Das
Reale ist ein wichtiger Grundbegriff im
interaktionistischen Konstruktivismus. Es
soll eine Grenze bezeichnen, die dadurch
entsteht, dass wir nicht behaupten können,
dass Menschen alles konstruiert hätten.
Zwar konstruieren Menschen durchweg ihre
Realität, ihre Versionen von Wirklichkeiten,
in denen sie denken und handeln, aber es
gibt immer auch eine Grenze des Konstruierten,
die sich dann geltend macht, wenn von außen
Ereignisse an uns herantreten.
In
der Praxis macht sich das Reale immer wieder
geltend. Individuell erscheint es mir z.B.
als Staunen, weil ich im Gegensatz zu meinen
Imaginationen oder symbolischen Theorien
über die Realität (die ich immer
schon als etwas voraussetze) Erscheinungen
bemerke, die ich nicht erwartet habe. Es
mag auch der Moment einer sinnlichen Gewissheit
in der Wahrnehmung vor dem Verstand und
der Vernunft sein, die mir eine mir äußerliche
Welt auf einem Schlag ganz klar, rein und
erhaben, vielleicht auch schrecklich schön
oder unverständlich gewaltig erscheinen
lässt.
Auf der Seite der gesellschaftlichen Praktiken
erscheint heute dieses Reale, das wir als
Grenze zu unseren Konstrukten und Methoden
und Praktiken anerkennen müssen, zunehmend
mehr als Risiko. Es sind die Risiken unserer
Praxen selbst, die im Realen immer wieder
schonungslos aufgedeckt werden. Die Rede
von der Risikogesellschaft (Beck) zeigt,
dass unsere Erfindungen, Technologien, Strategien
sehr oft nicht nur kontrollierbare Effekte
im engeren Beobachtungs- und Handlungsfeld
erbringen, sondern Gegeneffekte in anderen
Feldern erzeugen, die kaum zu kontrollieren
sind. Je mehr wir auf die Viabilität
unseres Fortschritts setzen, desto gefährlicher
werden die Risiken, die nicht nur eine uns
äußere Natur gegen uns im Sinne
von unvorhersehbaren Naturkatastrophen schicksalhaft
gegen uns zu führen scheint, sondern
die wir durch Kultur und Technik ebenso
real erzeugen. Es ist dies keine von uns
geplante und kontrollierte Realität,
sondern sie kommt als Reales von außen
und scheinbar unerwartet zu uns zurück.
Die Theorie des Unerwarteten nennen wir
dann z.B. die Theorie der Risikogesellschaft.
Wir erkennen Risiken in unterschiedlicher
Weise an: Als von Menschen konstruierte
oder produzierte, als vom Menschen oder
von der Natur produzierte Unfälle,
die aufgrund unterschiedlicher Faktoren
zu Stande gekommen sind, als Katastrophen,
die nicht vorhersehbar waren, als Ausdruck
vergessener Risiken bei technischen Entwicklungen,
als Erscheinungsformen des Terrorismus,
die den Schrecken der Überraschung
nutzen usw. Das Reale zeichnet sich in unseren
Praxen eben dadurch aus, dass wir nicht
wissen können, was alles geschehen
wird. Immer erst im Nachhinein werden wir
wissen, was wir nicht wussten oder vorstellen
konnten. Das Reale wird in unseren Praxen
mithin zu einem Grenzbereich, den wir von
unseren übrigen Weisen der Welterzeugung,
die uns als Realität (oder synonym
als Wirklichkeit) erscheinen, deutlich unterscheiden
müssen. Wenn wir das Reale benennen,
diese Pointe müssen wir hinnehmen,
gehört es allerdings schon zu unserer
mehr oder minder reflektierten Realität.
Es markiert also eine Grenze der Reflexion.
Der Unterschied von re/de/konstruierter
Realität und einer Grenze der Unvollständigkeit,
des Ungewissen und Unbewussten ist erkenntniskritisch
wichtig. Hierbei müssen wir zweifach
sehen lernen:
Individuell ist die Sozialisation des Menschen
ein Abarbeitungspotenzial an Erfahrungen
(experience) mit dem Realen: Mein individuelles
Wissen, meine Lebenserfahrung in meiner
Biografie, meine Wahrnehmung und mein Vorstellen
sind stets mit realen Ereignissen konfrontiert:
Sie sind unvollständig und vervollständigen
sich nach und nach immer mehr, ohne je voll
werden zu können; sie sind ungewiss
und werden doch nach und nach gewisser,
ohne je Gewissheit erreichen zu können;
sie sind unsichtbar miteinander verknüpft
und erst im Nachhinein – wenn überhaupt
– verstehe ich, was jenes Reale für
mich damals verändert hat und hieraus
re/konstruiere ich mir meine Biografie.
Gesellschaftlich ist das Reale zu einem
gewissen Teil immer schon kulturell, sozial,
ökonomisch usw. strukturiert gegenüber
individuellen Möglichkeitserwartungen.
Die Mehrheit der Verstorbenen und gegenwärtig
Lebenden z.B. wusste oder weiß mehr
als ein Individuum. Überall gibt es
Wissensvorräte – mitunter vergessene
–, die das schon als symbolische Realität
für sich fixiert haben, was ich erst
noch für mich real erfahren muss. Es
ist diese Differenz, die das Reale an allen
Orten erscheinen lässt und zugleich
so ungleich über die Menschen verteilt:
nach Wissen und Unwissen, Halbbildung und
Unbildung, Macht und Ohnmacht usw.
Und noch eine Unterscheidung ist aus konstruktivistischer
Sicht für das Reale maßgeblich.
Das Reale erscheint zunächst als ein
extern Reales, das als eine nicht vom Menschen
gemachte Realität wirkt. Es erscheint
in unseren Diskursen wie eine Mahnung an
unsere Ohnmacht. Aber seine Externalität
und Unverrückbarkeit, hierüber
sollten wir uns keine Illusionen machen,
ist immer in großen Teilen in unsere
re/de/konstruktive Verfügungsgewalt
gestellt. So versuchen wir es symbolisch
und imaginär einzuverleiben und zu
bearbeiten, damit es von all seinem Schrecken
oder Staunen das Ungewohnte und Bedrohliche
verliert und zu unserem Bild und einer verstehbaren
Ordnung wird. Vielleicht ist so auch die
Fülle an Gewalt- und Ereignisfilmen
zu erklären, die das Reale als katastrophale
Bedrohung uns dramatisiert, damit wir es
als schrecklich genießen können,
ohne es tatsächlich erleben zu müssen.