Universität zu Köln
 

   Kulturwissenschaftliche Forschungsgruppe Demographischer Wandel

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Methodischer Rahmen

 

Hintergrundannahmen

Die vielfältigen Fragen und Probleme, die unter dem Begriff „demographischer Wandel“ verhandelt werden, konzentrieren sich beinahe ausschließlich auf politisch-administrative, versicherungstechnische und ökonomische Diskurse. Mit der kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Perspektiven werden von der kfdw Vorstellungen von Alter und Altern in vielfältigen kulturellen Kontexten erfaßt, systematisiert, modellhaft reduziert und als Bausteine möglicher Zukünfte bereitgestellt.

 

Die kfdw begreift die bislang trotz vielfältiger Bemühungen nicht erreichte eindeutige Definition von Kulturwissenschaft nicht als Manko, sondern als Ausdruck produktiver wissenschaftlicher Arbeit, die von der konkurrierenden Vielfalt unterschiedlicher Forschungsrichtungen und -disziplinen lebt. Deshalb versteht sie die Kulturwissenschaften als einen Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären Diskurs, der nicht auf geisteswissenschaftliche Fachbereiche beschränkt ist.

In diesem Sinne werden traditionelle geistes- und sozialwissenschaftliche ebenso selbstverständlich wie die verschiedenen aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätze zur Beschreibung und Analyse des Alter(n)s und des demographischen Wandels genutzt. Im Rahmen der kfdw wird die Exklusivität oder Vorrangigkeit eines bestimmten Ansatzes weder behauptet noch gefördert. Ihre unterschiedlichen Möglichkeiten und Grenzen, ihre jeweiligen Vor- und Nachteile sollen im Gegenteil im konkreten Bezug auf das Alter(n) und den demographischen Wandel eruiert werden.

Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Kultur als einen Phänomenbereich verstehen, dessen empirische und theoretische, textuale und performative Bestimmungen sich Leistungen der Sinnbildung verdanken, die methodisch rekonstruiert werden können. (Vgl. Rustemeyer 2002)

 

Die kfdw erweitert die kulturwissenschaftliche Diskussion allerdings um eine Perspektive: Sie bezieht die gerade im Verstehen des demographischen Wandels virulent werdende Zukunftsdimension als Konstruktionsaufgabe in ihr Wissenschaftsverständnis ein. Sie macht sich damit das Programm einer pragmatisch-prologischen Wissenschaft vom Menschen zu eigen, wie es in einigen Arbeiten von Eugen Fink skizziert wird (vgl. Fink, Der Doppelaspekt der Pädagogik als theoretischer und pragmatischer Wissenschaft sowie Finks Überlegungen zur Beratungsgemeinschaft in verschiedenen Zusammenhängen).

 

Gemäß diesem Programm beschränkt sich die kulturwissenschaftliche Untersuchung des demographischen Wandels nicht auf die epilogische Erfassung vergangener und aktueller Bilder, Bestimmungen, Leitformeln, Leitvorstellungen, Praktiken und Aufführungen des Alter(n)s. In pragmatisch-prologischer Orientierung versucht sie darüber hinaus, diese spekulativ auf ihre Möglichkeiten hin transparent zu machen, indem sie systematisiert und modellhaft reduziert als Tableau möglicher Zukünfte reformuliert werden. Ziel ist es, heute nicht mehr, immer noch oder schon wieder vorstellbare Formen von Alter(n) zu erfassen und in einem Arsenal von Möglichkeiten als „Werkzeuge“ der selbstbestimmten Gestaltung von Zukunft bereitzustellen. Das Ziel unterscheidet sich damit deutlich von der heute gängigen Behauptung unvermeidlicher Notwendigkeiten. Es trägt der Überzeugung Rechnung, daß jedes zukunftsbezogene Handeln ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist und deshalb alternativer praxisrelevanter und auf verschiedenen Risikostufen praktisch überprüfbarer hypothetischer Zukunftsentwürfe bedarf – und daß deren Formulierung auch eine Aufgabe der Wissenschaften ist.

 

Problemhorizont der Forschungsarbeit

Bei der kulturwissenschaftlichen Fokussierung des Phänomens „Demographischer Wandel“ geht die kfdw von der spezifisch neuzeitlichen Problemsituation aus, daß menschliches Handeln verbindliche Maßstäbe notwendig braucht als Filter der endlos offenen Handlungsalternativen, die das weltoffene Wesen Mensch hat und sich ständig vermehrt schafft, und daß es gleichzeitig unmöglich ist, die Verbindlichkeit von Maßstäben endgültig zu sichern, sobald sie als menschliche Setzungen kritisierbar geworden sind. Folge davon ist, daß wir heute unser Handeln nur noch an einer „Moral auf Zeit“ (morale par provision), wie Descartes es in seinem „Discours de la Methode“ genannt hat, orientieren können, und zwar einer Moral auf Zeit, die, selbst wenn sie gut begründet und argumentativ vertretbar ist, nicht für alle verpflichtend gemacht werden kann, sondern bestenfalls persönlich ausweisbare Entscheidung ist.

Was Menschwerdung faktisch und der Möglichkeit nach ist und was ihre Verwirklichung in der einen oder anderen Weise für den Einzelnen oder eine Gesellschaft bedeutet und wie ihre Realisierung zu bewerkstelligen ist, wird deshalb heute immer erneut in einem schwer zu entwirrenden Geflecht von Handlungen und Vorstellungen, Theorien und Visionen amalgamiert. An die Stelle der großen Meta-Erzählung, die die eine Kultur, die eine Philosophie oder die eine Weltanschauung exklusiv zu legitimieren suchte, sind Differenz, Relativität und Pluralität getreten. 

Da man die skizzierte neuzeitliche Situation nicht bezogen auf den Menschen im Allgemeinen untersuchen kann, hat die kfdw sich entschieden, die Konstruktion der conditio humana am Beispiel der gegenwärtig sich vollziehenden „Produktion“ von Alter(n) als kulturell hergestellten Phänomenen vor dem Hintergrund des Verlustes verbindlicher natürlicher, symbolischer und epistemischer Vorstellungen von Alter(n) zu untersuchen.

 

Dimensionen der Forschungsarbeit

Das Forschungsprojekt verknüpft unter Nutzung der neuen Kommunikationsmedien Diskussions- und Lebenszusammenhänge, die heute voneinander getrennt an der Formulierung und Erfindung des Alter(n)s beteiligt sind. Vergangene und gegenwärtige „Produktionen“ von Alter(n) werden mit pragmatisch-prologischer Zielsetzung untersucht. Dazu werden Bilder, Bestimmungen, Leitformeln, Leitvorstellungen, Praktiken und Aufführungen des Alter(n)s - nur eingeschränkt durch die Arbeitsschwerpunkte der beteiligten Mitglieder der kfdw - in allen Bereichen der eigenen und fremder Kulturen erfaßt, systematisiert und modelliert.

Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Aktivitäten der kfdw dienen dem Ziel praktisch zu überprüfende sinnhafte Entwürfe des Alter(n)s vorzustellen, die zum einen die kulturelle Dimension innerhalb des Diskurses „Demographischer  Wandel“ kritisch repräsentieren und zum anderen sinnhafte Handlungsorientierungen bereitstellen.

 

Der „pragmatisch-prologische“ Aspekt der historischen Dimension der Forschungsarbeit

Die Analyse überlieferter Aussagen zum Alter(n) folgt der These, daß das Problem der Bestimmung des Alter(n)s uns als Problem ohne Lösung durch die Geschichte zugespielt worden ist, mithin als Problem selbst eine Geschichte hat. Wir können uns deshalb als Fragende zu anderen Fragenden und ihren Antworten in ein diszipliniertes Erinnerungsverhältnis bringen, und wir müssen dies tun, weil das Studium von Gedanken, Bildern und Konstrukten, die die Frage des Alter(n)s als Problem thematisieren, eine der wenigen verbliebenen Optionen ist, um unter Bedingungen einer Pluralisierung und Vergleichgültigung von Maßstäben so etwas wie Orientierungsfähigkeit (nicht Orientierung) einzuüben. Geeignete Gegenstände eines solchen Studiums überlieferter Bilder des Alter(n)s in gegenwarts- und zukunftsbezogener Absicht finden sich in allen Kulturen und Zeiten. Dabei ist nicht entscheidend, ob diese Bilder in ihrer Zeit verbindliche waren. Entscheidend ist auch nicht, ob diese Bilder uns heute noch ansprechen. In pragmatischer Intention ist bei der historischen Betrachtung entscheidend, daß sich in Auseinandersetzung mit den überlieferten Bildern des Alter(n)s unsere eigene Problemlage in bestimmten Brechungen studieren und differenzieren läßt.

Ein solcher Zugang zu historischem Material ist möglich, wenn man in methodischer Selbstdisziplinierung:

 

(1)  den Geltungsanspruch gegebener Bilder / Bestimmungen des Alters und des Alterns einklammert. Ziel dieses Verfahrens ist es, behauptete Natürlichkeiten und / oder kulturelle Notwendigkeiten in Sinn-Hypothesen zu verwandeln, die als mögliche Konstrukte neben anderen genauso möglichen Konstrukten stehen.

 

(2) (2) nach den mehr oder weniger ausdrücklichen Voraussetzungen und Implikationen von Bestimmungen des Alter(n)s fragt, um auch die Aspekte der „Sache“ Alter(n) sichtbar zu machen, die durch ihre perspektivisch verengte „Selbstdarstellung“ bzw. Betrachtung ausgeblendet werden. Indem im zweiten Schritt fortschreitend Voraussetzungen und Implikationen von Bildern, Denkmodellen, Theorien, Praktiken und Aufführungen offengelegt werden, wird eine immer größere Vielfalt zunächst verborgener Perspektiven und Möglichkeiten sichtbar gemacht. Durch die methodische Einklammerung des „Alleinvertretungsanspruchs“ einer bestimmten Version des Alter(n)skonzepts wird so sichtbar, was als Ausgeschlossenes und Verneintes untergründig virulent ist.

 

Der „pragmatisch-prologische“ Aspekt der gegenwartsbezogenen Dimension der Forschungsarbeit

Im zweiten Forschungsschwerpunkt geht es um die Herausarbeitung der impliziten Bestimmungen des Alter(n)s in gegenwärtig vorfindlichen privaten und öffentlichen Bildern, Visionen, Konventionen, Praktiken und Regeln der Sinnfindung, Sinnbestätigung und Sinnzerstörung, Praktiken und Regeln der Zwecksetzung sowie (wissenschaftlichen) Theorien. Auf diese Weise versucht die kfdw - deutlich über die Analyse mehr oder weniger wissenschaftlicher Beiträge hinausgehend - ein Tableau  zu erstellen, das es erlaubt, die gegenwärtig auf dem „Meinungsmarkt“ gehandelten Vorstellungen von Wirklichkeiten und Möglichkeiten des Alter(n)s zu systematisieren. Die heuristische Systematisierung im Tableau soll unter Anerkennung folgender  Voraussetzungen geschehen: Daß es (1) neben natürlichen Alterungsprozessen vielfältige kulturelle Bestimmungen des Alter(n)sphänomens gibt, die nicht von den natürlichen Prozessen abhängen, diese sogar häufig dominierend überformen, daß es (2) konkurrierende und koexistierende kulturelle Bestimmungen des Alter(n)s gibt, daß die Bestimmung des Alter(n)s deshalb (3) zu einer kulturell bzw. individuell zu leistenden Aufgabe geworden ist, daß die Aufgabe der Bestimmung des Alter(n)s (4) weder individuell noch kulturell endgültig zu lösen ist und daß schließlich (5) die Aufgabe der Bestimmung des Alter(n)s nicht exklusiv bestimmten Menschen zufällt oder auf bestimmte Aktivitäten des Menschen begrenzt ist. Dabei sind wir uns durchaus bewußt, daß die genannten Voraussetzungen selbst Ausdruck einer Entscheidung sind, die auf bestreitbaren Voraussetzungen beruht.

Auch hier versucht die kfdw - ähnlich wie in der Zuwendung zu historischen Positionen - operative Hintergrundmodelle und eingeschliffene Intentionen eigens herauszuarbeiten und in ihrer unkontrollierten Geltung einzuklammern. Indem so fortschreitend Voraussetzungen und Implikationen von Meinungen und Aussagen, Institutionalisierungen und Organisationsformen, Modellen und Theorien, Handlungen und ihren Vorordnungen offengelegt und in ihrem Geltungsanspruch eingeklammert werden, wird eine immer größere Vielfalt zunächst verborgener Perspektiven und Möglichkeiten sichtbar. Die Frage, ob auf diesem Weg zuletzt ein unverstellter Anblick des Alter(n)s selbst erreicht werden kann, ist prinzipiell zwar interessant, unter pragmatischen Gesichtspunkten aber weniger von Bedeutung, da jeder Schritt auf dem Weg der Voraussetzungserkundung bereits neue Möglichkeiten des untersuchten „Gegenstandes“ Alter(n) sichtbar werden läßt, die durch eingespielte perspektivisch verengte Zugangsweisen normalerweise verdeckt werden und deshalb als Problemsichten unbeachtet und als Lösungsansätze unentfaltet bleiben.

Auf dem skizzierten Weg soll die Vielfalt der heute diskutierten Bestimmungen des Alter(n)s erfaßt, systematisiert und modellhaft reduziert katalogisiert werden. Das zu erstellende Tableau soll Unübersichtlichkeiten reduzieren, Zusammenhänge deutlich machen, Anschlussmöglichkeiten eröffnen, es soll aber auch bewußte Entscheidungen und Anwahlen ermöglichen. Ziel ist es letztlich, viele Möglichkeiten alt zu werden und alt zu sein hinsichtlich ihrer situationsabhängigen spezifischen Stärken und Schwächen prüfbar zu machen.

 

Das Postulat der methodischen Vielfalt

Methodisch bedeutet die skizzierte pragmatisch-prologische Grundhaltung keine Vorentscheidung. Sie kann generell im Zusammenhang aller Untersuchungen eingenommen werden, die (mit Dilthey gesprochen) ordnende, zwecksetzende oder wertbestimmende menschliche Tätigkeiten und / oder „Objektivationen“ zum Gegenstand haben und deren Methoden sich nicht außerhalb der Möglichkeiten der endlichen menschlichen Vernunft bewegen.

Da die kfdw annimmt, daß sich positive kulturwissenschaftliche Forschung und eine methodisch kontrollierte spekulativ auf die Zukunft gerichtete Haltung nicht ausschließen, sondern ergänzen, können und müssen Fragen des Demographischen Wandels durch eine größtmögliche Vielfalt von Zugängen erschlossen werden.

 

Dr. Miriam Haller
Letzte Änderung: 29.07.2005