3.
Theoretische und praktische Begründung
Reich
[Konstruktivistische Didaktik. Lehren und Lernen aus interaktionistischer
Sicht. Neuwied 2002, 298 f.] gibt folgende Definition von Zirkularität:
„In Beziehungen gelten keine eindeutigen und strikten Kausalbezüge,
die linear ein Verhalten festlegen oder Kommunikation beschreiben
können. Das Verhalten eines jeden Elements in einem zirkulären
System ist durch Rückkopplung bedingt. Wenn sich auch technische
Regelkreise nicht auf menschliches Verhalten direkt beziehen lassen,
da sie nur einfache Wechselwirkungen beschreiben, so kann man
dennoch die Metapher des Feedback aufnehmen und auf menschliche
Kommunikation anwenden. Dies betrifft insbesondere die Erweiterung
einer bloß kausalen Wenn-dann-Beziehung hin zu einer zirkulären:
Jede kommunikative Äußerung wird in einer Kommunikation
Anlass für andere Äußerungen, die dann, wenn sie
zum Kommunikator zurückkehren, wieder Anlass für neue
Äußerungen werden. Jede Äußerung birgt eine
potenzielle Anregung oder auch Verstörung des Systems in
sich. Dies ist für menschliche Kommunikation typisch. Lineare
Wenn-dann-Zuschreibungen sind für kommunikative Prozesse
immer zu einfach. Menschen sind keine Planetensysteme, die nach
klar zu bezeichnenden Regeln um sich kreisen und vorausberechnet
werden können. Eine zirkuläre Sichtweise hilft, die
Verwobenheit von interaktiven Bezügen anzuerkennen ...In
einer zirkulären Haltung stehen wir möglichen
Ursachen und Wirkungen offener gegenüber als in einer bloß
kausalen Suche. Wir betrachten zirkulär vor allem die Unterschiedlichkeit
der individuellen Erfahrungen und Erlebnisse, die wir kommunikativ
austauschen, um ein tieferes, weites Bild über uns und unsere
Interaktionen zu erhalten.“
Sowohl in der systemischen Therapie als auch in der konstruktivistischen
Didaktik spielt eine Öffnung zu den Beziehungen, damit auch
zur Zirkularität eine entscheidende Rolle. Man geht grundlegend
davon aus: „Menschen denken ständig über andere
nach und darüber, was andere über sie denken und was
andere denken, dass sie über andere denken usw. Man fragt
sich, was nun in den anderen vorgehe, man wünscht oder fürchtet,
dass andere Leute wissen könnten, was in einem selbst vorgeht“
[Laing u.a.: Interpersonelle Wahrnehmung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp)
1971, 37].
Die systemische Therapie und Beratung beschäftigt sich hauptsächlich
mit der Deutung von Beziehungswirklichkeiten in einem interaktionistischen
System, z. B. der Familie. Weg von dem kausalen/linearen Ursache-Wirkungs-Modell,
das einfache lineare Handlungsketten beschreibt, versucht die
Systemtherapie Prozesse und Systeme in ihrer ganzen Komplexität
zu erfassen. In dieser systemischen Sichtweise werden Ursachen
und Wirkungen von menschlichem Verhalten zirkulär aufgefasst.
A |
|
B |
A |
|
B |
lineares,
kausales Modell |
zirkuläres
Modell |
Dabei wird u.a. auch das Täter-Opfer-Prinzip aufgebrochen. Viele Menschen erklären ihre Aktionen als Reaktionen auf das Verhalten anderer. Damit schieben sie jegliche Verantwortung und Schuld von sich. Das führt aber auch zu einem Ohnmachtgefühl. Scheinbar unfähig, in Situationen eingreifen zu können, da der andere als Ursache ihres Verhaltens angesehen wird und Macht über die Situation zu haben scheint, sehen sie sich in der Opferrolle. Die fehlenden Handlungsoptionen führen zu einer Stagnation und gleichzeitig zu einer Stabilisierung des vorhandenen Interaktionsmusters.
Aber alle menschlichen Regungen, wie z. B. Verhaltensweisen, Symptome, unterschiedliche Formen von Gefühlsausdrücken usw., können sowohl als im Menschen ablaufende Ereignisse als auch als Ausdruck von wechselseitigen Beziehungsdefinitionen betrachtet werden. D.h., jede menschliche Regung ist immer auch eine Botschaft von jemandem an jemanden: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick u.a.).
Betrachtet man nun beispielsweise als Außenstehender eine Familie zirkulär, so wird deutlich, dass jeder die Bedingungen für das Verhalten aller anderen mitbestimmt. In manchen Fällen bestimmt zwar einer die Bedingungen mehr als umgekehrt, trotzdem kann man diese Tatsache aber nicht auf eine berechenbare Ursache-Wirkungs-Beziehung reduzieren. Verhalten ist zugleich verursacht und verursachend. Dabei findet eine Entwicklung statt, die immer rückbezüglich/rekursiv ist. Diesen dynamischen Vorgang kann man sich bildlich als Spirale vorstellen, die sich stetig fortsetzt.
Deckt man nun die Zirkularität auf und macht sie allen Beteiligten sichtbar, so schafft man neue Möglichkeiten der Beurteilung und daraus folgend neue Handlungsmöglichkeiten. Das bedeutet, es wird „neue Information im System“ (Schlippe/Schweitzer 1998, 141) gestreut, durch die bei allen Beteiligten neue Sichtweisen und Denkprozesse angeregt werden. Alte, oft eingefahrene Denkmuster können aufgebrochen und neue Lösungswege für Probleme beschritten werden.
Methodisch wird dies durch das Zirkuläre Fragen besonders gefördert, ein Frageverhalten, das nie direkt ist, sondern eine Außenperspektive erfragt, die neue Sichtweisen in einen Beziehungskontext einführt.
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