebestrebungen
zu verwirklichen (vgl. ebd., 49 f.).
Damit aber setzt er eine konstruktivistische
Forderung: Es reicht nicht aus, das
Elend der KZs bloß rekonstruktiv
inhaltlich zu erinnern, sondern es
wird zur Ausgangsbasis einer Erziehung,
daß nie wieder Auschwitz sei,
eine Autonomie von Menschen und eine
entsprechende Moral zu konstruieren,
die uns auf der Beziehungsseite vor
solchen Extremen schützt. |
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2.
Opfer: Zerstörung der Persönlichkeit
oder Bewahrung der Selbstachtung? |
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Eine
Rekonstruktion dessen, was geschah,
ist bereits ein Akt der Distanzierung.
Die Beobachter werden in eine Versachlichung
gedrängt, indem sie berichten.
Die gilt auch für Bruno Bettelheim
und Ernst Federn. |
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Beide
Autoren beschreiben sich in ihrer
Beobachterposition, die ihnen ihre
psychoanalytische Vorbildung ermöglichte.
Bettelheim bezweifelte zwar, daß
die Psychoanalyse ihm irgendwie direkt
zum Überleben half, aber er benutzte
sie, um sich der Beobachtung des Verhaltens
der Mitgefangenen und der SS-Wachen
sicherer zu werden, seine Selbstachtung
durch kritische, rationalisierende
Distanz zu bewahren. Federn wurde
durch seinen siebenjährigen Lageraufenthalt
sehr bestärkt, daß die
Psychoanalyse - neben einer gesellschaftskritischen
Sicht (5) - hilft, die Abgründe
der menschlichen Seele besser zu verstehen
und sich selbst in der Beobachterposition
zu reflektieren. Beide jedoch waren
eben nicht nur Beobachter - wie ihre
Rolle uns als Leser ihrer Berichte
erscheinen mag -, sondern auch Beteiligte,
Betroffene, Gequälte. Das Niederschreiben
hatte für sie den Effekt der
Abarbeitung, der gedanklichen Wiederholung
von Wunden und der Bearbeitung, damit
einer reflektierten Auseinandersetzung.
Daß beide in dieser Auseinandersetzung
vor allem die Versachlichung der Rollen
von Opfern und Tätern intendieren,
steht für die hohe Qualität
dieser Bearbeitung. So, wie Abweichungen
vom scheinbar Normalen in der Psychoanalyse
nicht moralisiert werden, so besteht
der Versuch einer versachlichten Beschreibung
von Extremsituationen darin, die agierenden
Personen und ihre Interaktion und
Kommunikation so herauszuarbeiten,
daß die einzelnen, unterschiedlichen
Motive von Handlungen und die Bedeutung
ihrer Wechselwirkung stärker
hervortreten. Eine solche entmoralisierende
Haltung ist allerdings nicht moralfrei.
Bettelheim leitet aus ihr die Notwendigkeit
ab, gegen die Masse, gegen totalitäre
Umgebungen und für mehr Ich-Autonomie
zu streiten, damit nie wieder Auschwitz
sei. Federn sieht, daß der Mensch
eine besonders bösartige Spezies
sein kann, daß man dabei aber
auch erkennen muß, daß
er "Fähigkeiten besitzt,
seine »Bestialität«
zu überwinden und die ursprünglichen
Triebe zu kulturvollem Tun umzugestalten."
(Federn 1989, 54) Nur wenn der Mensch
mehr von sich weiß, wird er
sich nach Federn durch Kultur vor
der Barbarei bewahren können. |
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Fassen
wir die Beobachtungen der Mittel des
Terrors nach Bettelheim und Federn
zusammen, dann ergibt sich eine schauerliche
Klassifizierung. In Extremsituationen
erscheinen physische und psychische
Mittel des Terrors. Zu den physischen
zählt Federn (ebd., 54 ff.) vor
allem Gewaltanwendung, die dem Täter
Lust bereiten kann, weil er hierdurch
seinen Sadismus oder seine Eigenliebe
bestätigt, um sich überlegen
fühlen zu können. Ganz gleich
ob diese Gewalt persönlich nach
der Art des Faustrechts oder institutionell
abgesichert abläuft, sie ist
für das Opfer stets traumatisierend.
Ihre einfachste Form ist körperlicher
Schmerz. Die subtilsten Foltern müssen
nicht mehr schmerzen als einfache
Torturen, unerträglich werden
sie meist im Zusammenwirken mit psychischen
Qualen. Ein gefesselter und geknebelter
Gefangener empfindet den Schmerz stärker,
und wenn der Schmerz unerträglich
wird, folgt ein dem Wahnsinn ähnlicher
Anfall, wobei der Gefangene seine
Selbstbeherrschung verliert (urinieren
und einkoten sind oft die Folge).
Werden Schmerzen immer wieder gleich
zugefügt, so kann man abstumpfen,
aber meist ist die Angst vor den Schmerzen,
die bei jeder Tortur eingesetzt werden,
schwerer zu ertragen als der Schmerz
selbst. Die Schmerzabwehr wird zwar
bei jedem Gequälten hervorgerufen,
aber bei zu langen Qualen und nach
einer gewissen individuell unterschiedlichen
Dauer erlischt sie mehr und mehr.
Dann sind die Gequälten stark
selbstmordgefährdet. Neben Schmerzen
sind Durst und Hunger Foltermittel,
die rasch zum Zerfall führen
können. Durst schwächt sehr
schnell alle Energien. Hunger erzeugt
ähnlich wie Schmerz eine große
Abwehrarbeit, die sich darin ausdrückt,
daß in den Lagern dauernd vom
Essen gesprochen und darüber
phantasiert wurde. Sexualnot ist ein
weiteres Terrormittel, wobei auffällig
war, daß über sie viel
weniger differenziert gehandelt wurde
als über den Hunger. Unterernährung
und Überanstrengung bei der Arbeit
spielen ebenfalls eine große
Rolle. Hunger demoralisiert, aber
die Wirkungen der Folter sind in aller
Regel stärker. Ungewohnte Arbeit,
die mit Schmerzen und Überanstrengung
verbunden ist, kann auch als Qual
eingesetzt werden. Unerträglich
ist auch auferlegte Untätigkeit
im Wechsel mit dem Terror ungewohnter,
harter Arbeit, besonders wenn diese
für sinnlose Tätigkeiten
verausgabt wird. Ein gesunder Körper,
besonders Magen und Beine, sind die
beste Überlebenschance, wenn
der Wille nur stark genug war, gegen
die Regression anzukämpfen, von
der gleich noch ausführlich gesprochen
werden soll. |
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Die
psychischen Qualen beginnen mit dem
Freiheitsentzug, dem äußeren
Druck, der in innere Zwänge verwandelt
wird, wobei es dem Ich schwer fällt,
nach und nach zu erkennen, wo sein
eigener Willensspielraum noch liegt.
Der Freiheitsentzug, der verschiedene
Grade und Qualitäten kennt, wird
ergänzt durch Demütigungen
und Kränkungen, weil das Ich
in eine Lage versetzt wird, in der
es sich - auch wenn es körperlich
dies vielleicht könnte oder sein
Gefühl danach verlangt - nicht
wehren darf, wenn es überleben
will. Die Ungewißheit der Situation
und Unvoraussagbarkeit der Zukunft
erzeugen starke psychische Zweifel,
die dem Ich die Kontinuität seiner
Werte und vertrauten Muster berauben.
Die Wiederholung als gewohnt und vertraut
angesehener Gefühle wird genommen,
was selbst jene Charaktere, die in
der Freiheit das Abenteuer liebten,
an sich verzweifeln läßt.
Nur der Tod ist sicher, aber dieser
droht in unterschiedlichen qualvollen
Arten. Der Leidensdruck wird durch
ständige Verstärkung von
Angstzuständen aufrechterhalten.
Besonders tragisch wirken geweckte
Hoffnungen, die enttäuscht werden.
Ein Freihheitsentzug auf bestimmte
Zeit mag noch als irgendwie begründete,
wenn auch ungerechte Bestrafung empfunden
werden. Ein Freiheitsentzug auf unbestimmte
Zeit, verbunden mit Unsicherheit und
Unvoraussagbarkeit der Zukunft, erscheint
nicht mehr als irgendeine Bestrafung,
sondern als Willkür, als Terror,
macht größte Angst und
läßt allerlei Mutmaßungen
und Gerüchte zu, die der Hoffnung
meist einen irrationalen Ausdruck
verleihen. Wird diese mehrfach enttäuscht,
dann kann die stärkste Abwehr
des Ichs zusammenbrechen. Dies wird
regelmäßig dann erreicht,
wenn es gelingt, ein Individuum moralisch
zu zerbrechen, d.h. gegen seine inneren
Werte handeln zu lassen. Die Zerstörung
jener Instanz, die die Psychoanalyse
Über-Ich nennt, vernichtet das,
was einem Menschen "heilig"
ist; verliert er dies, dann wird er
haltlos, mißachtet sein Selbst.
"Unser Über-Ich ist für
unsere Seele wie ein Rückgrat;
einmal gebrochen, ist ewiges Siechtum
oder Tod die Folge. Jemandem das »Rückgrat
brechen« ist daher ein richtig
gewählter Ausdruck und eines
der vornehmlichsten Ziele eines terroristischen
Regimes." (Federn 1989, 62) (6) |
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Alle
totalitären Gesellschaften kennen
die Anwendung dieser Terrormittel,
die mit Bespitzelung, Verfolgung,
Verdächtigung, Umerziehung, Bedrohung
und anderem mehr einhergehen. (7) |
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Je
mehr Schmerzen zugefügt werden,
desto mehr versucht der gequälte
Mensch, den Zwang abzuwehren. Hierbei
helfen ihm psychische Mechanismen.
Für Federn ist es auffällig,
daß die Schmerzabwehr große
Energien hervorbringen kann - bedingt
durch die Angst vor Qualen -, so daß
das Individuum voll in Anspruch genommen
werden kann und mehr erträgt,
als es von sich selbst dachte. Dabei
können allerdings negative Abwehrleistungen
Oberhand gewinnen, wenn Abwehr gegen
Hunger große Phantasien erzeugt,
die dann in Gewalt gegen Schwächere
umschlagen, oder wenn die Abwehr gegen
die Demütigungen ein verschlagenes
und falsches Selbstbild erzeugt, das
die Psyche vergiftet. Optimistische
Abwehrhaltungen zu entwickeln, ist
unter solchen Umständen schwierig,
es erscheint als wirklichkeitsfern,
obgleich solche Menschen, die im Schlimmsten
noch das Positive sehen, den anderen
viel Mut geben können - bis der
Punkt erreicht ist, wo auch sie verzweifeln.
Pessimisten stellen aus Abwehr alles
schlecht dar, versuchen jedoch möglichst
jedes Unglück zu vermeiden. Aber
dies sind alles nur beobachtende Zuschreibungen,
die verdeutlichen helfen sollen, wie
wichtig die Angstabwehr im Kampf gegen
jeglichen Terror ist. Bettelheim nennt
hierzu an erster Stelle die Bewahrung
der Selbstachtung, einer Ich-Autonomie,
die zugleich für ihn die wesentliche
Voraussetzung im Kampf ums Überleben
im Lager und nach dem Lager ist. |
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Die
ersten Konzentrationslager wurden
von den Nazis im Jahre 1933 eingerichtet.
Die Lager dienten in erster Linie
dem Terror jenen Menschen gegenüber,
die dem Regime Widerstand entgegenbrachten.
Es entstanden im Laufe der Jahre mehrere
Lagertypen, wobei man Arbeitszwangslager,
Terrorlager und reine Vernichtungslager
unterscheiden kann. Dort, wo die Terrorlager
anfangs noch d er Umerziehung von
Regimegegnern und Vernichtung von
Personen dienten, die sich der Zerstörung
ihrer Persönlichkleit widersetzten,
entstanden ab 1942 vielfach reine
Vernichtungslager. Ein Teil der Lagerinsassen
überlebte nur, weil die Ausbeutung
von Arbeitskräften im Sinne der
Sklaverei bis zum Ende des Krieges
immer auch eine Funktion behielt. (8) Bettelheim unterteilt das Lagerschicksal,
das sich für seine Erfahrungen
als Terror und Umerziehungsversuch
darstellte, in zwei Phasen, die durch
mehrere Unterphasen charakterisiert
sind: |
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a.)
die Phase des Schocks der ersten Gefangennahme,
des Transports und der ersten Anpassung;
hier wurden die physischen und psychischen
Weichen gestellt, ob man die erste
Zeit im Lager überlebte; |
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b.)
die Phase der langfristigen Anpassung
an das Lagerleben, denn niemand wußte
zu sagen, wie lange er bleiben mußte.(9) |
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Er
macht für die unterschiedlichen
Gruppen, die in die Lager kamen, deutlich,
welche Terrormaßnahmen dazu
führten, daß die Persönlichkeit
bis an die Grenze ihrer Zerstörung
oder zur tatsächlichen Vernichtung
geführt wurde. Dabei sind es
physische und psychische Maßnahmen
des Terrors (10),
mit denen die Häftlinge konfrontiert
waren. Grundlegend war immer die Traumatisierung,
die die SS-Wachen in allen unmenschlichen
Formen auslösten. Dahinter stand
der einheitliche Zweck der Zerstörung
der Persönlichkeit. Dies wurde
vor allem auf drei Wegen angestrebt:
Die erste Methode bestand darin, "die
Häftlinge zu zwingen, sich wie
Kinder zu verhalten. Die zweite zielte
darauf ab, daß die Häftlinge
ihre Individualität aufgeben
und sich in eine amorphe Masse eingliedern
sollten. Die dritte bestand darin,
jedwede Möglichkeit der Selbstbestimmung
zu beseitigen, dem Häftling die
Möglichkeit zu nehmen, die Zukunft
vorherzusagen und sich auf sie vorzubereiten."
(Bettelheim 1989, 144) An einer anderen
Stelle beschreibt Bettelheim, daß
durch die Lager nicht nur der individuelle
Widerstand gebrochen werden sollte,
um eine gefügige Masse zu erzielen,
sondern daß dies auch und zugleich
unter der Bevölkerung Terror
verbreiten sollte, um politische Macht
zu demonstrieren. Für die Nazis
selbst waren die Konzentrationslager
zugleich Exerzierplatz und Versuchslabor
für ihre menschenverachtenden
Strategien und Handlungen (vgl. Bettelheim
1990 a, 59 f.). |
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Unterschiede
zwischen alten und neuen Häftlingen
halfen Bettelheim, Wandlungsprozesse
in der Anpassung an die Fremdzwänge
des Lagers und ihre Verinnerlichung
in Selbstzwänge zu bemerken.
Dabei war es für ihn besonders
auffällig, daß diejenigen,
die ein festes Welt- oder Glaubensbild
mitbrachten, eher mit der Situation
auskamen als jene, denen schon die
Verhaftung und ihr individuelles Schicksal
unklar blieben, weil sie die politischen
Beweg- und Abgründe des neuen
Systems nicht durchschauten. Jene
stellten für das Feindbild der
Wachen eine besondere Bedrohung dar,
da allein schon die Frage nach der
Ursache einer Verhaftung oder Qual
von der SS abgewehrt werden mußte,
um das Bild von Kriminellen, vom Abschaum
der Menschheit und ähnlichen
Zuschreibungen sich selbst aufrecht
zu erhalten. Man brauchte Glück,
um zu überleben. Wer der persönlichen
Laune eines Sadisten und pathologischen
Mörders ausgesetzt war, der hatte
kaum einen Verhaltensspielraum. Grundsätzlich
aber hing das Überleben in erster
Linie davon ab, den eigenen Lebenswillen
zu aktivieren. Eine gute körperliche
Verfassung war angesichts der Unterernährung,
harter Arbeit, vielerlei unsäglicher
Quälereien und Strafen die Grundlage
für den Überlebenskampf.
Entscheidend aber war, sich selbst
in der Freiheit seiner Entscheidungen
zu behaupten, um die Qualen zu überstehen.
Bettelheim beschreibt immer wiederkehrend
diesen Existenzkampf, der schon damit
beginnt, sich frei dafür zu entscheiden,
widerliche Nahrung zu sich zu nehmen,
sich dem Zwang einer willkürlichen
Ordnung zu unterwerfen, die die grundlegendsten
Bedürfnisse - wie den Gang zur
Latrine - durchgehend schikaniert,
sich der Sexualnot zu stellen, ohne
in der Angst um die eigene Potenz
zu verzweifeln, sich der Unsicherheit
der Zukunft so auszusetzen, daß
der eigene Wille den Körper immer
noch beherrscht. Es mag paradox erscheinen,
hier überhaupt noch von freien
Handlungen zu sprechen, aber Bettelheim
betont dies ausdrücklich (Bettelheim
1989, 163). Sich zum Essen zu zwingen,
dies resultiert aus inneren Werten,
die den Respekt vor der eigenen Person
bewahren, die Aktivität ausdrücken.
Hingegen Verrat an Kameraden zu begehen,
um sich irgendwelche Vorteile zu verschaffen,
folgt den Zwängen der SS und
nicht der eigenen Werthaltung - schwächt
mithin nicht nur die notwendige Kameradschaft
im Überlebenskampf, sondern auch
die Selbstbehauptung der eigenen Persönlichkeit.
Sich dem Elend passiv hinzugeben,
erspart den Mördern auch noch
die Kugel, deren Wert sie immer vor
den Gefangenen behaupteten (11),
denn Selbstmord war für die Wachen
die bequemste Lösung. Sehr viele
Häftlinge gaben ihren Lebenswillen
auf. Sie wurden als Muselmänner (12),
als wandelnde Leichen bezeichnet,
die sich ergeben in ihr Schicksal
fügten, indem sie ihre Selbständigkeit
aufgaben. Sie standen jenen Häftlingen
als ständige Gefahr vor Augen,
die Selbstachtung zu verlieren, obgleich
doch ein jeder ihnen schnell ähnlich
werden konnte, denn die letzte menschliche
Freiheit riskierte offensichtlich
das eigene Leben im Aufbäumen
gegen die Schikanen der SS. |
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Es
erhebt sich hier die Frage, warum
Millionen in den Tod gingen, ohne
sich gegen die Mörder hinreichend
zu wehren. Bettelheim erfragt dies
auf mehreren Ebenen: Warum gab es
nicht schon Widerstand bei der Verhaftung?
Waren die Hoffnungen zu groß,
einen Irrtum zu unterstellen? Hatte
man die schon vorliegenden Berichte
unterschätzt? (13) Warum gingen mehrere Hundert
Gefangene neben wenigen Wachen einher,
ohne diese zu überwältigen?
War dies eine Angst vor dem unmittelbaren
Tod, wo der mögliche Tod noch
verdrängt in der Ferne lag? Warum
gab es nur wenige Versuche, die Mörder
direkt an der Stelle des Mordes -
den eigenen Tod direkt vor Augen -
zu beseitigen? |
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Immerhin
gab es Widerstand. So etwa das 12.
Sonderkommando, Häftlinge, die
in den Gaskammern arbeiteten und wußten,
daß sie die nächsten Todeskandidaten
sein würden. Sie töteten
70 SS-Leute. Oder das Beispiel einer
Tänzerin, die vor der Gaskammer
tanzen mußte und sich dabei
der Waffe eines SS-Mannes bemächtigen
konnte und ihn tötete. Sie alle
fanden daraufhin den Tod, der sie
ohnehin erwartete. Aber wenn Millionen
im Widerstand gehandelt hätten,
wären die Lager dann nicht gescheitert? |
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Diese
Fragen werden von Bettelheim immer
wieder radikal in seinem Buch "Aufstand
gegen die Masse" gestellt: "Trotz
den Hunderttausenden von lebendigen
Toten, die sich ruhig auf ihre Gräber
zubewegten, zeigt dieses eine Beispiel
(er spielt hier auf die Tänzerin
an, d.Verf.) - und es gab mehrere
-, daß die alte Persönlichkeit
sofort wieder erlangt werden kann,
daß die Zerstörung der
Persönlichkeit aufgehoben wird,
wenn wir uns selbst dazu entschließen,
nicht mehr Einheiten eines Systems
sein zu wollen."(Bettelheim 1989,
285) |
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Aber
ist dies nicht genau die Falle, die
die Lager so wirksam machte? Sind
wir nicht Zeit unseres Lebens daraufhin
geprägt und erzogen worden, uns
an das System anzupassen, das man
als Umwelt, Kultur oder Zivilisation
bezeichnet? Werden wir nicht wehrlos,
wenn sich dieses in Barbarei verwandelt? (14) Wo wir eben noch distanziert
über Lager, die uns fremd geworden
sind, reden, da spüren wir hier
auf einmal die Aktualität auch
der Forderung Adornos, daß es
unser oberstes Erziehungsziel sein
müsse, daß nie wieder Auschwitz
sei. So denken wir schnell, wenn man
uns die Opfer rekonstruiert. Aber
wie denken die Täter? |
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3.
Täter: Der Kommandant von Auschwitz |
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Rudolf
Höss, der Kommandant von Auschwitz,
hat vor seiner Hinrichtung eine Autobiographie
geschrieben, die uns einen Blick auf
den Täter, in sein Weltbild und
in seine Verdrängungsleistungen
gestattet (vgl. Höss 1992). |
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Höss
war auf dem Land aufgewachsen. Er
war tierlieb, naturverbunden, er schilderte
sich als Einzelgänger, der am
liebsten alleine spielte und unbeobachtet
war. Besondere Auffälligkeiten
zeigte er nicht, außer vielleicht,
daß er einen Hang zum Wasser,
zum ständigen Waschen hatte.
Sein Vater war Kaufmann, er wuchs
im Mittelstand auf. Die größte
Freude war für ihn ein Pony,
das er zum siebten Geburtstag geschenkt
bekommen hatte. Während der Schulzeit
war ihm die Kameradschaft mit gleichaltrigen
Jungen wichtig. |
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Rudolf
Höss war von seiner Familie mit
einer Mission beauftragt. Er schrieb:
"Durch das Gelübde meines
Vaters, wonach ich Geistlicher werden
sollte, stand mein Lebensberuf fest
vorgezeichnet. Meine ganze Erziehung
war darauf abgestellt. Ich wurde von
meinem Vater nach strengen militärischen
Grundsätzen erzogen. Dazu die
tiefreligiöse Atmosphäre
in unserer Familie. Mein Vater war
fanatischer Katholik." (Ebd.,
24) Sein Vater erzählte ihm oft
von seiner Kolonialzeit, in der er
in Ostafrika tätig geworden war.
Für Rudolf Höss stand damals
fest, daß er Missionar werden
wollte, er betete hierfür und
war auch ansonsten tief gläubig.
Als Ministrant nahm er seine religiösen
Pflichten ernst. Dabei wurde folgender
Grundsatz der Erwachsenenwelt für
den Knaben zu einer unerschütterlichen
Leitschnur: "Von meinen Eltern
war ich so erzogen, daß ich
allen Erwachsenen und besonders Älteren
mit Achtung und Ehrerbietung zu begegnen
hätte, ganz gleich aus welchen
Kreisen sie kämen. Ganz besonders
wurde ich immer wieder darauf hingewiesen,
daß ich Wünsche oder Anordnungen
der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw.,
ja aller Erwachsener bis zum Dienstpersonal
unverzüglich durchzuführen
bzw. zu befolgen hätte und mich
durch nichts davon abhalten lassen
dürfe. Was diese sagten, sei
immer richtig." (Ebd., 25) |
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Diese
Mission, die Rudolf Höss auferlegt
wurde, sollte viel Unheil heraufbeschwören. (15) Es war
eine doppelte Botschaft in ihr enthalten,
die der Vater von Höss durch
seine Einstellungen dem Sohn als Vorbild
mit auf den Weg gab: Als fanatischer
Katholik sei dieser gegen die Reichsregierung
gewesen, habe aber zugleich betont,
daß man den Gesetzen der Regierung
- solange sie besteht - immer zu gehorchen
hätte. Pflichtbewußtsein
war für den Vater der Garant
einer Selbstbehauptung, die er seinem
Sohn kleinlichst anerzog. Liebe hingegen
war selbst zwischen den Eltern in
Form des Austauschs von Zärtlichkeiten
unbekannt. Zwar fiel nie ein lautes
Wort, aber Rudolf hatte niemanden,
mit dem er Kummer oder Sorgen teilen
konnte. Er mußte alles mit sich
und seinem Pflichtbewußtsein
abmachen. |
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Wenn
man diesen Text von Höss liest,
dann fragt man sich, inwieweit er
hier bereits Entschuldigungen seines
Handelns beschreibt oder ob dies eben
die Merkmale sind, die sein - aus
heutiger Sicht - unbegreifliches Handeln
erst ermöglichten. Aber es muß
deutlich bleiben, daß seine
Sozialisation in keiner Weise ungewöhnlich,
unzeitgemäß oder gesellschaftlich
abweichend für seine Generation
war. |
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Sein
religiöses Weltbild wurde mit
13 Jahren zutiefst dadurch erschüttert,
daß vom Pfarrer das Beichtgeheimnis
gebrochen wurde. Der Pfarrer hatte
seinem Vater einen gebeichteten Streich
mitgeteilt, was zu einer Bestrafung
führte. Später schrieb Höss,
daß hierdurch seine tiefe, kindliche
Gläubigkeit zerstört worden
sei. Der Vater verstarb wenig später.
Der Erste Weltkrieg brach aus, und
es gelang Rudolf Höss, gegen
den Willen seiner Mutter und das Gebot
des Vaters, als noch nicht 16-jähriger,
ins Militär zu gelangen. Er diente
in einem Regiment, in dem schon Vater
und Großvater gedient hatten
und erfüllte so die militaristische
Mission seiner Familie. |
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Was
die psychische Struktur von Rudolf
Höss anbelangt, so beschreibt
er einige Szenen, die uns helfen,
seinen späteren Werdegang zu
begreifen. Drei Aspekte fallen in
seiner Darstellung deutlich ins Gewicht: |
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a)
Fehlende Zärtlichkeit: Sein
erstes Liebeserlebnis fand in einem
Lazarett im Kriege statt. Er selbst
hatte seinen Trieb bis dahin abgewehrt,
und er wurde von einer deutschen Krankenschwester
gepflegt. Die Schwester sorgte für
ihn, wie es besser seine Mutter nicht
hätte tun können. Aber dies
war nicht durch mütterliche Zuneigung
veranlaßt. Höss schreibt:
"Anfangs verwirrte mich ihr zartes
Streicheln, ihr länger als nötiges
Festhalten und Stützen, da ich
allen Zärtlichkeitsbeweisen seit
meiner frühesten Jugend stets
aus dem Wege gegangen war." (Ebd.,
33) Durch die Aktivität der Frau
kam es dann aber doch zur geschlechtlichen
Vereinigung, die Höss in sein
pflichtbesessenes Weltbild integrierte.
Seit dieser Erfahrung, so sagte er
von sich, konnte er nie "unzüglich"
von der Zartheit des Vorgangs und
der innigen Zuneigung, die dieser
erfordert, sprechen, was ihn vor Bordellen
und Liebeleien bewahrte. Zärtlichkeit
ohne Pflichtbewußtsein, Sexualität
ohne tiefere Liebe - oder das, was
die Konventionen der Gesellschaft
davon halten - war für Höss
unvorstellbar. Damit aber blieben
zärtliche Regungen gegenüber
den ferneren Mitmenschen abgespalten:
Man konnte und durfte nur jene eng
lieben, zu denen man ein Pfhlichtgefühl
und erwartete Nähe aufgebaut
hatte. Ander blieben fremd. So konnte
es geschehen, daß Höss
ein liebender Familienvater wurde,
während er gleichzeitig als Massenmörder
in Auschwitz agierte. |
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b)
Feuertaufen: Es ist ein großer
Schritt von der Fantasie des Kämpfers
hin zum ersten Kampf Auge in Auge,
zum ersten Mord, der hier Bewährung
des Soldaten heißt. (16) Auch Höss hatte hier seine Skrupel,
die gewiß durch sein religiöses
Weltbild mit geprägt waren. Doch
als im Kampf neben ihm die Kameraden
fielen, da packte ihn ein unheimliches
Grauen, das schließlich die
Todesangst freisetzte. Er schrieb:
"Doch dann sah ich in meiner
Verzweiflung plötzlich, wie unser
Rittmeister zwischen uns hinter einem
Felsbrocken lag und mit eiserner Ruhe,
wie auf dem Schießstand, mit
dem Karabiner des neben mir Gefallenen
seine Schüsse abgab." (Ebd.,
30) Dann schoß auch Höss
und sah den ersten Angreifer fallen,
niedergestreckt durch seine Kugel.
Später sprach er mit dem Rittmeister,
der ihn ob seines Verhaltens lobte.
Mit seiner Feuertaufe wurde er erst
richtig in die Gemeinschaft der Soldaten
aufgenommen. Und er verlor seine Skrupel,
die vor der ersten Tötung liegen.
Damit war eine Hemmschwelle genommen,
die sich noch als folgenreich erweisen
sollte. |
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c)
Vatersuche und Untertänigkeit: Über diesen Rittmeister sagte
Höss, daß er sein Soldatenvater
gewesen sei, zu dem er ein innigeres,
zutraulicheres Verhältnis als
zu seinem eigenen Vater hatte finden
können. Dieser Ziehvater war
streng und unnachgiebig, aber immer
um ihn besorgt und stolz auf jede
seiner Beförderungen. Der Soldatenvater
ersetzte ihm zwei Väter: den
realen eigenen Vater, der ihm als
Identifikationsfigur in der Rolle
des Kriegers und Helden allerdings
erhalten blieb, auch wenn er fehlende
Zärtlichkeit beklagen mußte;
und den göttlichen Vater, der
durch die Kirchenvertretung für
Höss sehr an Glaubwürdigkeit
eingebüßt hatte, der für
ihn durch seine Vertreter zu widersprüchlich
war, weil er im Verhalten der Menschen
keine Einheitlichkeit, Eindeutigkeit,
keinen Gehorsam und keine Pflicht
auszuüben imstande war. Zwei
Prinzipien rückten an die Stellen,
die zuvor der eigene und der göttliche
Vater besetzt gehalten hatten: die
soldatische Gemeinschaft, in der sich
Höss beweisen konnte und, um
geliebt zu werden, auch beweisen mußte;
die Führergefolgschaft gegenüber
Vorgesetzten, die als konkrete Väter
fungieren konnten. Höss war der
jüngste Unteroffizier des Heeres,
er wurde mehrfach ausgezeichnet. |
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Diese
drei Aspekte seiner psychischen Struktur
bedingten, daß Höss nach
dem Kriege wie verloren war. Für
Zärtlichkeiten und die Gründung
einer Familie war er nicht hinreichend
erzogen, seine Vatersuche war nicht
abgeschlossen und die Feuertaufen
hatten in ihm Gedanken geweckt, die
das übliche bürgerliche
Leben nicht ertragen ließen.
Der Auftrag der Familie, Priester
zu werden, erschien ihm unmöglich.
Aber alles war in der Familie so eingerichtet,
daß er Priester werden sollte.
Dies galt insbesondere nach dem Tod
seiner Mutter: Es gab keinen Hausstand
mehr, keine Heimat, die Schwestern
befanden sich in Klosterschulen, die
Verwandten hatten den Rest unter sich
aufgeteilt. Höss wandte sich
von seiner Familie ab und suchte das,
was er als Gemeinschaftsgefühl
erlebt hatte, zu wiederholen. Er wurde
Soldat, indem er sich in ein Freiwilligen-Korps
nach dem Baltikum meldete. Kameradschaft
wurde zu einem Ersatz, zu einer sozialen
Basis, die dem Einzelgänger Rückhalt
gab, Feuertaufen wurden zum ständigen
Beweis der Richtigkeit dieser Wahl. |
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Es
ging Höss nie um die Frage, was
er da tat, warum Grausamkeiten nötig
erschienen und wie man solchen Strukturen
entkommen könnte. Seine Kategorien
waren Mitmachen oder Verrat üben,
Dabeisein und sich Bewähren oder
Untergehen, wertlos sein. Dabei schwankte
er zwischen der soldatischen Existenz
und einer landwirtschaftlichen Arbeit,
die nach der Ideologie von Blut und
Boden von einem natürlichen Neubeginn
des Menschenseins schwärmte.
Sein soldatischer Eifer aber wurde
ihm zum Verhängnis. In einem
Fememordprozeß wurde er zu 10
Jahren Zuchthaus verurteilt. Er blieb
bis zu seinem eigenen Tod davon überzeugt,
daß sein Handeln richtig war,
daß der Verräter, den sie
hingerichtet hatten, auch den Tod
verdient hatte. |
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Hier
kommt ein weiterer Aspekt seiner psychischen
Struktur zum Vorschein, der während
der sechs Jahre Zuchthaus, die er
abzusitzen hatte, ebenfalls deutlich
verstärkt wurde: |
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d)
Ungeschriebene Gesetze: Was veranlaßt
uns zum Töten? Wenn der Staat
versagt, dann scheinen ungeschriebene
Gesetze zu wirken, grundsätzliche
Gefühle von Recht und Unrecht,
die zu Handlungen werden. Höss
hatte zu solchen Gesetzen einen starken
Zugang, denn seine von Kindheit an
anerzogene Pflichtbesessenheit prädestinierte
ihn als Erfüllungsgehilfen und
Erfüller solcher Gesetze, mit
denen er sich identifizieren konnte.
Dabei war es ihm nicht wichtig, den
Ursprung und Sinn solcher Gesetze
skeptisch nachzufragen, solange sie
aus dem Kontext der Gruppe und Führer
stammten, die ihm eine Heimat boten. |
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Im
Zuchthaus konnte sich Höss bewähren,
weil er dessen geschriebenes und ungeschriebenes
Gesetzt erfüllte, weil er pflichtbewußt,
ordentlich, zuverlässig seine
Aufgaben erfüllte und als rechter
politischer Gefangener viele Vorzüge
genoß. Hier lernte Höss
ein neues - für ihn späterhin
ungeschriebenes - Gesetz kennen: Die
Unterscheidung von menschlichem Abschaum
und besseren Menschen. Er, der politische
Gefangene, mußte sich von all
den Kriminellen, Asozialen, von Verirrten,
Leidenschaftlichen und Lasterhaften
unterscheiden, deren Geschichten in
ihm Abscheu und Ekel erregten. Höss
hatte keinen Zugang zu den Leidenswegen
anderer Menschen, er verspürte
wenig Mitgefühl, sondern sah
sich hier mit der Minderwertigkeit
Anderer konfrontiert, die er andererseits
benötigte, um sich als besser,
als Mensch neben Tieren, zu fühlen.
So klassifizierte er die Gefangenen
in unterschiedliche Grade von Verdorbenen,
von Schwachen usw., um sich ungeschriebene
Gesetze über sie zu formulieren,
Gesetze, die der sogenannte gesunde
Menschenverstand hervorbrachte. Die
Analogie zu Hitler liegt hier auf
der Hand. (17) So unterschied Höss Berufsverbrecher
aus Veranlagung oder Neigung, gestrauchelte
und schwache Naturen, leichtsinnige
und frivole Naturen, wankelmütige
und schwankende Menschen, einen ganzen
Kanon von Zuschreibungen, so wie sie
der sogenannte gesunde Menschenverstand
bisweilen bis heute zu formulieren
weiß. Er aber war immer der
bessere Mensch: fleißig, pflichtbewußt,
ordentlich und sauber, gewissenhaft
und pedantisch, ein vorbildlicher
Gefangener. Im Grunde war er in seinem
Bewußtsein gar kein Sträfling,
weil seine Tat keine Tat war, die
er zu bereuen hatte, sondern eine,
die sein mußte, weil hier der
Staat versagt hatte. |
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Im
Zuchthaus bildete sich zunächst
ein neues Weltbild bei Höss heraus: "Es gab für mich nur
ein Ziel, für das es sich zu
arbeiten, zu kämpfen lohnte,
- der selbsterarbeitete Bauernhof
mit einer gesunden großen Familie.
Das sollte der Inhalt meines Lebens,
mein Lebensziel werden." (Ebd., 53) |
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So
wurde er Mitglied in der Bewegung
der Artamanen. Nationalistische Jugendliche,
die sich aus der vermeintlich ungesunden,
unsauberen, zersetzenden und oberflächlichen
Sphäre der Städte auf das
Land zurückziehen wollten, um
hier zu einer natürlichen Lebensweise
ohne Nikotin und Alkohol, ohne Laster
und Umtriebe zu finden, sammelten
sich in dieser Bewegung. Hier lernte
Höss seine spätere Frau
kennen. Von dieser Idee des Blut und
Bodens aus fand Höss zur aktiven
SS. Auch Himmler war Mitglied der
Artamanen gewesen. 1933 hatte Höss
auf einem Landgut in Pommern SS-Reiter
aufgestellt, Himmler wurde auf ihn
aufmerksam und veranlaßte ihn,
zur Verwaltung eines Konzentrationslagers
zu gehen. |
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Auch
hier wirkte ein ungeschriebenes Gesetz:
Auch wenn Höss eigentlich auf
dem Lande leben wollte, so war die
Pflicht für das große Ganze,
für das Unhinterfragbare oder
das, das er nie, selbst nicht im Vaterhaus
als das große Ganze zu hinterfragen
gewagt hatte (18),
stärker als ein eigenes, rudimentär
bleibendes Wollen. |
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e)
Massenmord als Pflicht: Über
Dachau, wo er als Ausbilder tätig
war, und Sachsenhausen, wo er Adjudant
- eine Art Geschäftsführer
des Lagerkommandanten - war, gelangte
er nach Auschwitz, wobei er dieses
Lager, das ein ungeheures Vernichtungslager
wurde, 1940 bis 43 leitete. 1943 bis
45 wurde er Amtschef bei der Inspektion
der Konzentrationslager. |
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Wenn
man die Beschreibung seiner Tätigkeit
in den Konzentrationslagern liest,
dann fällt auf, daß Höss
über Mord, menschliche Schicksale,
über grauenvolle Taten und alle
Gefühle hochschrecken lassende
Ereignisse in einer neutralen oder
scheinbar abgeklärten, buchhalterisch
gründlichen und die wesentlichen
Fakten der Vernichtungsmaschinerie
berührenden Form schreibt, wobei
diese Art der Darstellung eine neue
Art von Grauen produziert. Für
ihn als Lagerkommandanten ging es
darum, irgendwie Stacheldraht zu besorgen
- eine existentiell erscheinende Aufgabe
-, die Krematorien so einzustellen,
daß die Leichenberge endlich
verschwinden konnten, daß ein
zügiger Abgang erzielt wurde,
um keinen Stau der ankommenden Häftlinge
zu verursachen, daß alles möglichst
reibungslos und in aller Stille vor
sich ging, ohne gefühlsmäßige
Eruptionen oder Zweifel, ohne übertriebene
Härte oder dramatischen Aufwand.
So kritisierte er viele SS-Leute,
die den Gefangenen das Leben schwer
machten, die sie quälten, und
er verurteilte ihr barbarisches Verhalten.
Anhand etlicher Beispiele charakterisierte
er ihr barbarisches, unmenschliches,
rohes und hinterhältiges Handeln,
wohingegen er sein Auftreten als anständig,
pflichtbewußt und seinen Einsatz
im KZ als ungeeignet für seine
Person beschrieb. Aber Höss fragte
sich nicht, warum ausgerechnet er
in diesem System Karriere machte,
warum ihm die schwierige Aufgabe anvertraut
wurde, eine Vernichtungsmaschinerie
ohne ihresgleichen in Gang und Durchführung
zu bringen, warum er als einer der
verantwortlichen Massenmörder
des Naziregimes an seiner schlimmsten
Wirkungsstätte hingerichtet werden
sollte. Er gebraucht keine Entschuldigungen,
sondern beschreibt sich in seinen
Charakterstrukturen, in Strukturen,
die wie vom Himmel gefallen schienen,
zu denen er kein willentliches Verhältnis
mehr hatte: |
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|
bei
ihm unsinnig erscheinenden Aufgaben
wie der Bestrafung eigener Leute spricht
er von "Selbstüberwindung
und unbeugsamer Härte" (ebd.,
74); |
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durch
den Tod von Bibelforschern sieht er
sich berührt, weil sie an die
Aufnahme durch Gott glaubten und ihr
freudig entgegensahen, aber er meint
zugleich abwehrend zu wissen, daß
die Feinde des Reiches solche Ideen
zum Zwecke der Zersetzung unterstützten
(ebd., 76); |
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wüste
Verbrecher sah er auf einmal in ihrer
Angst vor dem Jenseits zittern, hier
keimt die Abschreckungsidee als ungeschriebenes
Gesetz auf (ebd., 79); |
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Homosexuelle
und Prostituierte sah er unter dem
Blickwinkel der Umerziehung, er sah
sich als eigentlichen Helfer, der
weiß, wie die Natur zu funktionieren
hat (ebd., 80 f.); |
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politische
Häftlinge betrachtete er beim
Sterben mit mehr Ehrerbietung als
kriminelle Elemente (ebd., 103 f.); |
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Zigeuner
bedauerte er fast in ihrem besonderen
Elend (ebd., 109 f.); |
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Juden
beschrieb er in ihrem besonderen Verhalten,
wobei er zynisch genau jene Verhaltensweisen
hervorhob, die sie nach dem ungeschriebenen
Gesetz des vermeintlich gesunden Menschenverstandes
als minderwertig und verwerflich ausrotten
ließ (ebd., 111 ff.); |
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arbeitswillige
Häftlinge sollten es bei ihm
gut haben, aber meist zerstörten
schlechte Wachen durch Beschränktheit,
Verbohrtheit, Böswilligkeit oder
Bequemlichkeit sein Ziel (ebd., 91
f.); |
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|
|
sein
Fehler war es wohl, so gesteht er
sich ein, sich nicht mehr mit den
Häftlingen und ihren Bedingungen
befaßt zu haben, aber dann hätte
er sich nur mit ihnen befassen müssen
und wäre seiner Aufgabe, Auschwitz
als Lager aufzubauen, nicht mehr richtig
nachgekommen; er mußte sich
aber dafür aus Pflicht entscheiden
(ebd., 96); |
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die
Pflicht verhärtete ihn, er vermißte
die kameradschaftlichen Bande, ertränkte
seine Gefühle im Alkohol, der
ihn wieder gesprächig und ausgeglichener
werden ließ, aber seinen Pflichteifer
nicht bremsen konnte (ebd., 98); |
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|
aber
die Pflicht ließ ihn auch leben
und viel leisten: "Selbst gehetzt
durch all die Umstände"
- besonders den politischen Druck
- "hetzte ich alle mir Unterstellten,
ob SS, Zivilangestellte, ob beteiligte
Dienststellen oder Firmen oder ob
Häftlinge, weiter. Es galt für
mich nur noch eines: vorwärtskommen,
vorwärtstreiben, um allgemein
bessere Verhältnisse zu schaffen,
um die befohlenen Maßnahmen
durchführen zu können."
(Ebd., 123 f.) Ein wesentliches Vorwärtskommen
war durch den Einsatz des Gases erreicht,
den Höss als Beruhigung beschrieb,
denn er wußte zuvor nicht, wie
er ordnungsgemäß eine Massenvernichtung
"sauber" hätte durchführen
sollen, wenn die Vergasung nicht als
bequeme Methode herausgefunden worden
wäre (ebd., 126 f.). |
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|
Zu
Hause war Höss der Biedermann.
Gefangene pflegten sein Blumenparadies,
das es seiner Frau und seinen Kindern
erträglicher machen sollte, in
Auschwitz zu leben. Kein Gefangener
sei hier je mißhandelt worden,
so schrieb der Massenmörder,
und sein eigenes schlechtes Gewissen
drückte er damit aus, daß
er seit Beginn der Massenvernichtung
im Lager "nicht mehr glücklich"
war (ebd., 134). Und er entwickelte
ein eigenes Schuldgefühl, mit
der seine Berichterstattung über
Auschwitz endet: "Heute bereue
ich es schwer, daß ich mir nicht
mehr Zeit für meine Familie nahm.
Ich glaubte ja immer, ich müsse
ständig im Dienst sein. Mit diesem
übertriebenen Pflichtbewußtsein
habe ich mir das Leben selbst immer
schwerer gemacht, als es an und für
sich schon war. Meine Frau hat mich
oft und oft gemahnt: Denk nicht immer
an den Dienst, denk auch an deine
Familie. Doch was wußte meine
Frau von den Dingen, die mich bedrückten,
- sie hat es nie erfahren." (Ebd.,
134) |
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Ernst
Federn, der mit Rudolf Höss in
Dachau zusammengetroffen war, bezeichnete
ihn als einen ruhigen, recht anständigen
SS-Mann, der möglichen Verbesserungen
im Häftlingsbereich durchaus
aufgeschlossen gegenüberstand. (19) Aber Federn wußte zugleich,
daß der Terror nicht nur von
jenen Bestien ausging, die auch Höss
verabscheute, von jenen Psychopathen,
die direkt die Gefangenen mißhandelten
und quälten. Die Gefahr, die
von Höss ausging, war sogar ungleich
größer, weil er nicht einzeln
mordete, sondern dafür die, wie
er sich ausdrückte, allgemeinen
»Verbesserungen« durchführte,
damit es alle leichter haben sollten. (20) Dabei mögen ihm durchaus
Zweifel in seinem Handeln gekommen
sein. Aber im Grunde zweifelte Höss
nie am System des NS-Staates, an jenen
ungeschriebenen Gesetzen, die der
gesunde Menschenverstand herausgefunden
hatte, der in den Thesen von Führer
und Gefolgschaft, Rasse und Gesundheit,
Blut und Boden, Volkszersetzung durch
Fremde gipfelte. Zwar hielt er nach
dem Krieg die Führung für
schuldig, verbrecherisch und dumm
gehandelt zu haben, aber auf friedlichem
Wege, so meinte er, hätte man
doch die "Erweiterung des deutschen
Lebensraumes" erreichen können
(ebd., 152). Die willenlose Masse,
die kritiklos blieb, sieht er als
eines der Probleme des NS-Staates,
aber er schien demgegenüber etwas
Besseres zu sein. Könnte er die
Geschichte zurückdrehen, so würde
er den Widerstand durch allgemein
gute und vernünftige Behandlung
der Bevölkerung herabmindern.
Dann auch hätte man sich die
KZs, es sei denn solche zur Umerziehung,
ersparen können. Und was die
Greueltaten in den KZs betraf, so
hatte er keine Ahnung von dem Ausmaß,
das nach dem Kriege deutlich wurde.
Er billigte solch Verhalten nie persönlich,
er selbst war auch niemals so grausam
(ebd., 153). So hielt er seine Gedanken
bis zum Schluß, bis zu seiner
Hinrichtung, sauber. Zwei Leitlinien
bestimmten sein Leben: sein Vaterland
- mit all dem Nationalismus, den Idealen
der NSDAP und SS, und seine Familie.
Er verstand es aufgrund seiner hohen
emotionalen Bindung an die Über-Väter
seines Staates, kreativ ihre Forderungen
mittels Disziplin, Pflicht und Einsicht
umzusetzen, was ihn für Führungsaufgaben
qualifizierte. Aus dieser Sicht wurden
viele vermeintliche Mitläufer
zu eigentlichen Betreibern des Terrors. |
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Eine
systemisch-konstruktivistische Pädagogik,
das haben wir immer wieder deutlich
zu machen versucht, betont die Beziehungsebene
in kommunikativen und sozialisierenden
Prozessen deshalb so stark, weil nur
über sie vermieden werden kann,
andere Menschen aus den Beobachtungen
auszuschließen und zu Objekten
zu machen. Die Biographie von Rudolf
Höss zeigt auf exemplarische
Weise, welche Mängel in den Beziehungen
zur Erklärung seines Verhaltens
herangezogen werden können. Die
Aspekte, mit denen wir sein Verhalten
beschrieben haben, entsprechen einem
Verständnis von Beziehungen,
das er in seinem Leben durch und durch
gegensätzlich zu einer systemisch-konstruktiven
Beobachterperspektive führte: |
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- Fehlende Zärtlichkeit: Der Ausschluß der Beziehungsebene,
die Vermeidung von Gefühlen,
die Verhinderung, Selbstwertgefühle
und Unsicherheit in pädagogischen
Kontexten zu thematisieren, die Verweigerung
nicht nur des Elternhauses, sondern
auch der Pädagogik seiner Zeit,
Beziehungen anders erleben zu können,
bilden einen wesentlichen Hintergrund
späterer Gefühllosigkeit,
Abwehr des Mitmenschen, einer Beziehungslosigkeit,
die vorwiegend inhaltsorientierte
und einseitig symbolisierte Sozialisationserfahrungen
weiterknüpft. |
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Deshalb
ist es der systemisch-konstruktivistischen
Pädagogik wichtig, Beziehungen
als mit Selbstwert und Gefühlen
verbundene Prozesse wechselseitiger
Anerkennung und gegenseitiger Verstärkung
von Toleranz den Anderen gegenüber,
die vor allem Offenheit von Blicken
voraussetzt, zu entwickeln. (21) Höss hingegen wurde
in dieser Hinsicht nicht gefordert,
sondern auch von einer beziehungsvermeidenden
Pädagogik auf die Inhaltsseite
verwiesen. |
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- Feuertaufen: Die traumatischen
Prozesse insbesondere des Mordens
wurden ebenfalls nicht auf der Beziehungsseite
verarbeitet, sondern inhaltlich verdrängt:
als kriegerische Leistung, als Heldentum,
als Anerkennung durch den Staat, das
Vaterland, als würde es sich
bei diesen Abstraktionen und Projektionen
um Beziehungen handeln. Der Beziehungsverlust
verdeckt den Mord, der Soldaten auszeichnet,
er verschweigt das Trauma, um so immer
neue Schrecken zu erzeugen. |
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Pädagogen
standen auch nach dem deutschen Faschismus
eher fasziniert vor den Qualitäten
von Feuertaufen, statt sie systematisch
zu dekonstruieren. Aber weder in Ost
noch West wollte man das freigeben,
was pädagogisch auf dem Spiele
stand: Das Wissen um die Wahrheit
bestimmter Taten, die Begeisterung
für Helden, weil man immer noch
Pazifismus und ein Denken, das Aufhören
will, immer Sieger zu sein, verabscheute.
Es paßte weder in das Zeitalter
des kalten Krieges noch in ein Denken
der Moderne, das den Schrecken benötigt,
um sich eine Beschleunigung von Entwicklung
hin zu einem »wirklich«
Besseren zu suggerieren. |
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Eine
systemisch-konstruktivistische Pädagogik
kann und wird hier nicht mittun. Sie
akzeptiert zwar die Konstruktivität
von Weltbildern, kann sich aber dann
nicht konsequent für nur eines
entscheiden, das ihre Beobachtermöglichkeiten
dann rigide beschränken will.
Zwar wird auch der Konstruktivismus
vor die Wahl alltäglicher und
politischer Entscheidungen gestellt,
aber die Freiheit des Beobachters
gilt ihm so viel, daß er lieber
eine widersprüchliche Pluralität
von Meinungen erträgt, als die
Tyrannei der einen Meinung, die als
Konstrukt für alle herhalten
soll. Und deshalb lehnt dieser Ansatz
auch Feuertaufen ab, weil sie den
Beobachter in ein traumatisches Wagnis
stürzen, das er selbst weder
autonom noch mit hinreichenden Freiheitsgraden
abwehren kann, da er gerade hier der
Autonomie als Basis freier Konstruktion
beraubt wird. Teilnehmer an Feuertaufen
werden systemisch vergewaltigt, indem
sie als Opfer oder Täter zirkulieren,
um den Machtgewinn Anderer abzustützen.
Deshalb scheint es mir sinnvoll, daß
jeder, der systemisch und konstruktiv
an die Welt herangeht, sich den Feuertaufen
und ihren Institutionen - insbesondere
dem Militär - verweigert. Zur
systemisch-konstruktiven pädagogischen
Arbeit aber gehört es, diese
Verweigerung als Dekonstruktion insbesondere
solcher Entwicklungen zu zeigen, die
wie bei Höss zu Völkermord
führten, damit Auschwitz nie
wieder sei. Damit werden solche Institutionen,
die Gehorsam verlangen, auch bis heute
kritisch befragt werden müssen:
Ist ihr Gehorsam noch durch Menschenrechte
konkret dekonstruierbar, d.h. kann
ich auch in ihnen mich verweigern,
wenn es gegen die Menschenrechte oder
mein Gewissen geht? Oder verlangen
sie blinden Gehorsam? Dann können
wir uns nicht nur verweigern, sondern
müßten sie aktiv verändern,
bekämpfen. |
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- Vatersuche und Untertänigkeit: Je mehr ich mich als Beobachter Anderen
unterwerfe, und dies hat ebenfalls
nicht nur mit dem Elternhaus, sondern
auch mit Pädagogik in einer Gesellschaft
zu tun, um so höher ist die Gefahr,
nach Urvätern oder Führerfiguren
zu suchen und sich blind einem System
zu unterwerfen. Eine systemische und
konstruktivistische Sichtweise bekämpft
dies in allen Lagen und unter allen
Umständen, indem sie Beobachtervielfalt,
Beobachterunterschiede, Beobachterwechsel
zuläßt und fordert. Sie
stärkt die Selbstbehauptung von
Beobachtungen, ohne sie zugleich einer
imaginären Instanz als Letztentscheidung
überantworten zu wollen. |
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- Ungeschriebene Gesetze: Deshalb
lehnt sie ungeschriebene Gesetze als
kausale Legitimation menschlicher
Handlungen ab. Es gibt aber nicht
eine überlegitimierte Herkunft
bestimmter wahrer Gedanken, die einzelne
Menschen für sich pachten können.
Wenn es der Pädagogik gelingt,
dies allen Lernern in ihrer re/de/konstruktiven
Tätigkeit klar werden zu lassen,
dann wird ein hinreichender Stachel
gegen alle jene Versuche gelegt werden
können, die die Welt auf ein
Bild hin vereinfachen, um daraus bestimmten
Nutzen zu ziehen. |
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- Massenmord als Pflicht: Dann
kann sich die blinde Pflicht nicht
entfalten, sondern wird Widerstand
erzeugen. Gleichwohl ist eine innere
Einsicht dann aber nicht unbedingt
Garant einer aktiven Abwehr solcher
politischen Versuche, den Beobachter
wieder blind zu machen und einem System
tyrannisch einzuverleiben. Gerade
Konstruktivisten mögen in solchen
heiklen politischen Situationen zu
hilflos sein, weil sie allen Beobachtern
noch ein zu großes Recht auf
Durchsetzung ihrer Sichtweise geben,
damit aber auch jene bevorrechtigen,
die sie zu gegebener Stunde umbringen
werden. Vielleicht taugt der Konstruktivismus
daher auch nur in Zeiten einer relativen
demokratischen Sicherheit, in der
Beobachter in Pluralität sich
artikulieren können, aber nicht
mehr in Phasen von menschenrechtsverachtender
Herrschaft und Gewalt, nicht bei Terrorregimen,
die Gegengewalten erfordern, wenn
wir sie denn ändern wollen. |
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4.
Das Beziehungsgeflecht von Opfern und
Tätern |
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In
Rekonstruktionen, die sich mit dem
Thema KZ beschäftigen, dominieren
entweder Blickweisen auf die Opfer,
wie auch wir es eingangs unternommen
haben, oder Abrechnungen mit Tätern,
für die eben Rudolf Höss
exemplarisch stand. Und dennoch bleibt
diese isolierende Sicht recht unbefriedigend.
Sie schützt uns auf der Inhaltsseite,
mit der wir distanzierend das Furchtbare
zu begreifen versuchen, vor der Beziehungsseite,
von der wir wissen, daß es kein
Opfer ohne Täter und keinen Täter
ohne Opfer gibt. Bettelheim und Federn
kommen bei ihrer versachlichten Darstellung
der Psychologie der Extremsituation
bzw. des Terrors aber zu Beschreibungen,
die wir auch als Ausdruck einer systemischen
Sicht begreifen können. Systemisch
meint hier, daß weder Opfer
noch Täter für sich betrachtet
werden und daß immer deutlich
bleibt, daß ein äußerer
Beobachter spricht. Dabei dürfen
die Ebenen der Betrachtung aber nicht
verwechselt werden. Alle Opfer unterlagen
einem brutalen Fremdzwang, der durch
die Umgebung des Lagers, durch die
Ideologie der Wachen, durch das gesellschaftliche
System der Zeit gegeben war. Dieser
äußere Druck hatte ihnen
die Freiheit genommen. Er zwang sie
zu inneren Entscheidungen, zur Verinnerlichung
in einen Selbstzwang, den sie freiwillig
nie eingegangen wären. Aber nun
einmal in der extremen Situation gefangen,
können und sollten wir sie in
den Mustern dieses Zwanges betrachten.
Umgekehrt war es zwar auch für
den SS-Mann nicht einfach möglich,
seine Position ohne Schaden aufzugeben,
aber seine Möglichkeiten, eine
andere Tätigkeit als die des
Terrors auszuüben, waren nicht
so eingeschränkt wie die der
Häftlinge. Auch wenn er als Teil
des politisch-totalitären Systems
Gefangener war, so war er mehr Gefangener
eigener Wahl als die Häftlinge. |
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Als
Beobachter versuchen wir mit solchen
einleitenden Sätzen für
uns den Schrecken zu relativieren.
Wir suchen Ideen für eine Wirklichkeit,
die letztlich unvorstellbar bleibt.
Federn (1989) machte besonders auf
die atavistischen Triebe des Menschen
aufmerksam, auf seine Aggressionen,
die in den Taten der SS erscheinen.
Sie dienen dazu, Angst bei den Häftlingen
hervorzubringen, Macht zu gewinnen,
Menschen zur Regression zu zwingen,
sie zu demütigen, ihre seelische
Widerstandskraft zu brechen. Nun wäre
es zu einfach, die SS als die böse
Seite und alle Häftlinge als
die gute Seite zu beschreiben. Aus
psychoanalytischer Sicht wird die
Debatte um Gut und Böse stark
entmoralisiert und der Blick frei
sowohl für die inneren und äußeren
Verhältnisse eines Opfers oder
Täters als auch für die
systemische Wechselwirkung zwischen
beiden. Sowohl die Arbeiten von Bettelheim
als auch von Federn sind hierfür
ein deutliches Beispiel. |
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Allerdings
gebrauchen die psychoanalytisch orientierten
Autoren den Begriff systemisch nicht.
Ich möchte ihn hier verwenden,
um auf mindestens dreierlei aufmerksam
zu machen:
1) Es gibt bei der Beschreibung von
Verhalten - auch im Konzentrationslager
- nicht nur eine Seite des Aktiven
und eine des Passiven, sondern ein
besonderes Zusammenspiel in der Interaktion
und Kommunikation von Opfern und Tätern,
wobei Aktivität und Passivität,
äußerer Druck und innerer
Druck - bzw. andere Beschreibungskategorien,
die wir anwenden - wechseln können;
2) dieses Zusammenspiel folgt bestimmten
Regeln, die sich für das System
des Zusammenwirkens bezeichnen lassen;
3) es bedarf der ausgewiesenen Rolle
eines Beobachters, solche Regeln zu
(re)konstruieren - gleichgültig
ob er Teil des beschriebenen Systems
oder Außenstehender ist. |
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Wenn
wir Bettelheims und Federns Analyse
den nachfolgenden Aussagen zugrunde
legen, dann beziehen wir uns als Außenstehende
auf Beobachter, die Teile des Systems
waren, das sie beschreiben. |
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Bettelheim
versteht es, die Fragen nach dem Zusammenwirken
im System von Opfern und Tätern
- nachfolgend auch als systemisches
Zusammenwirken bezeichnet - von zwei
Gesichtspunkten aus differenzierend
zu beantworten. Das Verhalten in Extremsituationen
unterliegt einerseits dem Zwang und
andererseits der Abwehr. Beide greifen
ineinander und lassen sich nicht voneinander
trennen, die unterschiedenen Aspekte
dienen uns jedoch dazu, Extremsituationen
psychologisch besser zu verstehen. |
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Die
Nazis verstanden es geschickt, die
durch ihre Barbarei erzeugten Aggressionen
bei den Gefangenen auszunutzen, indem
sie sie gegen die Häftlinge selbst
wendeten. Die masochistische, passiv-abhängige,
regressive Verhaltensweise der Häftlinge
wurde durch und durch gestärkt,
was umgekehrt dazu führte, daß
der aggressivere SS-Mann sich sicher
gegen Auflehnung wähnen konnte.
Dies bedeutete, daß Häftlinge
in kindliche Hilflosigkeit und Abhängigkeit
gebracht werden mußten, so daß
sie weder über die Alltäglichkeiten
des Lebens bestimmen konnten noch
ihrer eigenen Zukunft unabhängig
von der SS sicher sein durften. Das
Erziehungsmittel ständiger Angst,
die durch reale Traumata erhärtet
und am Leben erhalten wurde, vermittelte
sich größtenteils über
Sprache. Drohungen waren im KZ der
allgegenwärtige Begleiter jeder
Handlung. Dabei dominierte die Analsphäre
in Schimpfwörtern - "Arschloch"
und "Stück Scheiße"
waren Anredeformen, die von den Häftlingen
selbst angenommen wurden. Wer außerhalb
der festgesetzten Zeiten zur Latrine
mußte, der war von der Laune
der Wache abhängig. Vielfach
wurden sinnlose Arbeiten dazu benutzt,
den Willen zu brechen. Älteren
Gefangenen wurden eher sinnvollere
Arbeiten zugestanden, weil ihre Anpassung
weiter vorangeschritten war. Alle
Versuche der SS zielten darauf ab,
die Selbstachtung zu brechen und die
Regression zu fördern. Der äußere
Zwang wurde im Lager in innere Zwänge
umgesetzt. Dieser doppelte Charakter
des Zwanges bedingte eine komplizierte
Dialektik der Begegnung von Opfern
und Tätern. |
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Beispielgebend
ist für Bettelheim an dieser
Stelle sein eigener Versuch, ins Krankenrevier
zu kommen, um Erfrierungen behandeln
zu lassen. Er stand mit mehreren Gefangenen
vor einem SS-Mann, der über die
Zulassung entschied. Die Gefangenen
machten sich Gedanken, legten sich
Strategien zurecht, wie sie am besten
eine Zulassung erreichen könnten.
Einige verwiesen auf ihre Dienstzeit
in der deutschen Armee, andere auf
Wunden, die sie für das Vaterland
erlitten hatten, andere auf die Schwere
ihrer Krankheiten. Bettelheim hielt
es nicht für klug, sich vorher
einen Plan zu machen, was seine Mitgefangenen
ärgerte, da sie dachten, daß
er sich einen besonders guten Trick
ausgedacht hätte, um den bösen
und dummen SS-Mann auszuspielen. Bettelheim
hingegen war davon überzeugt,
daß ein SS-Mann keineswegs gleich
wie ein anderer ist, daß damit
die Reaktion situationsabhängig
zu beurteilen wäre. Als er an
die Reihe kam, schrie ihn der SS-Mann
sofort an, daß Juden nur bei
Arbeitsunfällen ins Revier könnten.
Er war durch die Geschichten der anderen
Gefangenen verärgert. Bettelheim
brachte sachlich vor, daß er
mit den Erfrierungen nicht arbeiten
könne, daß daher das tote
Fleisch abgeschnitten werden müßte.
Daraufhin folgte der SS-Mann einem
zunächst sadistischen Impuls
und versuchte selbst, die eitrige
Haut abzuziehen. Da dies nur schwer
gelang, entließ er Bettelheim
ins Revier, um ihn dort aber scharf
zu beobachten. Nur weil er dort seinen
Schmerz unterdrückte und sich
anschließend anschickte, das
Revier zu verlassen, durfte er ausführlich
behandelt werden; er erhielt jetzt
sogar eine Karte zur Weiterbehandlung
der Wunde. |
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Bettelheim
analysiert dieses Beispiel ausführlich.
Der SS-Mann als Aggressor, als Täter,
und das Opfer verhalten sich in einem
wechselseitigen Kontext. Das Opfer
baut seine Argumentation folgendermaßen
auf: Es ist durch Fremdzwang in das
Lager gekommen. Es muß sich
in Gegenreaktionen immer gegen die
Gefahren des Fremdzwanges verteidigen.
Es hat den Fremdzwang der SS hart
als Einstieg in sein Gefangendasein
erfahren, denn die größten
Grausamkeiten geschehen bereits auf
dem Transport, damit das Selbstverständnis
zutiefst erschüttert wird. Die
SS quälte die Gefangenen hier
systematisch, zögerte den Transport
hinaus, um jeden Gefangenen in irgendeiner
Form physisch und psychisch zu verwunden.
Ziel dieses Prozesses war die Verinnerlichung
der Abwehrreaktion der Angst durch
Anpassung an alles, was gefordert
wird: blinder Gehorsam. Resultat der
hier gemachten Beobachtungen ist ein
SS-Mann, der als individuelle Person
seine Konturen verliert und vorrangig
als brutaler und gefühlloser
Gewaltmensch gesehen wird. Der Täter
hingegen verteidigt sich aus seiner
Beobachterperspektive stärker
gegen Gefahren, die in ihm selbst
liegen: Häufig eine eigene Angstabwendung
durch Projektion auf Führerfiguren,
die als Vaterersatz für eigene
ichschwache Anteile gelten können.
Deshalb unterwirft er sich aus Selbstzwang.
Er begibt sich in seiner Beobachterrolle
in Abhängigkeit von den Gewissheiten
seiner Führer. In diesem Wahrnehmungskonstrukt
nun erscheinen schwache und jammernde
Juden, die Einlaß in ein Lazarett
begehren, aber wahrscheinlich Betrüger
sind. Kommen unter diesen unterschiedlichen
Perspektiven Opfer und Täter
zusammen, so ergibt ihre Kommunikation
eine Eskalation des Verhaltens. |
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Betrachten
wir das Zusammenspiel, das sich hier
ergibt, aus einer konstruktivistischen
Perspektive, so stehen wir zunächst
vor einer Schwierigkeit. Wenn Subjekte
je ihre eigene Wirklichkeit konstruieren,
dann werden die meisten von uns Abscheu
dabei empfinden, sich solch eine Wirklichkeit
wie ein KZ konstruieren zu wollen.
Wir flüchten in die Position
der Rekonstruktion, lassen uns hier
lieber von Anderen belehren und entdecken
das, was gewesen war, statt es erfinden
zu wollen. Aber so einfach geht das
nicht. Selbst Bettelheim und Federn,
obwohl sie Augenzeugen waren, kommen
nicht umhin, ihre Perspektive der
von ihnen erfahrenen Wirklichkeit
zu re-konstruieren und dabei zugestehen
zu müssen, daß es nicht
die eine Erfahrung KZ gibt. Sehr unterschiedlich
fällt dieses KZ aus, wenn wir
die Perspektiven wechseln. Und dies
ist ja auch bereits in unserer Analyse
geschehen, wenn wir zunächst
auf die Opfer sahen und dann den Blickwinkel
auf die Aussagen eines der Täter
richteten. Schon unsere ersten Worte
über die realen Vorgänge
rationalisieren etwas, was nicht real
nacherlebt werden kann, sondern auf
die konstruktive Seite unserer Imaginationen
setzt und an unser Mitleiden appelliert. |
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Trotz
der Unterschiedlichkeit der Perspektiven
gibt es aber auch Grenzen konstruktiver
Freiheit. Gerdae konstruktivistisch
stellt sich dann die Frage: Sind wir
wirklich frei, jedem seinen Zugang
zu dieser Konstruktion von Wirklichkeit
zu gewähren, oder muß man
das Thema KZ in spezifischer Weise
untersuchen? Darf hier jeder schwätzen
und munter konstruieren, wie es ihm
gefällt, oder begrenzen wir mit
radikaler Macht das Thema, wenn etwa
jemand von der Auschwitz-Lüge
spricht? Was antworten wir dem, der
sagt, daß es keine Judenvergasung
gab und uns auffordert, daß
wir doch nur einen Augenzeugen der
Vergasung benennen, wo es ja gerade
Ziel der Vergasung war, alle Augenzeugen
zu beseitigen? Es ist völlig
klar, daß hier jegliche konstruktive
Freiheit durch eine rekonstruktivistische
Verständigungsgemeinschaft eingeholt
wird: Jene uns bekannten oder zur
Kenntnis zu nehmenden Rekonstruktionen
dieses Schreckens reichen für
alle Teilnehmer aus, ihren abwehrenden
Erfindungsreichtum zu bremsen und
den imaginativen im Sinne von Mitleiden
zu erhöhen. Aber dies ist bloß
eine allgemeine Formel für ein
ethisches Postulat, das längst
nicht alle Menschen mehr erreicht.
Und gerade deshalb ist bei einer konstruktivistischen
Einstellung es ein oberstes Erziehungsziel,
daß nie wieder Auschwitz sei.
Dies findet seinen wesentlichen Punkt
im menschlichen Leiden, das hier erzeugt
wurde, seinen unwesentlichen in dem
Umstand, daß gerade Konstruktivisten
Menschen sind, die Andersdenkenden
- also anderen Konstruktionen von
Wirklichkeit - grundsätzlich
offen gegenüber auftreten. |
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Nun
wird zu recht gegen Konstruktivisten
eingewandt, daß nicht alles
in der Welt eine Konstruktion von
Wirklichkeit durch beliebige Beobachter
sein kann, daß es mit anderen
Worten Grenzen des Menschlichen und
Maßstäbe menschlichen Verhaltens
geben müßte. Dies kann
kein Konstruktivist bestreiten. Dort,
wo wir Gewalt erscheinen sehen, wo
Mittel des Terrors zum Einsatz gegen
Menschen kommen, wird es keine Entschuldigung
jeglichen Verhaltens geben dürfen,
auch wenn man erkenntnistheoretisch
erkennen und beschreiben kann, daß
jeder zu seiner Konstruktion von Wirklichkeit
kommt. Die Beschreibungen eines Rudolf
Höss sind zwar sein Konstrukt
seiner Wirklichkeit, aber niemand
zwingt uns, ihnen zu folgen. Nein,
der Zwang geht vielmehr in eine andere
Richtung: Wir sind gezwungen, alles
das zu dekonstruieren, was uns den
Schrecken verstellt, was uns das Leiden
verniedlicht und rationalisiert, was
uns das Unfaßbare leichthin
faßbar und distanzierbar machen
will. Aber als Konstruktivist kann
ich diesen Zwang nur als Konstrukt
meiner Wirklichkeit aussprechen und
vertreten, ich kann es nicht erzwingen,
sondern hoffe auf Einsicht und Verständigung
in einer Gemeinschaft, die sich den
Menschenrechten mehr als allen anderen
Rechten verpflichtet. |
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Wenn
wir dies einsehen, dann wird eine
weitere Folgerung zwingend. Damit
nie wieder Auschwitz sei, muß
der Sinn dieses Satzes, dieses Konstrukts
von Wirklichkeit, für jeden,
der den Satz für sich zwingend
akzeptieren und erleben will, Teil
seines verstehenden und erklärenden
Bewußtseins werden. Dies aber
erreiche ich dann am deutlichsten,
wenn ich die Bedeutung und die Gefahr
- wenn nicht schon das reale Leiden
- für mich entdecke und (er)finde.
Und deshalb ist es sinnvoll, die Beobachterperspektive
nicht bloß auf die Opfer oder
die Täter zu richten, sondern
die Wechselwirkung beider zu beobachten,
weil dies ein Muster, ein wiederkehrendes
Konstrukt in der Wirklichkeit ist,
dem auch wir jederzeit an unterschiedlichsten
Orten unserer gegenwätigen Welt
begegnen können und vor dem wir
in Zukunft nicht gefeit sind. |
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Deshalb
wollen wir jetzt das Beziehungsgeflecht
und seine systemischen Wirkungen zwischen
Opfern und Tätern näher
betrachten. Unter Aufnahme und Erweiterung
der aus den "Studien über
den autoritären Charakter"
bekannten Variablen (vgl. Adorno 1973)
will ich, indem ich die von Bettelheim
und Federn benutzten Beschreibungen
verwende, einen systematisierten Abriß
mir wichtiger Analysepunkte vorstellen
(vgl. auch Reich 1993, 1994), der
maßgeblich bei jeder Entwicklung
einer Psychologie der Extremsituation
oder des Terrors sein dürfte.
Diese Analyse nennt Beobachterkategorien,
auf die wir achten sollten, wenn wir
uns systemisch mit Opfern und Tätern
in jeglichen Formen des Terrors beschäftigen. |
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a)
Regression |
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Es
ist das wesentliche Ziel jeder terroristischen
Maßnahme, in einer Extremsituation
die Opfer zu Regressionen zu zwingen.
Sie sollen auf eine Stufe der Kindheit
zurückfallen, um so besser beherrschbar
zu sein, ihre Abhängigkeit selbst
in elementarsten Lebensbedürfnissen
zu zeigen und Gewalt und Willkür
ohne Ausweg ertragen zu müssen.
Die oben beschriebenen Terrormittel
werden systematisch eingesetzt, solche
Regression zu erreichen und zu sichern.
Der Gefangene lebt, wie Bettelheim
sich ausdrückt (1989, 186), nur
in der unmittelbaren Gegenwart, er
verliert sein Zeitgefühl und
seine Planungen beschränken sich
auf die Sicherung der elementarsten
Lebensdinge: essen, schlafen, ausruhen.
Regressionen führen zu einer
Betonung anal-sadistischen Verhaltens,
der erfahrene Terror schlägt
um in Aggressionen gegen Mitgefangene,
eine anal gefärbte Sprache dominiert,
sie wenden sich gegen das Subjekt
selbst. Die Wachen und Folterknechte
erzwingen regressives Verhalten, das
Ich muß sich daran anpassen,
wenn es überleben will, was eine
Abwehrleistung hervorbringt, die all
jene Impulse unterdrückt, die
Regression vermeiden wollen, so daß
die Selbstachtung abnimmt. Schließlich
kontrolliert eine regressive Gefangenengruppe
sich gegenseitig, weil sie aus Angst
vor kollektiver Bestrafung nur das
zu leben erlaubt, was als Fremdzwang
Gültigkeit zu haben scheint -
was aber durch die aufgerichteten
inneren Zwänge noch eine Verschärfung
der Fremdzwänge bedingt. |
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Die
SS-Männer oder Terroristen allgemein
- denn Extremsituationen oder Terror
lassen sich nach Bettelheim und Federn
nicht auf die Nazizeit beschränken,
sondern gelten für alle Diktaturen
oder unterdrückenden Systeme
- unterliegen ihrerseits auch einer
Regression. Federn beschreibt eine
typische Karriere einer SS-Wache:
eigentlich gutmütiger, anständiger
Durchschnittsmensch, jahrelang arbeitslos,
suchte verzweifelt Arbeit, trat in
die SS ein, um seine Familie zu ernähren.
Nun unterliegt er einem Zwang seiner
Gruppe, die jedes Ausscheren beunruhigt,
was sie zu Verfolgungen in den eigenen
Reihen veranlaßt. Auch wenn
er nicht mit allem einverstanden ist,
was die SS tut, so kann er sich nur
schwer aus diesem Zwang befreien.
Der Zwang ist aber andererseits auch
eine Kompensation eigener Ich-Schwäche
durch Delegation eigener Entscheidung
und Verantwortung an eine Organisation,
einen Führer. Bettelheim sagt
hierzu: "Ein Über-Ich, das
persönliche Verantwortung und
Entscheidungsfreiheit für einen
fordert, kann unangenehme, ja bedrohliche
Züge annehmen, da man sich nie
völlig sicher sein kann, ob man
das Richtige tut. So aber entsteht
der Wunsch, daß einem gesagt
wird, was man tun soll. Befehlsgehorsam
enthebt einen einer inneren Entscheidung,
die zu Konflikten führen könnte
und später entweder verinnerlichte
Schuldgefühle oder aber - in
einem totalitären Staat - die
reale Gefahr der eigenen Vernichtung
nach sich ziehen kann. Wenn wir dagegen
lediglich Forderungen erfüllen,
die uns von außen auferlegt
werden, können wir uns frei von
Schuld und sicher fühlen."
(Bettelheim 1990 a, 344 f.) |
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Gehorsam
als vermeintliche Tugend bedingt eine
autoritäre Unterwürfigkeit,
die sich bedingungslos allen Zielen
stellt und diese akurat umsetzt. So
war der SS-Mann - auch wenn er nicht
von vornherein mit sadistischen Zügen
und perversen Ansprüchen in seine
Organisation eingetreten war - durch
sein regressives Verhalten als Täter
zugleich Opfer eines totalitären
Systems, das ihn ebenfalls seiner
Freiheit beraubt hatte. Bettelheim
beschreibt die fatale Regressionsleistung
in ihrem systemischen Zusammenwirken:
Der gehorsame Diener Hitlers - verkörpert
durch die SS - und der Häftling,
der sich seinem Schicksal ergab und
zur Gaskammer trottete, sie beide
sind Produkte des totalitären
Staates. "Der entlohnte Knecht
und der ermordete Häftling -
beide hatten ihren freien Willen eingebüßt"
(Bettelheim 1990 a, 276). |
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Federn
gebraucht ein zweites Beispiel: Ein
junger Raufbold, Trinker, begeisterter
Jäger schließt sich einem
Rollkommando an, wo er als Soldat
auf Befehl rauft, schießt, tötet.
Als Mitglied der SS wird er KZ-Wächter.
Aber die religiöse Erziehung
seiner Kindheit läßt Schuldgefühle
in ihm keimen, trotzdem muß
er wie aus innerem Zwang weiter schießen
und töten. Dann wurde das Schießen
auf Menschen verboten, weil man sie
vergaste und vergiftete. Er lenkte
seine Wünsche um und schoß
als Jäger wieder auf Tiere. Als
auch das verboten wurde, handelte
er das erste Mal gegen den Befehl,
wurde ertappt und sollte bestraft
werden. Dieser Bestrafung entzog er
sich durch Selbstmord. Dieser Psychopath,
so Federn, ist ebenso wie das erste
Beispiel ein Extrem - zwischen diesen
Extremen gab es Übergänge,
die im wesentlichen auf das Gleiche
hinauslaufen: "Entweder wird
das Verbrechen durch die staatliche
Befehlsgewalt erzwungen oder innere,
zum Verbrechen führende Instinkte
werden durch den Befehl von oben gebilligt
oder gedeckt." (Federn 1989,
68) |
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Hier
stellt sich die Frage, ob die Rede
vom Befehlsempfänger nicht nur
eine Ausrede ist. Sie muß nach
Federn notwendig mit einer zweiten
Frage ergänzt werden: Ist jeder
Mensch tatsächlich imstande,
zum Gewalttäter zu werden, wenn
die Umstände dazu günstig
sind? |
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Bettelheim
und Federn beantworten diese Frage
unterschiedlich. Während Bettelheim
stärker auf die Ich-Seite des
Individuums eingeht und hervorhebt,
daß dieses eine Schwäche
vorweist, die bewußt bekämpft
werden kann, erörtert Federn
die Sachlage eher von der klassischen
Psychoanalyse her und stellt hier
die Triebtheorie in den Mittelpunkt.
Der nach Freud neben dem Sexualtrieb
- Eros - wirkende Todes- oder Aggressionstrieb
- Thanatos - behauptet, daß
atavistische Triebe einen Teil im
Menschen repräsentieren, der
für sein Leben notwendig ist.
Dieser unbewußte, dem Ich nicht
direkt zugängliche Teil, wird
in seiner Wendung nach außen
für Beobachter z.B. als aggressive,
bemächtigende, aneignende oder
- wenn man in anderer Terminologie
spricht - egoistische Kraft erlebt.
Da es sich um einen Trieb handelt,
vermeidet die psychoanalytische Sicht
eine Wertung und Moralisierung des
so bedingten Verhaltens. In der Kultur
sind beide Triebe gebremst, beherrscht,
soweit dies ohne Schaden möglich
ist, durch die Über-Ich-Instanz
reguliert, die sich im Laufe der Kindheit
herausgebildet hat und in der Pubertät
ihre feste Form annimmt. Abweichungen
von gesellschaftlich oder kulturell
anerkannten Normen sind möglich,
weil jede individuelle Entwicklung
anders verläuft. Perversionen,
Sadismus und all der Einsatz von Terrormitteln
sind ohne eine Erklärung aus
Störungen im menschlichen Entwicklungsprozeß
der Täter schwer begreiflich.
Aber dieses Begreifen bedeutet keine
Verurteilung im Schema von Gut und
Böse, sondern das Erkennen von
Abweichungen im Verhalten. Eine Gesellschaft
verfolgt in der Regel solche Abweichungen,
was den Druck auf das Über-Ich
erhöht. Wenn nun aber der Staat,
einen pathologischen Führer an
der Macht (22),
dieses duldet, dann werden regressive
Anteile in einem Ausmaß freigesetzt,
die alle möglichen Sadismen,
Perversionen, Phantasien hervorbringen,
von denen der triebbeherrschte Mensch
nicht einmal zu träumen wagen
würde, weil ihm schon seine Traumzensur
solcherlei Regression zerstören
müßte. Zwar ist Regression
auf frühkindliches Verhalten
bei Erwachsenen durchaus für
kürzere Zeiten normal, aber das
Zurückgehen auf das atavistische
Verhalten einer kindlichen Phase,
die Sadismus noch nicht im Blick auf
kulturelle Grenzen begreift, die damit,
so Federn, sich durchaus begrenzt
asozial und kriminell auszudrücken
vermag, ist als immer wiederkehrende
und dauerhaft auftretende Handlung
des Erwachsenen als pathologisch anzusehen
(vgl. dazu Federn 1969). Regression
ist damit kein eigentliches Zurück
in die Kindheit, sondern ein symbolisches
Schema der Entlastung. Der sich zivilisiert
gebende Mensch benötigt dies
auch, wenn er in kleineren terroristischen
Akten, wie sie beim Boxen, Ringen,
aber auch anderen Sportarten wie Fußball
auftreten, die "kulturerlaubte
Seite des Sadismus" (Federn 1989,
70) zur Schau stellt. Die Ursache
solchen Sadismus ist die gleiche wie
bei den nur größer freigesetzten
Regressionen in wirklichen Terrorsituationen,
der Unterschied besteht im Ausmaß
der Extremsituation, in der erhöhten
Brutalität des äußeren
Zwanges, in der verbindlichen Erklärung
solcher gesellschaftlicher Regression
als Normalität, d.h. in der Umwandlung
dessen, was wir als Zivilisation bezeichnen,
in die reine Barbarei. Solche Regression
muß angeleitet werden und findet
hier ihre Verbrecher. "Eine der
vielen Methoden, die SS-Leute zu den
Gewalttaten zu erziehen, war etwa
die folgende: Man läßt
eine Kompanie sonntags statt des gewohnten
Ausgangs zum Dienst antreten, um Häftlinge
bei einer Strafarbeit zu beaufsichtigen.
Dabei wird bei der Befehlsangabe gesagt,
daß es sich um lauter kriminelle
Juden handle, die arische Mädchen
vergewaltigt und sich nun auch im
Lager starfbar gemacht hätten.
Ich meine, jede Kompanie junger Soldaten,
empört über die vermeintlichen
Verbrecher und noch mehr über
den verpatzten Sonntag, hätten
in gleicher Weise reagiert wie die
SS-Kompanie es in solchen Fällen
natürlich tat." (Ebd.) |
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Die
SS-Leute ihrerseits unterlagen der
Einsperrung durch Kasernierung, auch
sie waren ihrer Freiheit eines Stückes
beraubt und rigiden Gemeinschaftsnormen
unterworfen, was regressive Tendenzen
förderte. Dies entschuldigt kein
Handeln, denn schon die Maxime der
SS, alles zu verschweigen und jede
Greueltat prinzipiell abzuleugnen,
zeigt das indirekte Eingeständnis
von etwas Furchtbaren, das dem Vergessen,
Verdrängen, Verleugnen überantwortet
wurde. |
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Im
systemischen Zusammenwirken beider
Regressionsseiten wird Verständigung
dadurch unmöglich gemacht, daß
die wechselseitige Behauptung einer
Ursachenzuschreibung (der Andere ist
schlecht etc.) den Blick dafür
nimmt, sich selbst als Gefangenen
im Banne regressiver Tendenzen zu
sehen. In der Interaktion von Täter
und Opfer verstärken sich dabei
die regressiven Tendenzen: Die Eskalation
der Gewalt in den Lagern zwingt die
Gefangenen in immer regressiveres
Verhalten, die SS in die Behauptung
einer "Endlösung",
die sie auf Befehl in pedantischer
Kleinlichkeit durchführt. Die
Autobiographie des Lagerkommandanten
von Auschwitz, Rudolf Höss, und
der Prozeß gegen Eichmann zeigen
eindringlich dies regressive Verhalten
(vgl. Bettelheim 1990 a, 266 ff.;
Federn 1969). Daß hierbei auch
Delegationen durch die eigene Sozialisation
betroffen sind, zeigen die Arbeiten
von Stierlin (bes. 1975, 1982) anschaulich.
Das Verhalten von Höss ist ohne
seine regressive Suche nach Unterordnung
unter ein großes Abstraktes,
Ganzes, Völkisches, das sich
in bestimmten Führern inkarniert
hat, gar nicht zu begreifen. |
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b)
Identifikation |
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Wenn
Regression eine Fluchtmöglichkeit
für den Gefangenen ist, sein
Leid zu ertragen, dann beschreibt
Federn eine zweite, die in der Anpassung
liegt. Die hauptsächlichste Form
solcher Anpassung ist "die Identifizierung
mit demjenigen, der die Leiden verursacht."
(Federn 1989, 71) Dies mag befremdlich
erscheinen, ist aber eine in vielen
Bereichen beobachtbare menschliche
Handlung. So hatte z.B. Anna Freud
darauf verwiesen, daß es eine
Abwehrbewegung beim Kind gibt, das
sich mit einem gefürchteten Wesen,
etwa einem Hund, identifiziert, indem
es ihn spielt, um seine Angst zu überwinden.
Die Menschen muten sich sehr oft Horrorszenarien
- etwa in Filmen - zu, um sich damit
zugleich über solche Schrecken
zu erheben, sie zu distanzieren.(23) |
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Die
Lagerleitung nutzte die Tendenz zur
Anpassung vielfältig aus, indem
sie Gefangene als Unteraufseher mißbrauchte
und zynisch ausnutzte, ohne daß
diese sich über die psychischen
Mechanismen klar werden konnten. Federn
nennt insbesondere Übertragungszusammenhänge,
die hier wirkten. Das Interesse an
der gemeinsamen Abwicklung von Aufgaben,
etwa der Arbeit der Gefangenen oder
der Organisation des Lagers, ließ
nicht nur strafende und folternde
SS-Männer auftreten, sondern
auch solche, die unbewußte Bindungen
an die Gefangenen herzustellen wußten,
indem sie die gemeinsame Sache, das,
was notwendig war nach den Regeln,
die sie ja auch nicht gemacht hatten,
betonten. "Diese Identifizierung
konnte Demütigungen, peinliche
Arbeiten, unangenehme Terroreinwirkungen
vermeiden. Der Gefangene ahmt dann
seinen Herrn bald nach, macht sich
dessen Aufgaben zu den eigenen und
wird so zu einem richtigen Werkzeug
seines Chefs." (Federn 1989,
63) Daraus entsteht eine gegenseitige
Beeinflussung, und Federn weiß
von älteren Gefangenen zu berichten,
die aus jungen SS-Vorgesetzten ernste
Männer machten, umgekehrt aber
auch von SS-Sadisten, mit denen sich
Häftlinge identifizierten und
die sie imitierten (ebd., 63 f.). |
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Viele
Gefangene identifizierten sich mit
der Allmacht der SS, wobei die Häftlingshierarchie
ihnen eine gewisse Teilhabe an der
Macht auf Umwegen bescheren konnte.
Wie in einer Art Psychose liehen sich
diese Häftlinge Macht durch die
Verinnerlichung der SS-Werte aus,
was zugleich begrenzt ihren Selbstwert
in einer unsicheren und vorläufigen
Form stärkte (vgl. Bettelheim
1989, 244). Bettelheim berichtete
von Gefangenen, die die SS imitierten,
indem sie sich ähnlich zu uniformieren
versuchten und typische Verhaltensweisen
annahmen. Selbst in ihrer sehr begrenzten
Freizeit ahmten sie die SS nach. In
Gesprächen mit vielen Gefangenen
hatte er herausgefunden, daß
nur sehr wenige 1938 überhaupt
wollten, daß über die Lager
in ausländischen Zeitungen berichtet
werden sollte (vgl. ebd., 187 ff.).
Beinahe alle nichtjüdischen Gefangenen
glaubten auch im Lager an die Überlegenheit
der deutschen Rasse. Schwächlinge
oder für das Lager untaugliche
Personen wurden von den Gefangenen
meist abgelehnt, weil sie mit Bestrafungen
von der SS rechneten, wenn jemand
aus ihrer Gruppe auffiel. Der äußere
Zwang setzte sich in einen inneren
um: Abweichler wurden im Lager oft
genug von der eigenen Gruppe liquidiert. |
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Ein
besonders makaberer Scherz wurde mit
Neuankömmlingen öfter inszeniert.
Da die Sexualnot sehr groß war
und viele Potenzängste herrschten,
wehrten ältere Gefangene diese
Angst dadurch ab, daß sie Neuankömmlingen
mitteilten, sie seien kastriert worden.
Nach den schrecklichen Erfahrungen
der Mißhandlungen auf dem Transport
verstärkte dies die Angst bei
neuen Gefangenen. Aus der eigenen
Angstabwehr heraus erfolgte damit
eine Identifikation mit den Drohungen
der SS, hier mit der öfters ausgesprochenen
Kastrationsdrohung. |
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Oft
erließen SS-Leute unsinnige
Befehle, wie z.B. die Schuhe innen
und außen mit Wasser und Seife
zu waschen. Auch wenn die SS daran
bald kein Interesse mehr zeigte, so
gab es Gefangene, die zwanghaft solche
Normen zu erfüllen bestrebt waren
und andere beschimpften, wenn sie
nicht ihrem Beispiel folgten. Die
Lagerorganisation bestärkte solche
Tendenzen, da z.B. der Tagesbeginn
mit Bettenbau verbracht werden mußte,
wobei mit größter Kleinlichkeit
die Gefangenen schikaniert und bestraft
werden konnten. Dies führte zu
einem Kampf aller gegen alle, weil
nur derjenige, der sein Bett ordentlich
gemacht bekam, sich waschen konnte,
den Morgenkaffee bekam und den Gang
zur Latrine schaffte. Angesichts der
engen Verhältnisse im Schlafraum
war man aufeinander angewiesen, zugleich
aber auch aggressiv gegeneinander,
weil der innere Druck kaum Geduld
entwickeln ließ. So führte
der innere Zwang letztlich oft zu
einem Verhalten, daß die SS
von den Gefangenen erwartete. Die
Menschen verhielten sich chaotisch,
undiszipliniert und aggressiv. Die
SS fühlte sich in ihrem Bewußtsein
hierdurch bestärkt, ohne zu begreifen,
daß die Organisation des Lagers
und ihr Verhalten Ursache für
das Verhalten der Gefangenen waren.
Die einseitige Konstruktion von Wirklichkeit
in den Köpfen der Wächter
führte dazu, daß die unmenschlichen
Prophezeiungen ihres Führers
sich erfüllten. Nur sehr organisierten
Abteilungen - vor allem den politischen
Gefangenen - konnte es gelingen, den
gnadenlosen Kampf aller gegen alle
abzuschwächen. |
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Nach
Federn gab es drei »Großmächte«
in den Lagern: die Homosexualität,
das Geld und das politische Zusammengehörigkeitsgefühl. |
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Die
Homosexualität teilte sich unter
die auf, die ohnehin homosexuelle
Neigungen hatten und andere, für
die die Homosexualität ein Ersatz
für die fehlende Heterosexualität
war. Da diese Abweichung streng bestraft
wurde, war sie gefährlich. Sie
fand aber ihre Korrespondenz in der
SS, die in Teilen auch homosexuell
war. Federn beschreibt, daß
es für hübsche Jungen meist
leichter war, ihren Willen zu erreichen,
aber auch gefährlich werden konnte,
wenn sie an einen Sadisten gerieten.
Meist kam es eher zum Flirt und zu
erotischen Phantasien, als tatsächlich
zu einer regelmäßigen Befriedigung.
Die Identifikation mit jemandem, dem
auch eine erotische Zuneigung entgegengebracht
werden konnte, war ein großer
Wunsch eines jeden Gefangenen. Diejenigen,
die "nur" onanierten, waren
durch die Vorstellung gepeinigt, ihre
Potenz einzubüßen und dann
nie wieder erotische Nähe erfahren
zu können. |
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Das
Geld, oder das Tauschen im allgemeinen
Sinne, bedingte in den Lagern Korruption,
wie sie bei eigentlich jeder Gewaltherrschaft
anzutreffen ist. Die Identifikationsleistungen
wurden hier darauf gerichtet, daß
für Dienste im Rahmen der Hierarchie
Geschenke üblich waren, die als
Freundschaftsdienste deklariert wurden,
in Wahrheit jedoch Korruption darstellten. |
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Politische
Grundsätze konnten helfen, Regressionen
zu verhindern und Anpassungen kollektiv
zu bewältigen. Federns eigenes
Überleben hing hiervon ab. Bettelheim
hingegen beklagte, daß solche
Identifikationen teilweise Übererwartungen
an die eigene Macht nach Überstehen
des Lagers auslösen konnten,
wie sie z.B. für Funktionäre
in der späteren DDR zu beobachten
waren. Solche Menschen meinten, alles
besser als andere zu wissen, und die
Erfahrung ihres Überlebens nährte
den Zweifel an allen anderen Blickrichtungen.
Die eigene KZ-Erfahrung wird dadurch
wiederholt, daß sie anderen
Menschen die Einsperrung zumuten,
die sie selbst erfahren hatten, indem
sie nun behaupteten, daß es
auf das richtige, d.h. ausschließlich
ihr Weltbild ankomme. |
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Die
Identifikationen, die von den Häftlingen
erwartet und durch sie selbst aufgrund
innerer Zwänge entwickelt und
differenziert wurden, waren nur die
eine Seite, die keineswegs auf Vorgesetzte
traf, die autonom und ichstark agieren
konnten. Die Identifikationen, die
in der SS verlangt wurden, waren durch
starke autoritäre Unterwürfigkeit,
durch Anpassung und Abwehr eigener
Schwächen von autoritärer
Aggression charakterisiert. (24) Das totalitäre System
bedingt eine strikte hierarchische
Ordnung. Das Über-Ich-System,
das jeder aus seinem Elternhaus in
Formen von Gewissen, Schuldgefühlen
und Ich-Idealen kennt, wird durch
politische Über-Ich-Surrogate
des Systems ersetzt. Der Führer,
Polizei, Lehrer bzw. hier die SS funktionieren
dann als Über-Ich-Surrogat, wobei
das ursprüngliche Anerkennungsmuster
aus der Kindheit nun auf diese neuen
Autoritäten übertragen wird.
Bettelheim (1990 a, 344 f.) leitet
hieraus ab, daß die Konformität,
die von der SS im besonderen Maße
wie von jedem Bürger oder auch
den Häftlingen verlangt wurde,
hierauf zurückgeht. Auch hier
konnte uns der Fall Höss zeigen,
wie weit solche Identifikation reichen
kann und wie sehr sie auch nach dem
Scheitern der eigenen Wirklichkeit
und Ideen den Zugang zur Erarbeitung
des eigenen Teils von Schuld, von
Abrechnung, von Selbstreflexion verstellte. |
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Nur
weil die Nazis die Gewaltmittel in
den Händen hielten, konnten sie
im Lager ihre Macht, die selbst in
einer Unterwerfung unter Führertum
und strikte Hierarchie bestand, ausleben.
Die Abwehr gegen die eigene Ohnmacht
bei gleichzeitiger Entlastung des
Schuldgefühls führte ihrerseits
zu Grausamkeiten, die systemisch eskalierten:
Im Wechselspiel von Täter und
Opfer war auf der Fremdzwangseite
immer die Ursache der Gewalt- und
Machtanwendung zu erkennen, im Bild
des inneren Zwanges aber entfaltete
sie ihre eigene Dynamik, was sich
auf die äußeren Zwangsmaßnahmen
stabilisierend oder eskalierend auswirkte.
Letztlich folgte die Identifikation
mit dem Aggressor der gleichen Regression,
die dieser in seinem Über-Ich
aufrichten und verleugnen mußte. |
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c)
Projektion |
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Opfer
wie Täter übten sich ständig
in Zuschreibungen, indem sie die andere
Seite nach einem einfachen - stereotypen
- Muster als dumm, unfähig, roh,
ungehemmt, einer niederen Rasse zugehörig,
sexuellen Perversionen ergeben, kriminell
und dergleichen mehr bezeichneten.
Diese Schwarz-Weiß-Malerei hielt
der Wirklichkeit zwar nie stand, wenn
man sich - wie Bettelheim und Federn
- genauer hinzuschauen traute, aber
sie diente als Feindbild dazu, die
eigene Abwehr in der äußeren
und inneren Zwangssituation aufrecht
erhalten zu können, weil nur
darauf sich eine sichere Prognose
wagen ließ, wie die andere Seite
reagieren müßte. Für
die Häftlinge war dies sehr schwierig,
weil jede Individualisierung der SS
die Berechenbarkeit der Reaktionen
erschwerte und imaginierte Pläne
zunichte machen konnte. Aus der Abwehr
heraus wurde die stereotype Zuschreibung
damit zu einer Projektion eigener
Wünsche: sich einen SS-Mann auszumalen,
der auf der Basis der eigenen Denkweise
doch anerkennen müßte,
daß der Gefangene eigentlich
auch Deutscher, Soldat, vaterlandsliebend
und dergleichen mehr gewesen sei,
vielleicht sogar selbst nationalsozialistisch
eingestellt. Der SS-Mann jedoch benötigte
- individuell unterschiedlich - eigene
Abwehrmechanismen, um die Situation
zu bewältigen. Seine stereotypen
Zuschreibungen führten ihn dazu,
insbesondere Juden als verschlagen,
verlogen, faul usw. anzusehen, so
daß alle Argumente a priori
in einem anderen Licht erscheinen.
Er fürchtete sich nicht vor dem
einzelnen Juden, aber vor dem Stereotyp
des Juden, in das eigene unerwünschte
Neigungen projiziert und durch die
Verfolgung zugleich abgewehrt werden
(vgl. Bettelheim 1989, 244 ff.). Der
Jude erwies sich hierzu als besonders
geeignet, da er als Feind innerhalb
der eigenen Gesellschaftsstruktur
lebte, die Bedrohung also ständig
spürbar projiziert werden konnte.
Andere ungeschriebene Gesetze des
sogenannten gesunden Menschenverstandes
kamen und kommen bei solchen Zuschreibungsfunktionen
und Sündenbocksuchen aber auch
immer vor. Gegenwärtig drücken
sie sich in Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit
aus, wobei wiederum einzelne Gruppen
bevorzugt attackiert werden. (25) |
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Wenn
diese beiden Sichtweisen aufeinandertrafen,
dann waren die SS-Leute aufgrund ihrer
Macht und Gewalt fast immer die Sieger.
Dies führte die Opfer dazu, ihnen
zwar in der Regel eine moralische
und intellektuelle Unterlegenheit
zuzuschreiben, aber gleichwohl eine
Überlegenheit zuzugestehen: Unmenschlichkeit
und verschwörerische Allmacht.(26) |
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Bettelheim
berührt einen der schwierigsten
Punkte in der Analyse der Lager, wenn
er aus dieser Situation ableitet,
daß die Gefangenen hier auch
eigene unerwünschte Motive und
Eigenschaften auf ihre Gegner projizierten.
Diese Projektion verhinderte, "den
SS-Mann als eine wirkliche Person
zu sehen. Sie zwang dazu, die SS nur
als Alter Ego des reinen Übels
zu sehen." (Ebd., 243) Bettelheims
Erfahrungen, die allerdings nicht
die eines reinen Vernichtungslagers
waren, zeigten hingegen, daß
es zwar gefährliche und grausame
SS-Leute gab, daß aber viele
nur töteten oder grausam waren,
wenn es ihnen befohlen wurde oder
wenn sie glaubten, daß die Vorgesetzten
dies von ihnen erwarteten. Die Projektion
der Häftlinge führte zu
einem Vermeidungsverhalten, das viele
das Leben gekostet hat. Entweder war
ihre Angst so groß vor der SS,
daß sie Aufgaben nicht richtig
erfüllten oder sich nicht meldeten,
wenn sie gerufen wurden, was regelmäßig
drastische Strafen nach sich zog.
Oder sie waren den Tod vor Augen nicht
mehr in der Lage, einen letzten Widerstand
zu zeigen, weil die Allmacht des Gegners
in der eigenen Vorstellung dies verhinderte
(vgl. ebd., 243). Federn, der sieben
Jahre im KZ überlebte, bestätigt
eine solche Sicht. |
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Sie
läßt sich im Blick auf
die Projektivität nach vielen
Seiten hin differenzieren (27), einige
wollen wir zur Verdeutlichung herausgreifen: |
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- Sexualität: "Sexualattentate",
so sagt Federn, konnten ständig
von der SS ausgehen, aber meistens
waren die Drohungen stärker als
die Taten. Im projektiven Bereich
spielt die Sexualität deshalb
eine so große Rolle, weil sie
- als eigener Sexualtrieb gespürt
- gleichzeitig der Bearbeitung des
Über-Ichs unterliegt. Abweichungen,
die als eigener Impuls (unbewußt)
erlebt werden können, führen
zu besonderer Strenge im Verurteilen
des vermeintlich Perversen bzw. zu
Zuschreibungen, die ein Verhalten
wie z.B. das Onanieren als pervers
erscheinen lassen. Wohin aber sollten
die Gefangenen mit ihrer Sexualnot?
Sie mußten unausweichlich in
das Konstrukt der Perversion geraten,
weil ihre eigenen Ängste vor
Impotenz oder vor Aufgabe des Sexualtriebes,
der als wichtiger verbleibender eigener
Lebensbestandteil empfunden wurde,
sie dahin trieb, sich immer wieder
in ihrer verbliebenen Potenz zu testen. |
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-
Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen,
Spontanen: Regression und Identifikation
waren darauf ausgelegt, die Individualität
in ihren eigensten Spielarten, der
Besonderheit des Subjektiven als Unterscheidungsmerkmal,
des Phantasievollen als Hoffnungsträger
und Wunschdifferenzierer und des Spontanen
als Suche momentaner Erfüllung
zu verhindern. Die Terrormittel dienten
dazu, die Gedanken auf elementarste
Bedürfnisse zu reduzieren und
die Selbstachtung zu beschränken,
wenn nicht zu zerstören. Projektionen
konnten dies in der Form des Wachtraumes
angreifen, aber dies fiel auch den
geschulten Psychoanalytikern schwer.
Bettelheim zog hieraus die ernüchternde
Erkenntnis, daß die Psychoanalyse
nicht taugte, ihm zum Überleben
zu helfen. Federn ist vorsichtiger,
weil er diese Hilfe so ausschließlich
von der Theorie offenbar gar nicht
erwartete. Sie ist ihm ein Beobachtungsinstrument,
um besser und mehr zu verstehen, aber
keine Überlebenstheorie. |
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Die
SS-Wachen benutzten ihre Uniformierung,
die Monotonie des Hitlergrußes,
die Konstruktion bestimmter Tagesabläufe
als Quasi-Gesetze, um Subjektivität,
Phantasie und Spontaneität auszuschließen.
Die Selbstachtung der SS konnte sich
damit auf das vermeintlich höhere
Ziel des Staates und seiner Ideologie
projizieren, das Ich von Entscheidungen,
die mit Schuldgefühlen verbunden
waren, entlasten. |
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-
Destruktivität und Zynismus: Die "Endlösung" war
die größte projektive Fantasie
der Nazis, der Einsatz der zu ermordenden
Gefangenen bei ihrer eigenen Beseitigung
der größte Zynismus. Die
projektive Ableitung auf Sündenböcke
versucht den Blick auf das eigene
Ich zu verdrängen, umzulenken,
die Energien in Destruktion abzuführen.
Mittels der Identifikation wurden
diese Mechanismen Teil etlicher Gefangener
selbst, die in ihrer Rolle anderen
Gefangenen gegenüber ebenfalls
schlimmen Terror ausübten, um
letztlich als Mitwisser, wie Bettelheim
mehrfach beschreibt, dann mit als
erste von der SS beseitigt zu werden.
Auch hier bestätigt sich gerade
für die SS der systemische Zirkel:
Sie erwarteten Verräter, sie
bekamen Verräter, sie ließen
Verräter als erste sterben. Aber
sie wollten nicht sehen, daß
ihr System solche menschlichen Abgründe
zynisch produzierte und damit - wie
Federn schlußfolgert - die aggressive
Seite des eigenen Trieblebens nicht
zum Überlebenskampf, sondern
zur bloßen Destruktion nutzte. |
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-
Machtdenken und "Kraftmeierei": Machtdenken war für die SS als
Abwehrhaltung gegen jegliche Infragestellung
dessen, was sie tun, unabweisbar.
Kraftmeierei, die sich durch Anbrüllen,
Rumschnauzen, körperliche Kraft-
und Kampfbeweise usw. ausdrückte,
war der meist laute Selbstüberzeugungsversuch,
der bisweilen vielleicht gegen das
eigene - übriggebliebene - schlechte
Gewissen anschrie. Solche Abwehr wurde
in der Identifikation von vielen Gefangenen
übernommen. Dies ging sogar so
weit, daß einige Gefangene,
wie Bettelheim beschreibt, Kampfspiele
der SS imitierten, obwohl sie körperlich
viel zu geschwächt waren. Die
Selbstbehauptung in einem Lager, das
ständig zu Aggressionen reizte,
dessen Tagesablauf Konflikte unvermeidbar
werden ließ, forderte eine Abwehr
nach dem Muster einer Projizierung
männlicher Stärke und Kampfeskraft
als letzten Ausdruck eigener Ichbewältigung
geradezu heraus. Es konnte SS-Leute
zu immer übersteigerteren Beweisen
ihrer Kraft führen, was Sadismen
und Perversionen eskalieren ließ,
für die Gefangenen war meist
eine Grenze durch körperliche
Erschöpfung gegeben. |
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-
Aberglaube und Stereotypie: Gerüchte
waren in den Lagern immer wieder vorhanden,
um sich irgendwelche Verbesserungen
zu imaginieren. Wo neue Häftlinge
noch an Befreiung dachten, da freuten
sich die älteren über Kleinigkeiten
des Alltags und gaben hierauf mehr
als auf alles andere. Eine Abwehr
gegen die Unwirklichkeit des Lagers
waren unwirkliche Wachträume
und ein abergläubisches Verhalten,
von dem sich etliche Häftlinge
Glück erhofften, weil die Planbarkeit
des Glücks durch bloß vernünftiges
Handeln kaum gewährleistet war.
Neben dem Aberglauben diente die Stereotypie
der Zuschreibung, wie wir sie oben
schon erwähnten, vor allem dazu,
eine gedachte Konstanz in die Handlungen
des Gegners zu bringen: SS-Offiziere
verhalten sich immer so, daß
... oder Juden sind immer so, daß
... - dies waren die Schlußfolgerungen
auf beiden Seiten, die ein Handeln
auf der Basis von Tatsachen meistens
ausschlossen, weil sonst der gedachte
Handlungszusammenhang fraglich werden
würde und Handlungen immer planloser
erscheinen müßten. Auf
diese Art der Abwehr geht Bettelheim
sehr ausführlich ein. |
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Der
größte Aberglaube der SS
war die Hoffnung auf den "Endsieg",
die stereotyp als Formel immer mehr
beschworen wurde, je mehr das "Reich"
dem Ende zuging. Wie eine religiöse
Heilslehre suchte die Führerideologie
alle Projektionen auf unwirkliche
Ziele zu konzentrieren, und die, die
der grausamen Verwirklichung am nächsten
waren, konnten am wenigsten von der
Unwirklichkeit, der Undurchführbarkeit
des Rassenwahns erkennen. |
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5.
Überlebende |
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Wer
überhaupt soll von einer Extremsituation,
von einem Konzentrationslager im besonderen,
schreiben, wenn er nicht dabei gewesen
ist? Es beschleicht uns Unbehagen,
wenn jemand es versuchen würde,
der es nicht direkt erfahren hat.
In einer Zeit, in der vieles von solcher
Erfahrung abhängig gemacht wird,
um emotionale Glaubwürdigkeit
zu versichern, setzen wir sehr auf
die Gewährsleute, die dann auch
moralisch ein Recht besitzen, Urteile
zu fällen. Beiden Autoren ist
es hier gelungen, Ansätze zu
einer Psychologie der Extremsituation
zu entwickeln, die sich aus dem Schema
bloßer Verurteilung, aus der
Zuschreibung von Gut und Böse,
aus der Vereinfachung bloßer
Verdrängung eines Ungeheuerlichen
löst. Wenn man diese Texte als
Unbeteiligter an Lagern liest, dann
ist man zugleich erstaunt, mit welcher
Härte stellenweise besonders
Bettelheim die Opfer betrachtet und
wie sich die entmoralisierende Beschreibung
des Wechselspiels von Tätern
und Opfern in moralische Urteile wendet.
So findet er das Tagebuch der Anne
Frank und seine Verbreitung als problematisch,
weil hier eine jüdische Familie
gezeigt wird, die sich nicht wehrte.
Für ihn belegt gerade das Schicksal
der Anne Frank und ihrer Familie,
"wie ein Mensch seine eigene
Vernichtung noch beschleunigen kann,
indem er ein Privatleben führt
und alles, was außerhalb dieses
Lebens in der Gesellschaft passiert,
ignoriert." (Bettelheim 1990
a, 253) Er kontrastiert es mit den
Versuchen anderer, die in die Freiheit
gingen, indem sie flohen oder unterzutauchen
versuchten oder sich dem Kampf im
Untergrund stellten. Bettelheims Forderungen
gewinnen ihre Qualität aus der
persönlichen Erfahrung heraus,
die Extremsituationen schonungslos
zu beschreiben versucht, ohne die
Moral aus der Geschichte zu nehmen.
Totalitäre Regime sind möglich,
Streben nach menschlicher Autonomie,
nach Menschenrecht und Toleranz ist
notwendig und wäre damals stärker
notwendig gewesen, hier erscheinen
moralische Appelle. |
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Aber
können wir damit das gelebte
Konstrukt von jenen kritisieren, die
nicht weitblickend historisch gedacht
hatten oder mutig genug waren? Bettelheims
Schriften sind prinzipiell von einer
hier sichtbar werdenden Ambivalenz
getragen. Da ist einerseits der Psychoanalytiker,
der entmoralisierend die Ereignisse
der menschlichen Psyche interpretiert,
uns dabei eine Phänomenologie
des Schreckens zwischen Tätern
und Opfern entwickelt, und da ist
andererseits der Mensch Bruno Bettelheim,
der ein Lagerschicksal erlebte, der
überlebte, wo andere starben,
und der daraus einen persönlichen
Kampf gegen die Gleichgültigkeit
des Vergessens, gegen die Verdrängung
und Abwehr damit zusammenhängender
Emotionen machte, was ihn als moralisierenden
Menschen erscheinen ließ, der
Mitarbeitern und Kollegen oft die
Meinung sagte und dabei auch schroffe
Formen wählen konnte. Dieser
Kampf rührt zugleich an ein Dilemma
der Psychoanalyse, mit der sich destruktive
Kräfte analytisch beobachten
und beschreiben lassen, mit der der
gute Mensch jedoch nicht hergestellt
werden kann. Bettelheims Arbeiten
nach dem Krieg zeigen bis weit in
die sechziger Jahre immer wieder die
- für die amerikanische Psychoanalyse
ohnehin gängige - Frage, wieviel
wir vom Ich des sozialen Menschen
wissen müssen, damit nicht wieder
Unmenschlichkeit sei. Damit kam der
Ruf nach der Beschreibung einer sozialen,
guten Persönlichkeit auf, die
eher vom Ich als von der Trieblehre
Freuds her gedeutet wurde. (28) Es lag
Bettelheim aufgrund seiner Lebenserfahrung
nahe, sich solcher Suche zuzuwenden.
Zugleich aber zeigte seine psychoanalytische
Arbeit auch die andere Ebene, die
der Entmoralisierung bedurfte, um
zu begreifen, was geschah. Gerade
seine Arbeiten über die Extremsituation
bieten dafür einen Anlaß,
den er sich schaffen konnte, weil
er selbst Betroffener war: Es gelang
ihm, die Verstrickung von Opfern und
Tätern zu beschreiben, das heißt
Erklärungen für beide Seiten
des Verhaltens und ihr Zusammenwirken
zu entwickeln. |
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Die
Reintegration traumatisierter und
in ihrer Persönlichkeit "zerstörter"
Menschen war nach dem Krieg für
Bettelheim ein wichtiges Arbeitsgebiet.
1955 verbrachte er dazu mehrere Monate
an der Frankfurter Universität,
sein Aufsatz "Individual Autonomy
and Mass Controls" (später
in Bettelheim 1989) erschien in einem
Band, der Max Horkheimer zum sechzigsten
Geburtstag gewidmet war (Adorno/Dirks
1955). Bettelheim, dessen Nähe
zur Kritischen Theorie immer auf psychoanalytische
und Vorurteilsstudien begrenzt blieb
und dessen eigene Theorie eher Defizite
im Blick auf soziologische Dimensionen
aufzeigt, wollte damals Deutsche befragen,
die den Konzentrationslagern entkommen
waren. Sein Vorhaben scheiterte jedoch
an der Komplexität. Er bemerkte
nun, daß nicht nur die in den
Lagern Gefangenen eine Traumatisierung
erlebt hatten, sondern daß alle
Deutschen in dem totalitären
System, in dem sie gelebt hatten,
in einer Art Lager gewesen waren (vgl.
Bettelheim 1990 b, 248 f.). Die Abwehr
gegen das erfahrene Trauma ist jedoch
unterschiedlich: die einen leugnen
die Tatsache der Lager, die anderen
unterliegen weiterhin der erlebten
Traumatisierung. |
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Für
die ehemaligen KZ-Häftlinge wird
die Reintegration zur entscheidenden
Aufgabe in ihrer Lebensbewältigung
(vgl. Bettelheim 1990 a, 28 ff.).
Dies galt auch für Bettelheim
selbst: einerseits bemerkte er nach
dem Krieg die Verdrängungsleistungen
vieler ehemaliger Häftlinge,
die so das Grauen distanzierten, indem
sie ihm jegliche weitere Bedeutung
für ihre Gegenwart bestritten;
andererseits stieß er immer
wieder auf Schuldgefühle, die
darin wurzelten, überlebt zu
haben, wo doch so viele gestorben
waren. Ihm wurde dadurch klar, daß
das Thema der Psychologie der Extremsituation
neue Dimensionen aufwirft, die über
eine Betrachtung von Täter und
Opfer hinausreichen und die auch diejenigen
einschließen, die im historischen
Prozeß gar nicht beteiligt waren.
Es gibt keinen Vorteil einer "späten
Geburt", wie man sich auszudrücken
pflegte, um neue Verdrängungsleistungen
heraufzubeschwören. Extremsituationen
sind wiederkehrend, das Ausmaß
bei den Vernichtungslagern war in
der bisherigen Geschichte einmalig,
aber Wiederholungen sind nicht auszuschließen,
sie sind geschehen und geschehen gegenwärtig. |
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Vielen
ehemaligen Häftlingen war ihr
Überleben eine schwere Hypothek.
Drei Bewältigungsstrategien sind
auffällig (vgl. ebd., 37): Zerstörung
einer möglichen Reintegration
durch das Erlebte; Verdrängung,
die die Geschehnisse in ihrer fortdauernden
Wirkung abwehrte; lebenslange Beschäftigung
mit dem Erlebten. |
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Viele
scheiterten an der Reintegration,
weil ihr Leben jeglichen Sinn verloren
hatte, die nächsten Angehörigen
z.B. waren ermordet worden, man selbst
hatte Dinge getan, die unverzeihlich
erschienen. Sehr oft ergaben sich
hieraus psychotische Reaktionen, die
durch die äußere Gewalt
der Umwelt erzwungen, verinnerlicht
wurden, und die man als KZ-Überlebenssyndrom
bezeichnete. Derjenige, der schon
in den Lagern die größten
Qualen erleiden mußte, wurde
auch nach seiner Befreiung nicht frei
von Leid. Dies erscheint als eine
der größten Ungerechtigkeiten
gegenüber den anderen Überlebenden
des Krieges, den deutschen Verursachern,
denen diese psychologischen Schwierigkeiten
erspart blieben, als deren Urheber
sie im totalitären, im faschistischen
System jedoch beteiligt waren. Etlichen
Opfern gelang die Reintegration nicht
und viele von ihnen begingen Selbstmord.
Andere - vielleicht die Mehrheit -
bevorzugten Verleugnung und Verdrängung,
was aber dazu führte, daß
ihr Standpunkt leicht wieder von außen
zu erschüttern war (vgl. ebd.,
40 f.). Nicht nur die Opfer wählten
diesen Weg, sondern vor allem die
Mehrheit der Bevölkerung, der
Völker. Der ständige Kampf
gegen die Lagererfahrung brachte die
dritte Gruppe dazu, sich etwas abzugewinnen,
das die Lager unter einem positiven
Aspekt erscheinen ließ (ebd.,
43 f.). Bettelheims Bemühungen
um kranke Kinder beweisen für
ihn seine Versuche der Reintegration,
sein Eifer hierbei zeigte die Stärke
dieses Bemühens an.(29) |
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Auch
Ernst Federn hält es für
möglich, daß nicht nur
in totalitären, sondern in allen
Gesellschaften Menschen auftreten,
die Störungen wie jene zeigen,
die wir als KZ-Mörder verabscheuen.
"Manche Autoren glauben, völliger
Mangel an zärtlicher Zuwendung
könne beim Kind eine Schizophrenie
bedingen. Die klinische Erfahrung
dagegen lehrt, daß nicht jedes
Kind, das elterliche Liebe entbehrt,
schizophren wird. Dennoch kann man
annehmen, daß der Mangel an
elterlicher Fürsorge eine Reihe
von Ich-Störungen bedingt, die
sich vielleicht lange nicht bemerkbar
machen, bis politische, soziale oder
persönliche Umstände ihre
fürchterlichen Folgen auslösen."
(Federn 1969, 639) Bettelheim zieht
ähnliche Schlußfolgerungen
(Bettelheim 1990 a, 126 ff.). Er beschreibt
die Umwelt des Kindes als entscheidend,
insbesondere die systemischen Wechselwirkungen
von Mutter und Kind sieht er als bedeutsam
an. Dabei ist das Kind aktiv beteiligt,
so daß eine alleinige Ableitung
aus dem Kontext der Vorbilder der
Mutter oder Eltern problematisch wäre.
Wenn man versuchen will, Kindheitspsychosen
als spontane psychische Entwicklungen
des Kindes deutlicher ins Auge zu
fassen, dann nützen die Erkenntnisse
aus der Psychologie der Extremsituationen,
weil sie sich auf vergleichbare Phänomene
beziehen: Unausweichlichkeit, ungewisse
Dauer des Ereignisses, Unvorhersagbarkeit
bei gleichzeitiger Lebensbedrohung
und Hemmung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten
(vgl. ebd., 129). Auch die Bildung
der Symptome in den Lagern lassen
sich durchaus mit Kindern vergleichen,
die Autismus und Schizophrenie erleiden
- es waren dies auch für Häftlinge
Reaktionsmöglichkeiten. Wesentliche
Unterschiede zwischen den Kindern
und Häftlingen in Extremsituationen
sind damit allerdings nicht ausgeräumt,
wie auch Bettelheim zugestehen muß. |
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|
|
Als
die Welt von den Greueltaten der Konzentrationslager
erfuhr, entfaltete sie eigene Abwehrmechanismen,
um die Greueltaten zu verarbeiten.
Bettelheim beschreibt drei typische
Reaktionen: 1) der Terror schien so
unheimlich, daß er auf eine
kleine Gruppe perverser und geistesgestörter
Personen beschränkt wurde; 2)
es wurde bestritten, daß die
Berichte aus den Lagern wahr seien;
3) man glaubte zwar den Berichten,
aber verdrängte das Wissen, so
schnell es ging. Bettelheim beklagte
mehrfach bitter, daß der Westen
viel zu wenig politisches Asyl den
Flüchtenden gewährte, was
viele zusätzlich in den Tod trieb. |
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Hinter
all diesen Abwehrmechanismen steckt
das Eingeständnis der modernen
Zivilisation, daß die Unmenschlichkeit
Teil des Zivilisationsprozesses geblieben
war. (30) Der moderne Mensch war nicht
in der Lage, seine Grausamkeit zu
beherrschen. Dieses Eingeständnis
aber forderte eben jene Abwehrweisen
heraus, die auch nach der Entdeckung
der Lager durch die Allierten, nach
den Nürnberger Prozessen bis
in die Gegenwart weiter wirken (vgl.
Bettelheim 1989, 272) |
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|
Neben
dieser Abwehrleistung des Auslands
ist es wichtig, auch die Abwehr der
Deutschen in den Blick zu nehmen.
Da die Konzentrationslager gerade
dazu dienten, auch die Deutschen einzuschüchtern,
ist es eine gigantische Verdrängungsleistung,
wenn nach dem Kriege behauptet wurde,
man habe von nichts gewußt.
Damit war in der Regel auch nur gemeint,
daß man das Ausmaß der
Greueltaten im Detail sich nicht vorstellen
konnte, gleichwohl aber Angst vor
den Lagern empfand. Wenn dann allerdings
im Ausland gesagt wurde, daß
die Deutschen nun logen, um sich ein
Alibi zu verschaffen, dann wird dies
nach Bettelheim der Situation auch
nicht gerecht. Er beschreibt die systemischen
Wirkungen, die zwischen Lüge
und der Angst vor Bestrafung im Zusammenhang
mit psychischen Prozessen herrschen,
die wir auch von Kindern kennen. Kinder
gebrauchen oft Lügen, um uns
zum Narren zu halten, weil sie sich
selbst zum Narren halten. Auch hier
regiert eine Abwehrhaltung: Aus der
Angst vor Strafe, aus dem Wissen,
daß sich die Wahrheit nicht
immer wird verbergen lassen, entsteht
der Impuls, sich selbst einzureden,
daß die Missetat niemals hätte
geschehen können oder geschah.
Darin reflektiert sich vielfach unbewußt,
daß Strafen dann höher
ausfallen, wenn wissentlich gehandelt
wurde (vgl. Bettelheim 1989, 311 f.).
Und was nützt der Katalog der
Strafen? Je härter die Strafen
sind, desto stärker wird die
psychische Abwehr herausgefordert.
Zudem ist zu berücksichtigen,
daß nicht nur die Deutschen
Schuld auf sich geladen haben - was
nicht als Entschuldigung für
Greuel gelten kann, sondern nur als
Erklärung für Verhalten
-, daß es vielmehr darauf ankommt,
zu erkennen, "daß ein unterdrückendes
Regime die Persönlichkeit erwachsener
Menschen so sehr desintegrieren kann,
daß sie aus reiner Angst das
fest glauben können, was sie
als falsch erkennen würden, wenn
ihnen dies die Angst erlaubte."
(Ebd., 312) |
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Adorno
leitete aus einer solchen Einsicht
ab, daß es oberstes Erziehungsziel
einer "Erziehung zur Mündigkeit"
sein müsse, daß nie wieder
Auschwitz sei. Die Geschichte nach
1945 zeigte sehr schnell, daß
die sogenannte Zivilisation des 20.
Jahrhunderts diesem Ziel nicht standhalten
konnte. Vielfältig haben seither
Diktaturen Menschen in Lager gesperrt,
gefoltert, ermordet - und damit immer
wieder Abwehrleistungen herausgefordert.
Die Psychologie der Extremsituationen
bedarf weiterer Differenzierung, bedarf
auch eines viel größeren
Forscherinteresses als bisher, um
uns nicht blind in der Abwehr gegen
das zu belassen, was Menschen täglich
bedroht und auch uns eines Tages wieder
direkt bedrohen könnte. Sowohl
die Latenz wie auch die Manifestationen
solcher Prozesse - heute besonders
für rechtsextreme Gewalt diskutiert
- zeigen die Notwendigkeit, daß
sich alle Menschen, insbesondere aber
die mit Erziehung befaßten,
dem Thema über die Enge des eigenen
Faches und möglicher Verdrängungen
hinaus stellen. Deshalb bleibt der
Satz von Adorno ein Stachel, der vor
allem die deutsche Pädagogik
schmerzt: Sie hat es bisher versäumt,
sich dieser Aufgabe umfassend zu stellen. |
|
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|
Für
eine Perspektive pädagogischer
Dekonstruktionen bleibt die Aussage,
"daß nie wieder Auschwitz
sei!", ein wesentliches Erziehungsziel.
Es ist ein dekonstruktivistisches
Ziel, denn wir erreichen die Konstruktion
solcher Wirklichkeit nur im indirekten
Nacherleben und -leiden, wir erdulden
die Rekonstruktionen, weil wir hier
etwas zur Kenntnis nehmen müssen,
was uns nach den Berichten derjenigen,
die dabei waren, schmerzt oder erzürnt.
Aber unsere eigene Aufgabe als konstruktive
ist vor allem dekonstruktiv ausgerichtet:
Wir haben, wo immer es geht, wann
immer es uns begegnet, wie auch immer
es erscheint, jeglicher Macht und
jeglichem Eingriff gegen die Menschenrechte
zu begegnen, bevor wir in einem System
von Tätern und Opfern gefangengesetzt
sind, das uns jegliche Dekonstruktion
ohnehin verbietet. Auschwitz ist uns
dafür ein Mahnmal, das für
viele andere steht. Diese anderen
stets aufzuspüren und nicht zu
vergessen, bestimmt Erziehungsziele,
die wir uns unabhängig davon,
was andere uns als Lehrpläne
vorschlagen, zu einem steten Lernplan
machen sollten. |
|
|
Literatur: |
|
Adorno,
Th.W. / Dirks, W. (Hg.): Sociologica.
Aufsätze, Max Horkheimer zum
sechzigsten Geburtstag gewidmet. Stuttgart
(Europäische Verlagsanstalt)
1955 |
|
Adorno,
Th. W.: Studien zum autoritären
Charakter. Frankfurt a.M. (Suhrkamp)
1973 |
|
Adorno,
Th.W.: Erziehung nach Auschwitz. In:
Adorno, Th.W.: Gesammelte Schriften,
Bd. X/2, Frankfurt a.M. (Suhrkamp)
1977 |
|
Becker,
D.:Ohne Haß keine Versöhnung.
Trauma der Verfolgten. Freiburg (Kore)
1992 |
|
Bettelheim,
B.: Freud und die Seele des Menschen.
München (DTV) 1986 |
|
Bettelheim,
B.: Aufstand gegen die Masse. Die
Chance des Individuums in der modernen
Gesellschaft. Frankfurt a.M. (Fischer)
1989 |
|
Bettelheim,
B.: Erziehung zum Überleben.
Zur Psychologie der Extremsituation.
München (DTV) 1990 a (4. Aufl.) |
|
Bettelheim,
B.: Themen meines Lebens. Stuttgart
(Deutsche Verlags-Anstalt) 1990 b
Federn, E.: Versuch einer Psychologie
des Terrors. In: Psychosozial, 12.
Jg. (1989), Heft 37 |
|
Fisher,
D.J.: Toward a Psychoanalytic Unterstanding
of Fascism and Anti-Semitism: Perceptions
from the 1940's. Manuskript Los Angeles
o.J. (Mittlerweile auf französisch
erschienen in: Rev. Int. Hist. Psychanal.
1992, 5, S. 221-241) |
|
Höss,
R. : Kommandant in Auschwitz. Autobiographische
Aufzeichnungen, München (dtv)
199213 |
|
Kaufhold,
R. (Hg.): Annäherung an Bruno
Bettelheim. Mainz (Matthias-Grünewald)
1994 |
|
Peukert,
H.: "Erziehung nach Auschwitz
- eine überholte Situationsdefinition?
Zum Verhältnis von Kritischer
Theorie und Erziehungswissenschaft.
In: Hoffmann, D. (Hg.): Bilanz der
Paradigmendiskussion in der Erziehungswissenschaft.
Weinheim (Deutscher Studien Verlag)
1991 |
|
Reich,
K.: Zur Psychologie extremer Situationen
bei Bettelheim und Federn. In: Psychosozial,
Heft 2/1993 |
|
Reich,
K.: Bettelheims Psychologie der Extremsituation.
In: Kaufhold, R. (Hg.): Annäherung
an Bruno Bettelheim. Mainz (Matthias-Grünewald)
1994 |
|
Reich,
K.: Systemisch-konstruktivistisch
Pädagogik. Neuwied u.a. (Luchterhand)
1996 (19972) |
|
Stierlin,
H.: Adolf Hitler. Familienperspektiven.
Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1975 |
|
Stierlin,
H.: Delegation und Familie. Frankfurt
a.M. (Suhrkamp) 1982 |
|
|
Fußnoten |
1. |
Dieser
Text wurde - in gekürzter Form
- am 8.5.1995 in der Universität
Köln, 50 Jahre nach Kriegsende,
vorgetragen und diskutiert. |
2. |
Es
ist vor allem eine Hypothese der Psychoanalyse,
daß nicht nur Interessen- und
Vernunftgründe für menschliches
Handeln bestimmend sind, sondern auch
innere An-Triebe. Gerade das hier
gewählte Thema wird es erlauben,
hierzu im folgenden spezifische Aussagen
zu machen. |
3. |
Ich
stütze mich nachfolgend auf Arbeiten
von Bruno Bettelheim und Ernst Federn.
Beide waren in Dachau und Buchenwald,
Federn selbst schrieb eine Arbeit
über Rudolf Höß, den
Kommandanten von Auschwitz. Vgl. hierzu
auch Reich (1993, 1994). |
4. |
Die
Wahl meiner Augenzeugen bedingt allerdings
- wie dem Leser auffallen wird - eine
spezifisch männliche Sicht. Sie
müßte in jedem Fall um
eine weibliche Sicht der Erfahrungen
in Konzentrationslagern erweitert
werden. Der Begriff Zeuge ist für
mich in diesem Fall sehr direkt, weil
ich mit Ernst Federn über seine
Erfahrungen ausführlich sprechen
konnte. Ich danke ihm an dieser Stelle
ausdrücklich für seine intensiven
und reflektierten Analysen. |
5. |
Federn
zählte sich damals zu den Trotzkisten.
Er gehört bis heute zu den Psychoanalytikern,
die mögliche Verbindungen von
Marx und Freud nicht in Abrede stellen.
Demgegenüber ist Bettelheim viel
stärker auf die Individualisierung
von gesellschaftlichen Phänomenen
fixiert, was sich insbesondere in
seiner negativen Beurteilung der Anti-Vietnamkriegsdemonstrationen
und seinem Unverständnis gegenüber
der "Studentenbewegung"
der 60er Jahre ausdrückte. Die
gesellschaftskritische Seite wird
an dieser Stelle, weil wir uns an
die Publikationen von Bettelheim und
Federn halten, nicht näher entfaltet,
obwohl sie stets notwendig ist. Die
psychoanalytische Betrachtung reduziert
sich auf psycho-logische Gesichtspunkte,
die nicht als ausschließlicher
Betrachtungsmaßstab mißverstanden
werden dürfen. Sie bieten gleichwohl
einen wesentlichen Blickwinkel, der
bei der Analyse von KZs oft übersehen
wird: das systemische Zusammenwirken
von Opfern und Tätern - und das
soll hier schwerpunktmäßig
hervorgehoben werden. |
6. |
Federns
Beobachtungen bauen hier auf Perspektiven
der Psychoanalyse auf. Vgl. als Einführung
in diesen Hintergrund z.B. die "Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse"
sowie "Neue Folge der Vorlesungen"
von Sigmund Freud. Zur Struktur des
psychischen Aparates vgl. insbesondere
Freuds "Metapsychologische Schriften"
(Das Ich und das Es). |
7. |
Eine
neuere Studie - ebenfalls aus psychoanalytischer
Sicht - zur Bedeutung der Folter hat
Becker (1992) vorgelegt. Sie ergänzt
und bestätigt die von Bettelheim
und Federn genannten Mittel des Terrors
am Beispiel von Folteropfern in Chile. |
8. |
Zur
Geschichte der Konzentrationslager
vgl. Bettelheim (1990, 47 ff. und
1989, 118 ff.) |
9. |
In
den ersten Jahren konnten noch jüdische
Häftlinge von den Familien freigekauft
werden. Bettelheim selbst hatte das
Glück, freizukommen und auswandern
zu können. |
10. |
Ernst
Federn, der sieben Jahre in Buchenwald
und Dachau verbrachte, entwickelte
Ansätze zu einer "Psychologie
des Terrors", in der er neben
den physischen vor allem die psychischen
Qualen als Terrorinstrumente hervorhob.
Vgl. Federn (1989). Federn war neben
Alfred Fischer ein wichtiger Gesprächspartner
von Bettelheim im Lager. |
11. |
Die
SS betonte gegenüber Häftlingen
immer wieder, daß das Erschießen
das deutsche Volk zu viele Pfennige
für die Kugel kosten würde,
daß mithin die Kugel zu schade
für den Häftling sei. |
12. |
Der
Begriff spielt auf Muslime an, die
sich fatalistisch in ihr Schicksal
fügen. Auch wenn die Zuschreibung
selbst schon fragwürdig und diskriminierend
ist, so ist vor allem zu bemerken,
daß die Lage der "Muselmänner"
nie eine der freien Wahl war, sondern
sich durch den Fremdzwang des Lagerterrors
ergab. |
13. |
Bettelheim
war auf den Lageraufenthalt nicht
unvorbereitet gewesen. Es lagen ihm
vor der Inhaftierung bereits Berichte
über Mißhandlungen und
Tötungen vor. |
14. |
Hier
helfen dann auch keine Systemtheorien,
die Systeme nur vermeintlich wertfrei
zu beschreiben versuchen. Als Teil
solcher unhinterfragt übernommenen
systemischen Netze produzieren wir
auch deren Folgewirkungen. Nur eine
dekonstruktivistische Perspektive
hilft uns, aus solchen Gefangenschaften
herauszutreten. Doch von hier aus
ist es noch ein großer Schritt
zum konkreten Widerstand, den Bettelheim
fordert. |
15. |
Zum
Hintergrund von Missionen als Modelle
der familiären Delegation vgl.
Stierlin (1982). |
16. |
Wenn
Tucholskys Satz: "Soldaten sind
Mörder", 1995 vom Bundesverfasungsgericht
als bedingt zulässig bezeichnet
wurde, so zeigt dies die Aktualität
soldatischer Widersprüchlichkeit.
Einerseits sind sie in ihren Nationen
Symbol für patriotische Tugendhaftigkeit
und gesellschaftliche Werte, andererseits
müssen sie menschliche Werte
dann vergessen, wenn sie kämpfen
und morden. Wird dieses Morden im
Namen der Nation heroisiert wie im
Kaiserreich und im Faschismus, dann
werden Typen wie Höss gefördert,
die ggf. auch vor Massenmord nicht
mehr zurückschrecken. Wer gegen
den als Metapher gemeinten Satz das
Verfassungsgericht anruft, der zeigt,
daß er von der deutschen Geschichte
nicht viel begriffen hat. |
17. |
Vgl.
dazu z.B. die Analyse von Helm Stierlin
(1975), der Hitler insbesondere aus
der Perspektive der Delegation durch
seine Familie beschreibt. |
18. |
Zum
Zusammenhang von Familienterrorismus
und öffentlichem Terorismus vgl.
die provokanten Thesen Stierlins (1982,
bes. 186 ff.). |
19. |
Persönliche
Mitteilung von Ernst Federn. |
20. |
Hier
zeigt sich eine Analogie zur Erfindung
der Massenvernichtungsmittel seit
dem Zweiten Weltkrieg, einer variierenden
Massenvernichtungsmaschinerie, die
Leute im Namen von Wissenschaft und
Pflichterfüllung mit biederer,
buchhalterischer Gründlichkeit
einsetzen. Die Pflichterfüllung
wird allerdings zusehend durch bloße
Profitinteressen verdrängt. |
21. |
Und
diese Andere sind andere/Andere als
durch uns imaginierte andere und tatsächlich
Andere. Gerade bei Höss siegt
ein imaginierter böser anderer
über den menschlichen Anderen,
der anders als ich sein darf. Vgl.
dazu die Erklärungen in Kapitel
3. |
22. |
Es
gibt mehrere psychoanalytische Versuche,
die Pathologie Hitlers oder anderer
Nazigrößen zu beschreiben.
Vgl. zu klassischen Ansätzen
z.B. Fischer (1992). Dies kann andererseits
aber nicht heißen, den gesamten
Faschismus allein aus psychischen
Mustern erklären zu wollen. |
23. |
Wobei
manche Menschen durch solche Szenarien
auch angeregt werden können,
ihre Phantasien mit realen Möglichkeiten
zu verwechseln, d.h. die Über-Ich-Schranken,
die ihnen verbieten, anderen Leid
zuzufügen, abzubauen. |
24. |
Adorno
(1973) führt Anti-Intrazeption
(Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen,
Spontanen), Aberglaube und Stereotypie,
Machtdenken und "Kraftmeierei",
Destruktivität und Zynismus,
Projektivität und Sexualität
als untersuchenswerte Kategorien an,
um autoritäre Charakterstrukturen
zu beschreiben. Bettelheim war an
diesen Studien beteiligt, da er im
Rahmen der "Studies in Prejudice",
die in fünf Bänden 1949
und 1950 erschienen, mit Janowitz
die "Dynamics of Prejudice"
am Beispiel von Veränderungen
der Charakterstruktur und Vorurteilsbildungen
unter besonderem Druck und Angst bei
ehemaligen Kriegsteilnehmern untersuchte. |
25. |
Im
Blick auf die deutsche Geschichte
ist die historische Ignoranz gegenüber
eigenen Erfahrungen offenbar heute
anders situiert als in den 50er und
60er Jahren; die Geschichte wird weniger
verdrängt, sondern einfach vergessen. |
26. |
Nachdem
in den 90er Jahren rechtsradikale
Gewalt in der BRD auftrat, gingen
die Anträge von Juden, die nach
Israel ausreisen wollten, sprunghaft
nach oben. Obwohl von der offiziellen
Politik hierzu kein Anlaß bestand,
wirkte die Zuschreibung der Allmacht
bei den Verschwörern hier als
selbsterfüllende Prophezeiung. |
27. |
So
besonders im Blick auf Regressionen
und Identifikationen im allgemeinen,
was hier nicht näher ausgeführt
werden kann. Die nachfolgenden Kriterien
werden aus Adorno (1973) entlehnt,
aber hier der Projektivität zugeordnet,
um auf die psychischen Abwehrmechanismen
und systemischen Wirkungen näher
hinzuweisen. Zu beachten ist, daß
solche kategorialen Zuschreibungen
immer von verschiedensten Blickwinkeln
aus gedacht und sinnvoll gegliedert
werden können, so daß der
hier vorgelegte Versuch nur anregend,
niemals aber abschließend bestimmend
sein kann. |
28. |
Im
Spätwerk kehrte Bettelheim eher
zu Freuds ursprünglichen Ansichten
zurück, vgl. Bettelheim (1986,
1990 b). |
29. |
Vgl.
einführend Kaufhold (1994). |
30. |
Hinsichtlich
der Ermordung von Geisteskranken hatte
es weltweite Proteste gegeben; bei
den Juden hingegen hatte die Weltöffentlichkeit
in etlichen ihrer Repräsentanten
- insbesondere der Papst und die Geistlichen
- geschwiegen. Vgl. Bettelheim (1990,
102 f., 114). |
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