Ethik in der Moderne

Das Wort Ethik hat mehrere etymologische Bedeutungen. Es bezeichnet

  1. den gewohnten und bewohnten Aufenthaltsort (vgl. PhW 1970: 328),
  2. die gewohnte Art sich zu verhalten, Sitten und Bräuche etc. (vgl. ebd.),
  3. und die sittliche Gesinnung, die Sittlichkeit (vgl. ebd.).

Diese drei Bedeutungen fließen im stilisierten Bild einer Vormoderne zusammen: In der Vormoderne herrschte eine verbindende und verbindliche Sittlichkeit. Dies meint: Man tat aus Gewohnheit das Gute, d.h. dasjenige was dem Wohl derjenigen diente, mit denen man zusammen lebte.

Hält man diesem stilisierten Bild ein nicht minder überzeichnetes Bild der Moderne gegenüber, dann kann man sagen: In und mit der Moderne, wird diese verbindende und verbindliche Sittlichkeit brüchig. Das Kennzeichen der Auflösung ist Freiheit. Das Individuum - verständlicherweise ist von Freiheit und Individualität in der Vormoderne wenig die Rede - wird aus den räumlichen, den be- und gewohnten Lebensbezügen und damit auch aus der Sittlichkeit freigesetzt.

Fortan muss die Sittlichkeit, die ein "gutes Handeln" verbürgte, wiederhergestellt werden; und zwar derart, dass sie der Freiheit nicht widerspricht. In und aus Freiheit soll das "gute Handelns" wiederhergestellt werden. Deshalb soll ein ethischer Code / eine Moral gelten, der / die die Verbindlichkeit des guten Handelns garantiert.

Beispielsweise findet sich in den mit der Französischen Revolution proklamierten Menschen- und Bürgerrechten von 1791 folgende Freiheitsdefinition (Artikel 4): "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet".

Ein weiteres Beispiel ist Kants kategorischer Imperativ: "Handele so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."

Diese Codes waren Versuche, die Freiheit so einzuschränken, dass ein gutes Zusammenleben in Freiheit realisiert wird bzw. Schaden vermieden wird. Zumindest drei Prinzipien, denen solche Codes folgen, kann man ableiten:

  1. Die Codes sollen allgemein bzw. universell sein. Sie sollen - über die vormoderne Beschränkung hinaus - für alle, zu allen Zeiten und an allen Orten gelten. Der Vorteil dieser Konstruktion ist: Keine Einzelner, keine Gruppe und/oder Klasse darf sich, z.B. aufgrund von Privilegien, über den Code erheben. Der Schatten - aus postmoderner Sicht - dieser Konzeption ist: Unter dem Allgemeinen wird das je Besonderen zugerichtet. Die Regeln üben einen Zwang über das je Individuelle aus!
  2. Die Codes sollen rational sein. Dies hat den Vorteil, dass die Geltung der Codes jedem rationalen Wesen verständlich gemacht werden kann bzw. das die Geltung begründet werden muss. Das vormoderne gute Handeln aus Gewohnheit wird von reflexiver Zustimmung abgelöst, denn erst wenn man einer Regel zustimmen kann, dann kann man auch Folgebereitschaft erwarten. Auch hier gibt es - aus postmoderner Sicht - Schatten: a) Reflexive Zustimmung bewirkt nicht ein gutes Handeln. b) Irrationales wird der Rationalität unterworfen. Die Unterwerfung kann in Ressentiment umschlagen, dass sich ggf. in Moral umwertet und moralisch verkleidet.
  3. Die ethischen Codes sollen dem Prinzip der Gegenseitigkeit folgen. Der Vorteil ist: Dem Einzelnen kann einsichtig gemacht werden, dass das Befolgen der Codes mit seinen Interessen vereinbar ist. Die vormoderne Verbindlichkeit der Sittlichkeit durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird von einem wechselseitigen Ausgleich der je individuellen Interessen abgelöst. Trotzdem wird ein Schatten - aus postmoderner Sicht - mit erzeugt: Der Code ist berechnend! Ethische Handlungen, die nicht der Wechselseitigkeit folgen, werden weniger wahrscheinlich.
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