Pöhl
Stefan: Lernbiographien von ErwachsenenbildnerInnen. Lebensgeschichtliche
Einbettung der erwachsenenbildnerischen Lern- und Lehrgegestände von vier
Südtiroler EwachsenenbilderInnen. (Diplomarbeit) Innsbruck
1998.
Die Biographische Methode als Bildungsansatz: Biographiearbeit
und ihre Einsatzbereiche
Im Rahmen der
biographischen Methode als Bildungsansatz finden verschiedene Methoden der
Umsetzung ihre Anwendung. Im Vordergrund steht besonders das Erzählen und das
Schreiben der eigenen Biographie, daneben werden Biographien auch zeichnerisch
dargestellt. Objekte der Erinnerung – vor allem Fotografien – dienen der
Evokation von biographischen Erinnerungen, dazu dient auch die
Auseinandersetzung mit autobiographischen Texten und Begehung biographisch
relevanter Orte.
Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung
Wie schon weiter
oben bemerkt, wird in der Erwachsenenbildung als ausgesprochener
Handlungswissenschaft häufig versucht, den Forschungs- und den Bildungsansatz
der biographischen Methode zu verbinden. Der Bildungsansatz der biographischen
Methode wird in der Erwachsenenbildung nach verschiedenen Ansätzen vertreten und
er richtet sich mehr oder weniger nach dem jeweiligen pädagogischen Kontext, in
dem er eine Aufgabe erfüllt. Solche Kontexte sind Altenarbeit, Bildungsarbeit,
sozialpädagogisches Handeln von Pädagogen, Emanzipation usw. Als Methode für
sich, d.h. ohne in einem solchen pädagogischen Kontext zu stehen, hat
Biographiearbeit biographisches Lernen zum Ziel. Biographisches Lernen versteht
sich dabei nicht nur individuumsbezogen, sondern immer in Beziehung zu den
gesellschaftlichen Umständen. Der gesellschaftliche Kontext soll in der
Biographiearbeit also immer erhalten bleiben. In diesem Zusammenhang kritisiert
Hans-Ulrich GRUNDNER eine Individualisierung der Erwachsenenbildung, wie sie der
lebensweltliche Ansatz bringt, da diese nicht in der Lage ist eine kritische
Sicht auf den gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen [5] (vgl. GRUNDNER 1996).
Susanne BRAUN
definiert im von ihr beschriebenen Ansatz der Biographiearbeit biographisches
Lernen als Lernen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen, als kritische
Selbstaufklärung mit dem Ziel, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gestaltbar
zu erleben. In der meist themenzentrierten Auseinandersetzung (Bsp.: Berufswahl,
Familie, Bildungswege) mit der eigenen Biographie liegt der Deutungsfokus der
Einzelbiographie dabei auf dem gesellschaftlich und zeitlich Typischen. Die
Vorgangsweise kann medienunterstützt und methodisch vielfältig sein,
Übungssequenzen sollen Erfahrung in einem ganzheitlichen Sinn aktualisieren:
kognitiv, emotional, körperlich, sinnlich, bewußt und vorbewußt. Fokussiert wird
eher auf Bewältigungserfahrungen (vgl. BRAUN 1996). Weitere Ansätze von Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung sind
die aus Kanada importierte Methode der “Guided Biography” und das “angeleitete
strukturierte Gespräch”. Diese spielen sich in “Geschichtswerkstätten” oder
“Erzählcafes” ab, bei den Organisationsformen erstreckt sich die Bandbreite von
besagten festen Organisationsformen bis relativ unscheinbaren, wie alltägliches
biographisches Sprechen, Vorstellungsrunden usw. (vgl. KADE / NITTEL 1997,
753f).
Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung: Bildungsarbeit und
Sozialpädagogik
Im Kontext der
Sozialpädagogik entwickelte Reinhard VÖLZKE den Bildungsansatz der
biographischen Methode innerhalb der Erwachsenenbildung zum Konzept der
biographisch-narrativen Gesprächsführung weiter. Die biographisch-narrative
Gesprächsführung bietet dem Sozialpädagogen durch die Eröffnung neuer Zugänge zu
fremden Lebenswelten für dessen sozialpädagogische Interventionen eine
zusätzliche Möglichkeit. Voraussetzung dafür ist die Erfahrung des
Sozialpädagogen, die er aus der Praxis qualitativer Forschung gewonnen hat. Die
notwendige Neu-Konstruktion eines biographischen Bewußtseins des Adressaten in
Krisensituationen kann mit dieser Methode, die wesentlich in einer
erzählmäeutischen [6] Grundhaltung des Sozialpädagogen
besteht, beim Adressaten unterstützt werden. Sie besteht in der Schaffung eines
professionell angeleiteten Erzählraumes für den Adressaten, der es diesem
erlaubt, zu einer Reaktivierung der biographischen und sozialen
Selbsthilfekompetenzen zu gelangen (vgl. VÖLZKE 1997). Dieser Ansatz wurde schon vorher
von VÖLZKE im Kontext der politische Bildungsarbeit präsentiert und theoretisch
vorgestellt, wobei interessanterweise die Vorerfahrung aus narrativem Interviews
bzw. aus qualitativer Sozialforschung noch nicht so deutlich gefordert wurde
(vgl. VÖLZKE 1995).
Grundgelegt wurde dieser Ansatz von VÖLZKE 1993 (vgl. 1993) auf der Basis des Lebenswelt-Konzepts bzw. der sprachlichen
Konstruktion von sozialer Wirklichkeit, in der die sprachliche Konstruktion von
personaler Identität eingelagert ist. Beschleunigter sozialer Wandel bzw. Wandel
des menschlichen Lebenslaufs machen dabei die Stützung personaler Identität
durch sprachliche Rekonstruktion heute um so notwendiger. Die
(lern-)biographische Selbstreflexion des Pädagogen ist bei einem solchen
Vorgehen eine Voraussetzung für das biographische Fremdverstehen.
Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung: Biographische und
lebensgeschichtliche Didaktik
Im Kontext der
biographischen und lebensgeschichtlichen Didaktik wird der Bildungsansatz der
biographischen Methode innerhalb der Erwachsenenbildung zur Unterstützung von
Wissensvermittlung eingesetzt. Hans-Ulrich GRUNDNER (Universität Tübingen)
empfiehlt auf der Basis einer entsprechenden Einstellung der Lehrkraft und deren
Selbstreflexion bezüglich Lerngeschichte, Lernblockaden, Lernerfolge und Umgang
mit Lernprozessen die Anbindung des Lernstoffes an die Lerngeschichten der
Lernenden, die Reflexion des Lernprozesses durch den Lernenden und die
Vermittlung der biographischen Methode an den Lernenden. Ziel ist es, daß der
Lernende Lernprozesse in die eigenen Hände nehmen kann (vgl. GRUNDNER
1996). Zum Einsatz der biographischen
Methode im Rahmen von Wissensvermittlung hat auch BUSCHMEYER aus biographischen
Forschungen zur Fragestellung, wie Lebensgeschichte Eingang in die Planung und
Durchführung von Bildungsprozessen finden kann, Schlüsse gezogen (vgl.
FAULSTICH-WIELAND 1996, 119).
Biographiearbeit in der Erwachsenenbildung: Biographiearbeit mit
Alten
Im Rahmen von
biographischer Forschung über alte Menschen im geschichtswissenschaftlichen
Kontext kam es im Zuge der Etablierung einer narrativen Geschichtswissenschaft
zu einer Weiterentwicklung der biographisch orientierten Geschichtsforschung zur
biographischen Methode als Biographiearbeit mit Alten. Elisabeth WAPPELSHAMMER
und Theresia WEBER (beide Universität Wien) verfolgen über die Biographiearbeit
hinaus noch das Ziel der Dokumentation der Geschichte der “kleinen Leute”,
weshalb neben dem themenzentrierten autobiographischen Erzählen in
Gesprächskreisen auch das autobiographische Schreiben und die Archivierung
solcher Texte gefördert wird. Beim autobiographischen Erzählen wird weniger auf
Bewältigungserfahrungen fokussiert (s.o. BRAUN) als auf den interindividuellen
Vergleich der Lebenserfahrungen und den Vergleich von früher und heute, wodurch
Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten freigesetzt werden sollen. Dieses
Vorgehen in Gesprächskreisen mit milieu- und altersdurchmischten Gruppen
schließt an die Theorie des narrativen Interviews (“Geschichten”,
“Beschreibungen”) an und setzt sozialgeschichtliches Wissen auf seiten des
Gesprächsleiters voraus (vgl. WAPPELSHAMMER / WEBER 1985). Für eine solche Biographiearbeit
mit Alten hat Heinz BLAUMEISER (Universität Wien u. Innsbruck) einen
theoretischen Bezugsrahmen erarbeitet, in dem ausgehend von den Konzepten der
Individualität und Subjektivität “historische Identität” als subjektive
Vergegenwärtigung lebensgeschichtlicher Erfahrungen und Entwürfe definiert wird.
“Zeitgemäße Identität” erfordert die immer wiederkehrende lebensgeschichtliche
Neuorientierung unter historisch veränderten Lebensbedingungen und nur eine
solche “Bildung aus Geschichte” verhindert unzeitgemäße Lebensformen und
Weltdeutungen; “historisches Lernen” macht die eigenen Standpunkte als Sedimente
historischer Prozesse bewußt (vgl. BLAUMEISER /
WAPPELSHAMMER 1991 u.
BLAUMEISER 1994). Aus
einer beschleunigten Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen heraus entsteht
die Situation des “Alterns zweiter Art”, indem in den veränderten Verhältnisse
überkommene Altersbilder nicht mehr greifen. Damit daraus nun sogar
Emanzipationschancen werden können, ist autobiographische Selbstreflexion
erforderlich (vgl. BLAUMEISER 1993):
“Ein solcher
Austausch (Vergleich des eigenen Lebens mit anderen im alltäglichen
gesellschaftlichen Austausch; SP) ist nun aber für viele alte Menschen
eingeschränkt. Hier muß in Ermangelung erreichbarer Alternativen eine
kompensatorische Altenarbeit einsetzen, die diese Kurzformel (kritisch
autobiographische Selbstreflexion im historisch-soziokulturellen Kontext; SP)
zur Entfaltung bringt. Ihre Kernaufgabe ist die systematische Schaffung und
Pflege kritisch-reflexiver Lernsituationen, in denen ältere Menschen ihren
Lebensweg in Beziehung setzen zu seinen zeitgeschichtlichen Gegebenheiten und
möglichen Alternativen, wie sie vor allem in Lebenswegen anderer Menschen
sichtbar werden. Im Modell Ottakring haben wir für Bereiche der institutionellen
Altenbildung unseren Forschungsansatz um einen Bildungsansatz ergänzt:
Interessenten bilden gemischte Gesprächsgruppen, in denen entlang idealtypischer
Phasen und Zäsuren des Lebenszyklus jeweils themenzentriert jeweils eigene
Lebenserinnerungen erzählt und vergleichend-kontrastierend reflektiert werden.”
(BLAUMEISER 1993, S.40)
Hier kommt noch
einmal der Übergang von Biographieforschung zu Biographiearbeit zum Ausdruck.
Eine weitere Vertreterin der Biographiearbeit mit alten Menschen ist Caroline
OSBORN vom Londoner Age-Exchange-Zentrum. OSBORN arbeitet u.a. mit dem
“Erinnerungskoffer”, der Gebrauchsobjekte, Fotos und Dokumente enthält, deren
Herumreichen und Betrachten Erinnerungen anregen soll (OSBORN / SCHWEITZER /
TRILLING 1997, 50).
Biographiearbeit in der ErwachsenenbildnerInnen-Ausbildung und im
Pädagog ikstudium
Die Anwendung
der biographischen Methode als Bildungsansatz beschreibt Elisabeth FRÖHLICH
(Akademie für Erwachsenenbildung Luzern) in einem Konzept für die Ausbildung von
Erwachsenenbildnern. Dieses detailliert ausgearbeitete Konzept zielt auf die
Erarbeitung der Bildungsbiographien und der individuellen Alltagstheorien über
Bildung, Lernen und Lehren. Die Bildungsbiographie wird mehrstufig, zuerst
erzählend, dann verschriftlichend in Einzel- Gruppen- und plenarer Arbeit
erarbeitet und analysiert, wobei das Lernen in Institutionen mit berücksichtigt
wird. Die erarbeitete Bildungsbiographie sensibilisiert einerseits für
individuelle Unterschiede im Lernen und steht weiters für spätere Anknüpfungen
von Ausbildungsinhalten in der Ausbildung der Erwachsenenbildner zur Verfügung
(vgl. FRÖHLICH 1992).
Die Anwendung
der biographischen Methode als Bildungsansatz für das Studium der Pädagogik
beschreibt Michael SCHRATZ anhand der Adaption des aus der Altenarbeit in den
USA stammenden Konzepts der “Guided Autobiography” (Gelenkte biographische
Erinnerungsarbeit) für eine selbstreflexive Lehrveranstaltung. In einer
Verbindung von Selbstreflexion und Gruppenreflexion findet eine thematische
Annäherung an Lebenserfahrung statt, die thematisch angeleiteten
autobiographischen Geschichten werden vom Einzelnen nach einem Fragenkatalog
schriftlich erarbeitet und in Kleingruppen diskutiert, im Plenum werden dann
übergeordnete Fragestellungen bearbeitet, die die individuelle Erfahrung mit den
gesellschaftlichen Bedingungen verbinden sollen. “Mind Maps” dienen dabei der
gliedernden Dokumentation der gemeinsamen Lernerfahrung. Bei diesem Vorgang
findet ein Dekonstruktion der Lebensgeschichten statt, ein Aufdecken
internalisierter Sicht- und Handlungsweisen, die ggf. für die heutige
Lebenssituation umgedeutet und aktualisiert werden könnten, weiters stellen sich
in den Lebenserfahrungen jene Themen heraus, die diese wie ein roter Faden
durchlaufen. Die Stärkung der Identität und das Eröffnen von Perspektiven für
den weiteren Lebenslauf sind das Ziel der “Guided Autobiography”, für deren
Durchführung mindestens acht bis zehn Halbtagestreffen vorgeschlagen werden, um
auf das Klima des Vertrauens in der Gruppe bauen zu können (vgl. SCHRATZ 1996).
Das Thema
Biographie stellt in den verschiedenartigen Ausbildungen von Erwachsenenbildnern
ein Element dar, sei es als Teil der Ausbildung, und / oder als ein
Lehrgegenstand für zukünftige ErwachsenenbildnerInnen. Solche Ausbildungen bzw.
darin enthaltene Elemente der Biographiearbeit sind etwa:
- Das Projektstudium “Geschichte in der Erwachsenenbildung”,
das sich vor allem an Historiker richtet, will an den gestiegenen Bedarf an
historisch-sozialer Orientierung und lebensgeschichtlicher Selbstreflexion
anknüpfen und u.a. zum Management historischer Bildungsprozesse befähigen
(vgl. BLAUMEISER / EHALT / WAPPELSHAMMER 1990).
- Dem Studienbereich “Weiterbildung und Kulturarbeit” am
Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck liegt eine
Konzeption zugrunde, die die Geschichte der Betroffenen zum Ausgangspunkt
nimmt (vgl. SCHRATZ 1991,
147).
- Im Hochschullehrgang für pädagogisch MitarbeiterInnen in
der Weiterbildung des Amtes für Weiterbildung / Südtirol und der Förderstelle
des Bundes für Erwachsenenbildung in Tirol ist der Erwerb der Fähigkeit
vorgesehen, die eigene Lerngeschichte in der Kommunikation verwerten zu können
bzw. die eigene Lerngeschichte zuerst einmal zu kennen, (vgl. TROMPEDELLER /
JENEWEIN 1995).
Pädagogisch MitarbeiterInnen sollen zum Anregen von u.a. individualisiertem
Lernen von Erwachsenen befähigt werden (vgl. TROMPEDELLER / JENEWEIN
1997
).
Weitere Gebiete der Biographiearbeit
- Biographiearbeit als Ruhestandsvorbereitung, gelegen an der
Grenze von beruflicher Weiterbildung und Biographiearbeit mit Alten. Allgemein
sind Umbruchsituationen im Leben die bevorzugten Einsatzorte von
Biographiearbeit.
- Aspekte der Biographiearbeit in der Altenpflege und
psychiatrischen Pflege. Erwin BÖHM (vgl. 1991, 19-38) hat das Eruieren der
“historischen und individuellen Biographie” zum Baustein der “Pflegediagnose”
in der geriatrischen Krankenpflege gemacht. “Geschichte von unten”,
“Feldforschung”, Begehungen von lebensgeschichtlich relevanten Orten
(“Differentialdiagnostischer Ausgang”) und Milieus mit und ohne dem Patienten
oder die Erzählung und das Schreiben der individuellen Biographie des
Patienten sind darin integriert. Die Interpretation des Explorierten
(Patienten) zielt dabei vor allem auf Rückschlüsse für die Gestaltung der
individuellen Pfleger-Patient-Beziehung und auf den Gewinn von Pflegeimpulsen.
- Zeitzeugen, Zeitzeugenbörse.
- Feministische Biographiearbeit ... ein eigenes, weiteres
Feld.
[5] “Lebensweltorientierung ohne
Gesellschaftskritik: besser arbeiten und vom Ganzen nichts verstehen” (GRUNDNER
1996, 27)
[6] “Mäeutik” [griechisch:
Hebammenkunst]; “Sokratischer Dialog”
© 1998 stefan.poehl@gmx.net