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Evaluation

 

Kersten Reich

Obwohl pädagogischen Praktikern schon lange klar ist, dass Lerner besonders aus Sympathie für ihre Lehrerinnen und Lehrer lernen, so werden doch meistens die systematische Entfaltung der Reflexion der Beziehungsseite und Versuche einer verbesserten Gestaltung dieser Seite unterschätzt. Zu einer solchen Entfaltung (vgl. dazu Reich: „Systemisch-konstruktivistische Pädagogik“ insbes. Kapitel 2 und 3) gehört mindestens, dass Lehrende

* ein auf reflektierter Selbsterfahrung basierendes Grundverständnis ihrer Beziehungs­muster, ihrer emotionalen Vorlieben in Beziehungen, unbewusster Motive im Umgang mit Menschen, ihrer Verhaltens- und Abwehrstrategien entwickeln, um sich selbst beobachten zu lernen und Selbstkritik als Möglichkeit zu Verhaltensänderungen zu erreichen. Eine beziehungsorientierte Didaktik macht es erforderlich, ständig über sich selbst in Beziehungen zu reflektieren: Dies aber kann nur erreicht werden, wenn man sich in Interaktion mit anderen erlebt, reflektiert, Feed-back erhält.

* kommunikative Trainings absolvieren, die ihnen Beobachtungsmöglichkeiten bei sich und anderen erschließen, wie auf unterschiedlichen Kanälen kommuniziert wird und wie solche Kommunikation verbessert werden kann (einschließlich der Analyse störender Aspekte).

* Möglichkeiten der Metakommunikation erproben, um in kommunikativen Konflikten zu Lösungen mittels einer Kommunikation über die Kommunikation zu kommen.

* Supervisionsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur ständigen Weiterbildung umfassend und kontinuierlich erhalten (wie es für viele Unternehmen in der Wirtschaft mittlerweile selbstverständlich ist), um hinreichend auf eigene Verhaltensmuster und Gewohnheiten aufmerksam zu werden und diese reflektieren und korrigieren zu können.

Diese Maßnahmen sind grundlegend, um Voraussetzungen für eine konstruktivistische Didaktik zu schaffen. Es sind Grundlagen, die über Feed-back, Selbsterfahrung und Selbstreflexion bereits evaluative Gesichtspunkte umfassen. Evaluation bedeutet für mich nämlich nicht bloß eine von außen kommende Überprüfung des Lehrens und Lernens, sondern umfasst vorrangig die Innensicht, die sich Lehrende und Lernende in Auseinandersetzung mit den Folgen und Wirkungen ihres Handelns und ihrer Beziehungen machen. Im Schaubild sind Perspektiven der konstruktivistischen Didaktik im Blick auf Evaluation dargestellt:

Evaluation

 

 

Schaubild: Evaluation

In der Mitte stehen die drei Rollen als Beobachter, Teilnehmer und Akteur, die sowohl Lehrende als auch Lernende im Rahmen von Evaluation einnehmen. Aus diesen drei Rollen und mit ihnen verbundenen Perspektiven ergeben sich unterschiedliche Auffassungen und Bedeutungen von Evaluation:

* als Beobachter bin ich daran interessiert, eine Situation möglichst genau zu erfassen und in ihrer Komplexität unter Beachtung relevanter Kontexte zu beschreiben;

* als Teilnehmer will ich Konsequenzen aus solchen Beschreibungen ziehen und meine Teilnahmebedingungen (in der Regel positiv) verändern;

* als Akteur muss ich handeln, wenn ich evaluieren will, denn meine Beobachtungen ergeben sich nur in Handlungsvollzügen; wenn ich aus gemachten Evaluationen nicht nur theoretische, sondern auch praktische Konsequenzen ziehen will, dann muss ich ebenfalls handeln.

Die drei Rollen stehen in der didaktischen Evaluation in sehr naher Beziehung zu den Instanzen der Evaluation: Dies sind reflecting teams, Supervision als auch innere oder äußere empirische Analysen. Von außen ist insbesondere die Supervision zu nennen, die das lernende System nicht nur analysieren, sondern auch kritisch und fördernd begleiten kann. Zusätzlich kann es auch eine äußere empirische Evaluation – insbesondere durch didaktische oder andere Forschung – geben. Auf der inneren Seite, wo auch in eingeschränkterem Rahmen durchaus empirische Beobachtungen gezielt gemacht werden können, erscheinen aus konstruk­tivistischer Sicht insbesondere reflecting teams als geeignet, evaluative Aufgaben zu übernehmen. Alle diese im mittleren Kreis stehenden Instanzen bilden nach Regeln ablaufende Evaluationen:

* von reflecting teams werden Evaluationen auf der Inhalts- und Beziehungsseite aus der Sicht der Lerngruppe eigenständig kontinuierlich beobachtet und reflektiert (genaue Beschreibung siehe Methodenpool);

* von Supervisoren werden Evaluationen in begleitender ressourcen- und lösungsorientierter Art für die Lerngruppe oder für Lehrende in ihrem Kontext geleistet (Einführung ebenfalls im Methodenpool);

* dabei können empirische Untersuchungen (einschließlich Tests) von innen oder außen beobachtend und reflektierend hinzutreten.

Solche evaluativen Tätigkeiten in der konstruktivistischen Didaktik beziehen sich nur auf den engeren Bereich der Lerngruppe. Aber sie bleiben in ihrer Wirkung zu beschränkt, wenn nicht der gesamte Kontext, der Lernbedingungen schafft, mit in eine umfassende Evaluation einbezogen wird. Dabei erscheinen Selbstevaluationen der Beteiligten nicht nur aus Kostengründen als sinnvoll. Aber auch eine äußere Evaluation kann hilfreich sein, wie z.B. die Pisa-Studie zeigt. Allerdings muss bei der Bewertung evaluativer Ergebnisse immer kritisch darauf geschaut werden, von wem sie aus welchen Interessen und unter welchen Vorzeichen gefordert oder ausgewertet wird.

Die Faktoren der Evaluation für didaktische Prozesse sind vor allem:

* gezielte Beobachtungen auf der Inhalts- und Beziehungsseite, die intern oder extern vorgenommen werden;

* Feed-back, das in der Lerngruppe zum Lehr- und Lernprozess kontinuierlich gegeben wird;

* Rückmeldungen, die über das systemische Benoten erreicht werden können;

* der Einsatz von Demokratie im Kleinen vor allem über Klassenrat und andere durch die Lerngruppe wahrgenommene Funktionen;

* Beratung bei Konflikten, die intern oder extern erfolgen kann.

Was verändert sich in der Evaluation aus systemischer oder konstruktivistischer Sicht gegenüber anderen Ansätzen? Der systemisch-konstruktivistische Ansatz in der Didaktik bedeutet, dass Inhalte und Beziehungen stets in ihrer zirkulären Verknüpfung gesehen werden sollen. Es wäre naiv, in einer Stunde oder Lerneinheit nur die Inhalte und abgekoppelt davon die Beziehungen betrachten zu wollen. Vielmehr gilt, dass alle drei Unterscheidungsebenen – Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion – mit Inhalten und Beziehungen zirkulär verknüpft sind und daher mehrere Beobachterpositionen erforderlich machen, um hinreichend auf das Zusammenwirken der Aspekte zu achten. Deshalb empfiehlt es sich vor allem, in Lernergruppen reflecting teams aus dem Kreis der Lerner zu bilden, die eine Art eigener Supervision betreiben. In gewissen Zeitabständen ist auch eine Supervision von außen anzuraten, da jede Gruppe ihre eigenen blinden Flecken in der Kommunikation erzeugt:

 

Konstruktion

Rekonstruktion

Dekonstruktion

 

Reflecting Teams und Supervisoren fragen z.B.

Wir reflektieren Inhalte und Beziehungen

Wie kann diese Seite noch stärker in den Vorder­grund treten?

Wie können wir wissen, was tat­sächlich notwendig ist?

Wie können wir uns hinterfragen?

Bei solchen Reflexionen ist es immer wieder sinnvoll, insbesondere die drei Unterscheidungen nach Konstruktivität, Methodizität und Praktizität aus der „Konstruktivistischen Didaktik“ zur Begründung der Ziele zu beachten. Gleichzeitig sind aber auch die anderen Unterscheidungen wichtig, z.B. die Be/Deutungen des Symbolischen, Imaginären und Realen, die verschiedenen Rollen als Beobachter, Teilnehmer und Akteure und die Ebenen, auf die sich didaktisches Handeln beziehen soll (sinnlich gewiss, konventionell oder diskursiv). Unter diesen Voraussetzungen können wir z.B. fragen:

* Was ist unser eigener konstruktiver Beitrag? Auf welche Ressourcen greifen wir zurück? Welche Lösungen streben wir an?

* Welche Widersprüche auf der Inhalts- und Beziehungsebene gerade unter Beachtung der Wechselwirkungen zwischen beiden erkennen wir? Insbesondere welche Unterschiede in der Verständigung hierüber lassen die Lerner und Konstrukteure erkennen?

* Welche Imaginationen und Visionen werden im Lernprozess erkennbar, gefördert, entwickelt?

* Auf welche bewährten Methoden greifen wir zurück und was bedeutet dies für unsere Konstruktionen? Inwieweit bilden die eingesetzten Methoden nicht auch schon wieder eine begrenzende Ressource für unsere Konstruktionen?

* Entwickeln wir die methodische Begründung allein aus Expertenrollen oder sind die Lerner hierbei ebenso – als Beobachter, Akteure und Teilnehmer – gefragt?

* Bleiben unsere Erwartungen theoretisch oder wo gelingt es, sie in eine durch tatsächliche Handlungen gelebte, in Beobachtungen erfahrene und sinnlich wahrnehmbare, in Teilnahme mitgestaltete Praxis umzusetzen?

* Wird hinreichend von allen evaluiert und wird die Evaluation individualisiert genug betrieben?

Solche Fragelisten sind nie vollständig, sondern durch die konstruktive Sicht, die Verständigung und die Offenheit der Praxis immer neu zu stellen. Didaktik ist nicht allein eine Teilnehmerwissenschaft, sondern erfordert ein weites wissenschaftliches Reflektieren auch über das Beobachten und die Aktionen in Lehr- und Lernprozessen. Sie ist als Kombination aus Beobachten, Teilnahme und Handlungen eine neue Sicht auf das Lernen.

Reflecting teams erscheinen aus dieser Sicht als besonders geeignet, um Aufgaben der Evaluation aus den inneren Gruppenprozessen heraus zu realisieren. Dabei kann eine Art der gemeinsamen (kollegialen) Supervision erreicht werden, die sowohl inhaltliche als auch beziehungsbezogene Aspekte des Lehrens und Lernens weit reichend reflektiert und verbessern hilft. Ich will an dieser Stelle kurz auf ein Problem von reflecting teams eingehen, zur Einführung in die Arbeit mit solchen teams stehen bereits Einführungen zur Verfügung (siehe Methodenpool).

In Dagmars Lerngruppe gibt es schon länger reflecting teams. Dabei fällt jedoch auf, dass die Feed-backs immer sehr vorsichtig gegeben werden. Alle Beobachter entdecken immer Positives und dies führt zu einer unkritischen Haltung, in der z.B. nicht hinreichend vermittelte Inhalte oder mangelnde Energien, geringe Wertschätzungen, oberflächliche Anerkennungen nur nach ihrer harmonischen Seite beurteilt werden. Die Lerngruppe nimmt solches Reflektieren nicht nur als Farce, sondern zieht daraus den falschen Gewinn, sich nicht weiterentwickeln zu müssen. Viele haben den Eindruck, alles Notwendige bereits erreicht zu haben, andere langweilt das Verfahren nur.

Dies ist die Gefahr bei einem mangelhaften Einsatz von reflecting teams. Solch ein Mangel entsteht besonders leicht, wenn unklare Beobachtungsaufträge vorliegen, wenn der Wert der Beobachtungen (z.B. für Noten oder Anerkennungen) ungeklärt ist, wenn keine vereinbarten Konsequenzen aus den Beobachtungen gezogen werden. Auch erweist es sich in der Praxis als schwierig, die Methode einzuführen. Zunächst muss das Alter der Lerner berücksichtigt werden. Zwar lassen sich von Kindheit an gezielte Beobachtungen machen, aber die Methode des Beobachtens muss altersbezogen passend sein. Um dies zu ermitteln, ist es wichtig, dass die Beobachter sich eigene Beobachtungsregeln und Kriterien suchen. Auch die Einstellungen zum Lernen sind wichtig. Hier müssen die Lerner erst für die Methode begeistert werden. Solche Begeisterung aber entsteht vermittelt über eine aktive Entfaltung guter Beziehungen und hier auch nur, wenn die Lerner den Eindruck gewinnen, mit ihren Beobachtungen und Reflexionen etwas verändern zu können.

Evaluationen im Lehren und Lernen haben immer eine kritische Seite, wenn sie unter finanziellem Druck und dem Anspruch von Einsparungen stehen. Dies ist ein allgegenwärtiger Kampf, wobei derzeitig die Bürokratie und Bildungspolitik in der Regel neue Me­thoden verhindert, indem sie Gelder nur nach dem Muster der Bewährung vergibt. Wie aber soll man dann etwas Neues schaffen, wenn es sich schon bewährt haben soll? Angesichts der ständigen Finanzkrise in der Bildung gibt es auch in Deutschland Versuche, den Schulen und Universitäten mehr Selbstverwaltung zukommen zu lassen, um die Einsparungen und Defizite auf die Lehrenden zu verteilen, die das, was ihnen geblieben ist, dann effektiv einsetzen sollen. Wenn wir konstruktivistisch gesehen Verbesserungen wollen, dann sind selbst bescheidene Mittel ein erster Aus­gangspunkt von Selbstverwaltung, die nur über politischen Kampf mit langem Atem auch zu mehr Mitteln führen wird, die es in der Didaktik anderer Bereiche – insbesondere in der Weiterbildung in Betrieben – längst gibt. In die Selbstverwaltung sind aber auch sämtliche Teilnehmer (Lernende, Lehrende, Eltern) umfassend einzubeziehen, wenn demokratische Prozesse ein­schließlich der ver­knappten Mittel ihnen transparent werden sollen. Heute kommt es vorrangig darauf an, eine „lernende Schule“ zu entwickeln (vgl. Schratz/ Steiner-Löffler: Die lernende Schule. Weinheim und Basel, Beltz 1998), um so Voraus­setzungen für die Möglichkeit einer konstruktivistischen Didaktik in einem entsprechenden Schulklima zu schaffen. Dann ließe sich auch erfolgreich die Schule und das Lernen evaluieren. Was aber steht wesentlich dagegen?

Es ist heute noch das Bild des Einzelkämpfers. Der isolierte Lehrer kann leicht manipuliert und still­gestellt werden, er wird schnell überfordert, und sein Ideenreichtum ist beschränkt. Deshalb ist der Einzelkämpfer der Idealtyp der traditionellen Schule, denn er wird das eingefahrene System nie stören – bis man allenfalls im internationalen Vergleich seine verheerenden Schwächen erkennt (und sie gegenwärtig mit alten Rezepten wieder zu verdecken versucht). Eine konstruktivistische Didaktik aber fordert – wie z.B. vormals reformpädagogische Ansätze nach Dewey oder Freinet – Lehrende und Lernende auf, kooperativ zu werden, sich zusammenzuschließen zu Teams, auch in der Frei­zeit Aktivitäten für sich zu organisieren.

Wir können die Ansprüche noch verstärken: Alle jene Aktivitäten selbst zu organisieren, die ihnen das traditionelle System für eine konstruktivistische Tätigkeit verwehrt: Weiterbildung, Supervision, Ideen­werkstätten, mehr eigenes Engagement und Solidarität untereinander zu zeigen und zu erleben. Es wäre hilfreich, wenn die Didaktiker, die besser ausgestattet arbeiten können, weiterhin Impulse für ein verändertes Lernen setzen und noch besser mit der Schule verzahnen könnten. Dies wird eine wesentliche Chance sein, sich den Respekt vor der großen Aufgabe des Lernens dort zurückzuholen, wo er an der Basis erworben wird: In den konkreten Lernsituationen vor Ort – mit mir und dir.

 

© Kersten Reich 2005
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