Anton von Euw: Die künstlerische Gestaltung der astronomischen
und komputistischen Handschriften des Westens
In: Science in Western and Eastern Civilization in Carolingian
Times. Ed. by P.L. Butzer and D. Lohrmann. Basel 1993.
S. 251f:
Naturwissenschaften und Geschichte vereinigen sich in der Karolingerzeit
in einem gemeinsamen Überlieferungsträger. Dabei werden die rechnerischen
Wissenschaften gleichsam zum Mutterboden der historischen. Das Produkt
sind die Annalen, die zeitgeschichtlichen Bemerkungen der Historiker, die
diese an den Rand der von den Computisten errechneten Tabellen der Cycli
decemnovennales schrieben1.
Die Tafeln mit der 19jährigen Mondrechnung wurden nicht illuminiert,
ihre Zahlenkolumnen sind manchmal nur durch rote Linien getrennt. Man betrachtet
sie offenbar als praktische Materie. Im Gegensatz dazu wurden gleichzeitig
die ebenso Zahlenkolumnen enthaltenden Eusebianischen Kanontafeln in den
Evangeliaren und Bibeln mit überaus reich geschmückten Arkaden
ausgestattet, die ein großes Zeugnis der Antikenüberlieferung
in der Karolingerzeit sind2.
Historische Bücher wurden in der Frühzeit des Mittelalters noch
nicht illustriert. Erst die Handschriften der Gotik und der Renaissance
enthalten illustrierte historische Werke. So können wir uns auf die
Betrachtung naturwissenschaftlicher Kodizes beschränken.
Die mit den Annalen erweiterten Cycli decemnovennales finden sich
in vielen karolingischen Handschriften. Als Beispiele seien hier Cod. 83II
der Kölner Dombibliothek und Cod. 2500 der Stadtbibliothek Trier angeführt.
Cod. 83II wurde um
798 im Skriptorium des Kölner Domes begonnen und dort um 805 vollendet.
Der erste 19jährige Mondzyklus beginnt hier fol. 76v mit dem Jahre
798. Links am Rand stehen die Kölner Annalen, die bis zum Jahr 810
in Köln eine Feuersbrunst und zum Jahre 814 das Obiit Kaiser Karls
des Großen verzeichnen3.
Cod. 2500 in Trier, den jüngere Meinungen nicht mehr in Laon kurz
nach 876, sondern womöglich in Reims schon zu Beginn des 9. Jahrhunderts
entstanden sehen, enthält mit den Cycli decemnovennales die
Annales Laudunenses und später die Annales Trevirenses.
Der 17. Cyclus auf fol. 6v mit den Jahren 836-854 vermerkt beispielsweise
zum Jahr 840 eine Sonnenfinsternis und zum Jahr 843 die Geburt Mannos,
eines der bedeutendsten Lehrer im spätkarolingischen Frankenreich4.
1 Jaeschke, K.-U., "Annalen", in: LMA I
(1980), 657ss.
2 Nordenfalk, Kanontafeln, p. 55ss. - Von Euw, A., Das Buch der
vier Evangelien. Kölns karolingische Evangelienbücher. Kölner
Museums-Bulletin, Sonderheft 1 (1989), p. 16ss.
3 Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Dom
Cod. 83II - Jaffé-Wattenbach, Codices, No. LXXXIIIII
- Thiele, Antike Himmelsbilder, p. 145, 158ss. - Jones, Script
of Cologne, p. 37ss, No. 6. - CLA VIII, 1154. - Kat. Karl
der Große, Aachen 1965, No. 433. - Bischoff, B., "Über
Einritzungen in Handschriften des frühen Mittelalters", in: Mittelalterliche
Studien I, Stuttgart 1966, p. 88. - Von Euw, Imago mundi, p.
91ss. - McGurk, Carolingian Astrological Manusripts, p. 319, n.
17. - Von Euw, Ornamenta p. 392, No. C5. - Aratea, Faksimile
und Kommentar, p. 35, 37, 50.
4 Trier, Stadtbibliothek, Hs. 2500. - Von Euw-Plotzek, Handschriften
Ludwig 3, p. 108ss., XII 3. - Kat. Stadtbibliothek Trier, Karolingische
Beda-Handschrift (Chr. de Hamel), p. 14ss.
S. 255-258:
Auf dem Festland aber finden sich schon zu Beginn des 9. Jahrhunderts im
bereits zitierten Cod. 83II
der Kölner Dombibliothek eine sorgfältig in die Sammelhandschrift
hineinkomponierte Folge von fast seitenfüllenden Diagrammen mit kurzen
Erklärungen, die aus der Computus-Lehre sowie aus Bedas De temporum
ratione gleichsam exzerpiert sind18.
Cod. 83II gehört
zu den Hildebald-Handschriften des Kölner Domes. Hildebald war von
ca. 787-818 Erzbischof von Kö1n, seit 791 war er Archicapellanus am
Hof Karls des Großen, in der Hofgesellschaft wurde er Aaron genannt.
Die monumentale Handschrift vom Format 36,5 x 26,5 cm, die wie gesagt im
Jahr 798 begonnen und um 805 vollendet wurde, darf demnach gewissermaßen
ins Zentrum des damaligen wissenschaftlichen und kulturellen Geschehens
gerückt werden, und es lohnt sich, einen Blick auf ihre Bilder zu
werfen, denn sie sind keine Interlinearillustrationen wie die Isidor'schen,
sondern selbständige Bilder, die der Text nur mehr als erklärende
Beischrift begleitet. Die Bilderreihe beginnt auf fol. 79v mit einem Diagramm
zum Cyclus paschalis (Abb. 3). Der Text nennt Gelehrte wie Bischof Hippolyt
von Rom, der sich schon mit dem 19jährigen Osterzyklus befaßt
habe. Er soll zur Zeit des Kaisers Alexander Severus (222-235) den Kreis
(cyclum) beschrieben haben. Es folgt danach eine kurze Erklärung des
Cyclus und schließlich der Satz: unde etiam figuram de cyclo paschali
demonstramus ita - daher zeigen wir auch die Figur vom Osterzyklus
auf folgende Weise. Zu sehen sind 19 Kreissegmente der 19 Jahre des Mondzyklus,
zu denen ein 20. Segment mit den 7 Wochentagen und der Epakte, die den
Kreis von innen nach außen in 8 Bahnen teilen, hinzukommt. In den
so entstandenen Feldern stehen die errechneten Daten. Das Diagramm beruht
folglich auf derselben Anordnung konzentrischer Kreise wie das Diagramm
auf fol. 136v. im Kölner Codex 83II
aus Isidors De natura rerum mit dem Thema De ordine et positione
septem stellarum errantium - von der Ordnung und Stellung der sieben
Wandelsterne (Abb. 4).
Auch fol. 80r in Cod. 83II
der Kölner Dombibliothek ist dem 19jährigen Mondzyklus gewidmet.
Der Titel lautet: Hic est cyclus lunaris, per XVIIII annos volvitur
et in XII menses regulatur (Abb. 5). Wieder wird der Kreis umlaufend
in 19 bzw. 20 Segmente geteilt, nach innen laufen hier jedoch die 12 Bahnen
der 12 Monate des [S. 256:] Jahres. Auf fol. 81r findet sich die Berechnung
der Wochen und der Tagesstunden, das untere Diagramm ist ein Horologium,
eine Sonnenuhr (Abb. 6). Stets ist es die Kreisform, in die die entsprechenden
Daten eingebracht werden, und es besteht kaum Zweifel darüber, daß
sich in der Form dieser Diagramme das platonische, geozentrische Weltbild
spiegelt.
Dieser Idealform des Universums bedient sich auch das Bild auf fol. 81v
in Cod. 83II der Kölner
Dombibliothek (Abb. 10). Wir sehen drei verschiedene, kreisförmige
Umlaufbahnen der Sonne, quergeteilt durch den Äquator, dessen linke
Seite stets in der Nacht, dessen rechte Seite immer im Tag liegt, und längsgeteilt
durch den Meridian, der die Linie der Tag- und Nachtgleiche bildet. Die
drei Bahnen mit den Sonnenständen zeichnen demnach außen das
Sommersolstitium, in der Mitte das Frühlings- und Herbstäquinoktium
und innen das Wintersolstitium mit den kürzesten Tagen nach. Auch
hier ist der Lauf der Sonnen planisphär, das heißt in die Fläche
projiziert.
Auf fol. 82r im Kölner Cod. 83II
(Abb. 7) findet sich ein besonders interessantes und meines Wissens einmaliges
Diagramm zum Thema der Quinque circuli, der fünf Zonen oder
Breitengürtel der Welt enthält, die Isidor, dessen Diagramm auf
fol. 130v in Cod. 83II
(Abb. 8), ganz anders illustriert. Isidor gibt die fünf Klimazonen
der Welt in Form von 5 Kreisen wieder , die nach dem Muster der 5 Finger
der Hand in dem mit einem Kreis angedeuteten Universum angeordnet sind,
eine recht primitive Bildsetzung der antiken Theorie. In Cod. 83II
dagegen ist der lllustrator bemüht, die Klimatheorie bildlich der
Kugelform des Universums anzupassen. Er bringt die ersten 4 Zonen in Form
von Kugelsegmenten, wobei er Zone 4, das ist die zweite bewohnbare Zone,
mit einem Kreis belegt, in dem er die Äthiopier und die Rifei montes
lokalisiert. Die 5., unbewohnbare Zone, setzt er unten an und zentriert
sie noch einmal mit einem Kreis. Ein solches Bild entsteht nicht von ungefähr.
Es ist gleichsam die Synthese aus einem antiken, dreidimensionalen Himmelsglobus,
der den Zodiakalkreis und die Zonen wiedergibt sowie andererseits aus der
Isidorschen Methode des Zählens nach den fingern der Hand, die beim
Daumen beginnt und zum kleinen Finger führt19.
Als Beispiel eines Himmelsglobus sei die Miniatur auf fol. 2v in Cod. Vat.
gr 1291 abgeführt. Er entstand in Konstantinopel wahrscheinlich unter
Kaiser Leon V. (813-820), dem Armenier, und enthält den Tetrabiblos
des Claudius Ptolemaios. Man sieht darauf den Fixsternhimmel mit dem Zodiakalkreis
sowie die Linien des Meridians, des Äquators und der Klimazonen (Abb.
9)20.
[Seite 257:] Zwei andere Bilder aus Cod. 83II
der Kölner Dombibliothek sind auch in sofern wieder interessant, als
sie die Art, mit der Isidor seine Gebilde mit dem Kreis umrandet oder,
sie im Quadrat zusammenfaßt, variieren. Das eine ist fol. 82v mit
der Concordatio solis et lunae per XII menses, das heißt die
Übereinstimmung von Sonne und Mond im Tierkreis wahrend der 12 Monate
(Abb. 11). Ein innerer Kreis trägt die Namen der Tierkreiszeichen,
ihm folgen nach außen drei Blütenblattkränze in Form von
Dreiviertelkreisen. Der äußerste Blattkranz enthält die
Namen der Monate, die inneren Kränze enthalten die Zahlen der Tage,
in denen Sonne und Mond durch die Zeichen ziehen. Merkwürdig ist,
daß die Planeten nicht in dieses System eingebunden sind, sondern
gewissermaßen am Rand an den Punkten eines Vierecks ihre Position
haben. Wir lesen unten links: Primus Saturnus XXX annis signiferum complet
- als erster vollendet Saturn die Bahn durch den Tierkreis in 30 Jahren,
als zweiter Jupiter in 12 Jahren, als dritter Mars in 2 Jahren, als vierter
die Sonne in 365 Tagen und einer Viertelstunde, als fünfter Venus
in 359 Tagen, als sechster Merkur in 349 Tagen. Oben links in den Kreisen
steht geschrieben: Novissima luna XXVII diebus et VIII horis etc.
etc. Das Universum und seine Bewegung sind somit in eine ganz andere Form
gebracht, als sie die Griechen und Römer und Isidor lehrten, es hat
sich vom antiken Raumgebilde erheblich entfernt. Die Planeten sind gleichsam
aus dem geschlossenen System ausgebrochen. Etwas näher an die scheinbaren
Himmelsbewegungen heran führt das Diagramm auf fol. 83r (Abb. 12).
Sein Text sagt: In diesem Kreis steht geschrieben, wieviel der Mond
von der Sonne abweicht, wieviel am 15., wieviel am 30. etc. - und wie sie
ihren Sitz in den einzelnen Tierkreiszeichen nimmt. Wir sehen hier
einen mittleren Kreis, der als Position der Erde zu denken ist. Ihn schneiden
12 exzentrische Kreise, wohl als Bahnen für Sonne und Mond, die durch
die an der Peripherie liegenden Kreise der Tierkreiszeichen führen.
Die Sonne selbst ist jeweils als kleiner Kreis, der Mond als Sichel wiedergegeben.
Die beiden Seiten sind meiner Ansicht nach nicht nur Diagramme, sondern
Kunstwerke. Das Kunstwerk bildet in vollkommener Harmonie eine Welt nach,
die einst Aratos Phainomena nannte. Hier aber ist es eine Scheinwelt im
eigentlichen Sinne des Wortes. Sie hat sich von den Modellen der Antike
entfernt, ihre Baumeister haben sie zwar mit herkömmlichen Elementen
zusammengefügt, haben ihr aber letztlich die funktion und den Realitätscharakter
genommen. Durch das Zurückfinden zur Antike kann, wie wir sehen werden,
beides wiedergewonnen werden.
Als Kunstwerke dürfen wir auch die beiden folgenden Seiten, fol 83v
und fol. 84r in Cod. 83II
der Kölner Dombibliothek bezeichnen. Auf den Kreisbahnen von fol.
83v (Abb. 13) sind innen die Namen der Monate und die Anzahl ihrer Tage
angegeben, außen die Bewegung von Sonne und Mond im jeweiligen Mond-
und Sonnenmonatssektor . Koordiniert damit ist unten ein Viererschema mit
Kreisen, in denen die Daten der Solstitien und Äquinoktien zu finden
sind. Sie vertreten, wie die in Kreuzform angebrachten Worte Annus,
Solistitium und Quattuor tempora andeuten, die vier Jahreszeiten.
Wieder erfolgt der kompositorische Grundplan nach dem Muster von Quadrat
und Kreis. Faszinierend ist auch das Bild auf fol. 84r. Die Anleitung dazu
lautet: Das ist die in vier Teile geteilte Welt, der Osten, der Westen,
der Süden und der Norden - und die Namen der Winde sind hier geschrieben
- und wieviel Fuß der Schatten hat in jedem Monat zu den Stunden,
ist hier herauszufinden, und wieviel er abnimmt und wieviel er wächt
in jedem Monat. In der Tat bietet aber das Diagramm weit mehr, als
die Anleitung sagt, denn in seiner Mitte lesen wir die Namen der vier Elemente,
der vier Körpersäfte und die Namen der vier Jahreszeiten. Die
Worte KOCMOC , mundus, annu, homo - Universum, Welt, Jahr, Mensch
- geben dem Ganzen schließlich die universale Dimension, in der der
Mikrokosmos mit dem Makrokosmos übereinstimmt21.
Der Zeichner dieses Diagramms konstruierte ähnlich wie der Opifex
Platons aus dem Dreieck das Quadrat und umschloß es mit dem Kreis,
dessen Kern wie das vierteilige Urelement wieder das Quadrat ist. Auf der
Vierzahl der Elemente und ihrer Analogien in den Jahreszeiten und Körpersäften
beruht auch hier die Zusammensetzung der Welt. Geometrie und Sprache sind
die Dimensionen dieses Bildes. Das daraus entstandene Gebilde ist mit einem
Carmen figuratum, einem Bildgedicht, vergleichbar. Carmina figurata aber
gehören zu den höchsten geistigen Leistungen der Karolingerzeit22.
18 Cod. 83II
bringt fol. 76v - 79r die Tabellen des Cyclus decemnovennalis beginnend,
mit dem Jahr 798, fol. 79v - 85v astronomisch-komputistische Diagramme,
fol. 86r - 125v Beda, Auszüge aus De temporibus und De temporum
ratione, fol. 126r - 145r Isidor, De natura rerum.
19 Eine Gegenüberstellung dieser beiden Zonendiagramme bringen schon
die englischen Handschriften des 12. jahrhunderts, beispielsweise W73 in
Baltimore. - Vgl. Bober, School-Book, p. 87ss., Fig. 16ss.
20 Ainalov, Hellenistic Origins, p. 21s., Fig. 7.
21 Abbildungen der Figur bei: von Euw, "lmago mundi" p. 95 und
Ornamenta, p. 421. - Die Literatur zum Makrokosmos und Mikrokosmos
bringt: Reudenbach, B., "ln mensuram humani corporis", in: Text
und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste im Mittelalter
und früher Neuzeit, hg von Chr. Meier und Uwe Ruberg, Wiesbaden
1980, p. 656 ss.
22 Schaller, D., "Figurengedichte", in: LMA IV (1989),
441 ss.