Erfahrungsberichte und Reflexionen von älteren Studierenden

 

Dieter Ende: Erfahrungen eines Seniorstudenten

Ich möchte meine Erfahrungen gliedern nach vier (durchaus heiter gemeinten) Phänomenen:

1. Das Rollen-Phänomen

Mit dem Beginn des Seniorenstudiums vor zwei Jahren vollzog sich bei mir ein Rollentausch Ich hatte vor einigen Jahrzehnten Betriebswirtschaftslehre studiert, arbeitete als Projektleiter in einem Großunternehmen und war gewohnt Sitzungen zu leiten, kleinere aber auch größere. Musiker hätte mich den 'frontman' genannt. Nun wurde ich wieder mal Student, der (wie Sie hoffentlich bald) in den Reihen eines Hörsaals sitzt, konzentriert auf den 'frontman', den Herrn Professor am Pult, dem man zuhört und mangels eigener Erkenntnisse nie widerspricht, ein Wandel von der aktiven Rolle zu einer anderen Rolle, die vordergründig passiv ist, doch zu dieser scheinbaren Passivität später

2. Das Generationen-Phänomen

Ich erinnere mich an meine erste Vorlesung, eine typische Veranstaltung für Erstsemester. Ich betrat einen der mittelgroßen Hörsäle, zwanzig ganz junge Frauen und Männer warteten schon, immer neue kamen, alle jung, sehr jung. .Endlich kletterte ein Seniorstudent in die Mitte meiner Reihe. Ich grinste ihn an: „Toll, da bin ich ja nicht der einzige Seniorstudent“. Er lachte herzlich: „Sie werden nie der Einzige sein!“

Er behielt Recht: In den großen Vorlesungen sind mindestens 20 % der Zuhörer Seniorstudenten, bei Professor N. gar 75 % und in seiner letzten Vorlesung nach der Zwischenprüfung waren es 90 %, insofern keine Angst! Sie werden nie der Einzige sein.

3. Das Creative-Writing-Phänomen

Ich hatte vor einigen Jahren angefangen zu schreiben, z.B. Kurzgeschichten und den Beginn eines Romans. Als „Schriftsteller“ strebte ich nach Vervollkommnung, wollte mich üben in dem allumfassenden Thema CREATIVE WRITING. Das wöchentliche Drei-Stunden-Seminar war das intensivste Erlebnis in den vier Semestern dank einer engagierten Dozentin und vor allem dank der Zusammenarbeit von etwa zehn Junior- und fünf Seniorstudenten.

Doch bei den jungen Studenten gab es einen Konflikt: ihre Freude und Lust am eigenen Schreiben auf der einen Seite , auf der anderen Seite die Pflicht, innerhalb einer gewissen Zeit „Scheine zumachen“, Zwischenprüfungen zu bestehen und das Studium irgendwann mit dem Magister- oder mit der Lehramts-Prüfung zu beenden.

Dieser Konflikt stellt sich für mich als Seniorstudent nicht. Nicht ein Examen ist der Zweck meines Studiums, sondern der Stoff, das was ich höre.

4. Das Iphigenie-Phänomen

Ich gestehe, dass mich von Goethe bisher nur der Faust interessierte, auf keinen Fall seine Iphigenie auf Tauris. Doch im letzten Semester wurde ich gleich dreimal mit der heimwehkranken Priesterin Iphigenie konfrontiert.

· Professor Neuhaus beleuchtete sie in seiner Vorlesung aus dem Gesichtwinkel des Briefwechsels Goethe - Schiller

· Professor Mecklenburg erläuterte an ihr die Grundzüge und die Technik des Dramas und

· Professor Brenner demonstrierte an ihr in gedanklicher Schärfe das neue Menschheitsbild der Klassik, aber auch Mängel in seiner Verwirklichung.

Dabei entdeckte ich in mir ein neues Interesse, nicht das Interesse an diesem literarischen Werk Iphigenie sondern die differenzierte Beschäftigung mit dem Thema Iphigenie. Diese Form der wissenschaftlichen Bearbeitung übte auf mich eine enorme Faszination aus.

Ich suchte nach einer Beschreibung für dieses Interesse. Vor einigen Tagen fiel mir ein Büchlein in die Hand, Hermann Hesses Bekenntnis zur Bildung durch Literatur, ein fast perfekter Aufsatz für den Seniorstudenten der Germanistik und ein wissenschaftliches Buch, das nur 1,60 Euro kostet.

Ich zitiere Hermann Hesse: „So wie das Streben nach Kraft, Gewandtheit, Schönheit nicht irgendeinen Endzweck hat, […] so ist auch das Streben nach Bildung, das heißt nach geistiger und seelischer Vervollkommnung, nicht ein mühsamer Weg zu irgendwelchen begrenzten Zielen, sondern ein beglückendes Erweitern unseres Bewusstseins, eine Bereicherung unserer Lebens- und Glücksmöglichkeiten."

Dass Sie von dieser Freude etwas erreichen, das wünsche ich Ihnen für Ihr Seniorenstudium!

 

 

letzte Aktualisierung: Donnerstag, 18. Dezember 2003

Prof. Dr. H. Meyer-Wolters / Dr. Miriam Haller