DFG-Forschungsprojekt
Der bisherige Mangel an wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Autorenlesung lässt sich darauf zurückführen, dass es sich um marginalisierte Phänomene des Literaturbetriebes handelt und stattdessen das Modell Text dominiert. Genette zählt signifikanterweise bei seinen Paratexten Lesungen nicht zum ‘Beiwerk des Buches’. Der Autor als Vorleser seiner eigenen literarischen Texte bzw. als Vortragender über Literatur nimmt jedoch einen prominenten Stellenwert in den skandinavischen Literaturen um 1900 ein, gerade wenn es einerseits um die Promotion des eigenen Textes, neuer Diskurse über Literatur, aber auch der eigenen Person geht.
Eine Engführung von literatursoziologischen und performativischen Ansätzen ermöglicht es, die Lesung als bisher vernachlässigte Erscheinungsform von Literatur zu analysieren und im Feld der Literatur zu kontextualisieren. Neben den soziokulturellen und marktstrategischen Aspekten gilt es, nach der Aktualisierung von Texten zu fragen, wenn sie einerseits öffentlich vorgelesen werden, die Lesung selbst dann aber wieder Gegenstand von neuen Texten wird. In der Performanz der Lesung verschwindet die Differenz von Autor und Werk, bereits oder noch nicht Publiziertes wird in der Präsenz des Augenblicks zurück- bzw. vorweggenommen und eröffnet so neue Perspektiven auf den Autorbegriff.
In methodischer Hinsicht ist zu beachten, dass Performativitätsforschung sich heute u.a. den ‘Performances’ zeitgenössischer Autoren widmet, wobei dort die Beschreibung und die Analyse der performativen Eigenschaften entweder durch Anwesenheit oder Stimm- und Bilddokumentation gelingen können. Die literarische Praxis der Autorenlesung bzw. der Lesereise kann hingegen für die vorletzte Jahrhundertwende nur sekundär, d.h. wiederum über Textdokumente, untersucht werden, wodurch die Rekonstruktion der Aufführung und ihrer Rahmenbedingungen selbst das Ereignis aktualisiert.
Für die Untersuchung der Lesungen und Vorträge ergeben sich folgende Leitfragen: Welche Rolle spielen öffentliche Lesungen im literarischen Feld um 1900? Welchen Stellenwert nehmen diese literarischen Praktiken für die jeweiligen Autorenkonstruktionen ein, auch in Anknüpfung an Teilprojekt 2? Wie lässt sich der Habitus des öffentlich vorlesenden Autors beschreiben und zum literarischen Feld in Beziehung setzen? Lassen sich genderspezifische Konstruktionen feststellen und analysieren? Wie werden die neuen medialen Möglichkeiten genutzt, wie sie in den Teilprojekten 5 und 6 untersucht werden? Ein Katalog von Gesichtspunkten und Themen in diesem Zusammenhang muss darüber hinaus Aspekten von Mündlichkeit/Schriftlichkeit, Schauspiel- und Stimmkunst, Berufsschriftstellerei, Verlags- und Autorenmarketing usw. Rechnung tragen.
Es bietet sich an, diese Fragen für jedes der Länder Dänemark, Norwegen und Schweden exemplarisch an je einem Autor zu beantworten: Herman Bang, Knut Hamsun und Selma Lagerlöf. Für diese kanonisierten Autoren war die Lesung konstitutiver Bestandteil ihrer Autorschaften.
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Skandinavisches Seminar |
Universiteit Gent Vakgroep Scandinavistiek en Noord-Europakunde |
Universität zu Köln Institut für Skandinavistik/Fennistik |