Klassische Methoden in der konstruktivistischen Didaktik

 

(aus "Konstruktivistische Didaktik", 2. Aufl. S. 276 ff.):

 

Herkömmliche Unterrichtsstunden werden auch in einer systemischkonstruktivistischen Perspektive nicht verschwinden. Aus der konstruktivistischen Unterrichtsforschung ist jedoch bekannt, dass der Erfolg solcher Stunden von bestimmten Bedingungen abhängt, die vorrangig auf einer konstruktiv orientierten Einstellung zum Lehr- und Lernprozess basieren. Dabei werden Mindestanforderungen an eine konstruktivistische Didaktik deutlich, die als orientierender Rahmen für alle unterrichtlichen Lernvorgänge – besonders aber für die klassischen Unterrichtsstunden – gelten:

 Konstruktiv-aktives Lernen: Jeder Lerner benötigt hinreichend Zeit, um einen Lernstoff sich subjektiv-aktiv anzueignen. Dabei muss diese Aneignung eine konstruktive Perspektive aufweisen, d.h. eine Chance, sich selbst möglichst weitreichend an der Planung, der Durchführung und der Kontrolle von Handlungen beteiligen zu können. Erworbenes Wissen soll hier nicht als träges Wissen durch äußere Belohnungssysteme bloß abgerufen und belohnt werden, sondern ein aktives Wissen sein, das der Lerner flexibel nach seinen Bedürfnissen und situativen Erfordernissen einsetzen kann (vgl. dazu Mandl/Gerstenmeier: Die Kluft zwischen Wissen und Handeln. Göttingen 2000). Deshalb ist ein partizipatives Lernen zu bevorzugen, das dieser methodischen Einstellung grundlegend entspricht. Insofern sind Stunden im ausschließlichen Frontalunterricht abzulehnen. Auch bei einem überwiegenden Einsatz einer darstellend- oder fragend-entwickelnden Unterrichtsmethode ist kritisch zu bedenken, dass hierbei der Lehrer zu lange einseitig im Vordergrund steht. Für kurze, überschaubare Phasen ist nichts dagegen einzuwenden, aber leider hat sich durch die Gewohnheit des Einsatzes dieser Methoden eine übertriebene Dominanz in der Praxis ergeben, den eine konstruktivistische Didaktik ablehnt. Hervorzuheben ist, das bei dem erfolgreichen Einsatz dieser Methoden auch in klassischen Unterrichtsstunden mindestens Phasen der Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit hinzutreten müssen, um den Lernerfolg dieser Methoden grundsätzlich zu sichern. Aber erst in Kombination mit handlungsorientierten Methoden bzw. mit dem Spektrum möglicher Methoden, wie sie in der Methodenübersicht verzeichnet sind, werden die klassischen Methoden sinnvoll einsetzbar sein. Auch vorgefertigte Lehrmaterialien gefährden ein konstruktiv-aktives Lernen, sofern sie zu wenig einen Aufgabencharakter entwickeln lassen, der den Lerner herausfordert, eigene Fragen, Vermutungen, Erwartungen, Ansprüche an Sinn und Methode zu stellen, um sich gegenüber dem Wissen zu positionieren oder darüber mit den Lehrenden oder anderen Lernenden in Auseinandersetzung treten zu können. Die konstruktivistische Lernpsychologie fordert, dass Lernende nach und nach ihr Wissen selbständig strukturieren und methodisch durch geeignete Unterrichtsformen aufbauen können. Dazu können begrenzte Phasen des Frontalunterrichts und der klassischen Methoden beitragen, aber sie müssen konsequent um weitere Methoden erweitert werden.

Selbstgesteuertes Lernen: In der Balance zwischen „Ich-will-“ und „Ich-soll-Standpunkten“ hat in der Postmoderne die Anerkennung der Selbststeuerung, der eigenen Regulierung von Wissen und Handeln stark zugenommen. Gleichwohl lässt sich lerntheoretisch nicht behaupten, dass ein Lerner am besten oder erfolgreichsten immer alles aus sich selbst heraus isoliert lernen könnte. Die Selbststeuerung des Lernens aus der Sicht der konstruktivistischen Didaktik, wie ich sie verstehe, ist nicht radikal solipsistisch (ichbezogen), sondern interaktiv begründet. Die Betonung des selbstgesteuerten Lernens verweist aus dieser Sicht allerdings auch darauf, dass Lernen dann wenig Erfolg verspricht, wenn gegen die vielen Selbste, die ein Lerner in sich trägt (Selbst-Wert, Selbst-Verantwortung, Selbst-Tätigkeit, Selbst-Bestimmung, Selbst-Achtung – um einige wichtige zu nennen), gekämpft werden soll, um ihn zu disziplinieren und auf bestimmte Sichtweisen hin zu trainieren. Ein solches Lernen widerspricht nicht nur dem kulturellen Zeitgeist, es ist auch lernpsychologisch gesehen wenig effektiv, da es oft gegen die Widerstände des Lerners gerichtet und damit von vornherein schwierig ist. Aus der Lernforschung sehr unterschiedlicher Provenienz weiß man, dass selbstgesteuertes Lernen nur funktioniert, wenn es mit den Selbstentwürfen und Selbstmotivationen des Lerners übereinstimmt. Die konstruktivistische Didaktik versucht daher mit den Teilnehmergruppen intensiv, diese Voraussetzungen für Lernvorgänge einzubeziehen, Lerner zu motivieren, aber ggf. auch die Begrenztheit der Selbstentwürfe zu thematisieren und durch alternative Modellbildung andere Entwürfe anzubieten. Wenn Didaktiker mit Lernern über Lernprozesse diskutieren, Lerner zu Didaktikern werden lassen, aktive Beziehungsarbeit für ein viables Lernklima betreiben, so heißt dies nicht im Umkehrschluss, dass inhaltlich nichts mehr gelernt werden soll. Die Einsicht ist vielmehr umgekehrt: Erst auf dieser Basis kann heutzutage hinreichend auch inhaltlich effektiv gelernt werden.

Kontext- und situationsbezogenes Lernen: Lernen findet immer in bestimmten Situationen und Kontexten statt. Idealtypisch unterstellen Didaktiker dabei theoretisch oft, dass Lernsituationen einen motivierten, aktiven, konstruktiven, sich selbst steuernden, kontrollierenden, situativ und sozial angepassten und anpassungsfähigen Lerner bieten, auf den dann fast alle didaktischen Methoden passen. Die Praxis jedoch sieht anders aus. Didaktiker (Lehrende wie Lerner gleichermaßen) müssen erst einmal feststellen, welche Ressourcen sie für welche Lösungen mitbringen. Hierbei haben z.B. gruppendynamische Voraussetzungen, strukturelle Bedingungen, Lehr- und Lernvoraussetzungen der Lerner und Lehrenden ein jeweils besonderes Gewicht, das einer Lernsituation ermöglichende oder begrenzende Perspektiven verleiht. Die daraus resultierende Unterschiedlichkeit didaktischer Prozesse sensibel wahrzunehmen, das ist für die Didaktik unverzichtbar, um nicht nach einem Schema für alle Lernprozesse entwickelt zu werden, das sich praktisch als illusionär erweisen wird.

Modell-Lernen: Jede Didaktik beinhaltet ein Lernen am Modell. Dies gilt für alle Methoden, ist aber beim Einsatz der klassischen Frontalmethoden besonders intensiv zu reflektieren, um die Effektivität dieser Methoden zu gewährleisten. Die Erfolge dieses Modell-Lernens haben gezeigt, dass es nicht ausreicht, wenn der Lehrende die Lerner überwiegend fragend in sein Unterrichtskonzept einbezieht. Hierbei durchschauen sie zu selten oder nur bei sehr hoher didaktischer Kompetenz des Lehrers das Konzept und die Begründungen, die zu den Fragen führen und die ihnen Antworten suggerieren. Dann verlassen sie sich auf die gestellten Fragen und vermeiden es, eigene Kommentar-, Frage- und Bewertungshorizonte zu entwickeln. Dies führt bei zu häufigem Einsatz fragend-entwickelnder Unterrichtsmethoden zu einer passiven Lernhaltung, die kein effektives Modell für eigene Handlungen darstellen kann.

Interaktions-Lernen: Auch bei den klassischen Unterrichtsmethoden spielt das Interaktions-Lernen eine entscheidende Rolle, was durch die Unterscheidung von Aktions- und Sozialformen in der bisherigen Didaktik anerkannt wurde. In der konstruktivistischen Didaktik werden die Interaktionen jedoch bewusster und vielschichtiger gestaltet. Einerseits kommt es darauf an, sowohl die „Ich-will-“ als auch die „Ich-soll-Seite“ hinreichend anzusprechen, andererseits in den Interaktionen nicht nur symbolische Verständigungen und Leistungen, sondern auch imaginäre Vorstellungen (und den Einbruch realer Ereignisse) zu akzeptieren. Durch diese umfassendere Einstellung den Lehr- und Lernvorgängen gegenüber wird die Didaktik auch realistischer: Es wird erkennbar und durch die unterscheidende Reflexion auch diskutierbar, was und wie in individuellen Lernereignissen und Kontexten gelehrt und gelernt werden kann und wo Grenzen dieses Lernens liegen.

Beziehungs-Lernen: Lernen geschieht in Kommunikation. Dabei treten Inhalte und Beziehungen immer in Vermittlung auf. Inhaltliches Lernen steht insoweit unter einem Primat der Beziehungen, da erst bei hinreichender Beziehungsarbeit (= insbesondere einem angenehmen Lernklima, einer wertschätzenden Atmosphäre, wechselseitigem Vertrauen) angemessen inhaltlich gelernt werden kann. Aber auch umgekehrt: Inhalte sind für die Beziehungen wichtig, um sich in seinen Lebensformen, Lebensstilen, in der gegenwärtigen Lebenskunst (= der Kunst, sich in der Postmoderne zu orientieren) hinreichend entwickeln zu können. Ein Inhalt, der ohne Bedeutung für die lebensweltlichen Beziehungen (= Handlungen mit anderen Menschen) bleibt, wird nur ungern gelernt und schnell wieder vergessen werden.

 

© Kersten Reich 2005
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