Tomaso Garzonis Piazza Universale in der deutschen Übersetzung von 1619

Ein Schauspiel der Berufe und Tätigkeiten auf 731 Seiten


von Martin Weyand


Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Technisches und Objektbiographie
Inhalt und Struktur
Das Titelkupfer
Frühneuzeitliche Formen der Wissensordnung zwischen Architektur und Darbietung
Architektur – Ort der Fixierung und Universalität
Darbietung – Anschaulichkeit von Inhalt und Ordnung
Resümee
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis



1. Einleitung

Die folgende Arbeit nimmt ein im Jahre 1619 in Deutschland erschienenes Buch in den Blick. Im Vordergrund der Untersuchung steht das Titelkupfer des frühneuzeitlichen Wissenskompendiums, welches hinsichtlich seiner programmatischen Qualitäten bezüglich des Inhaltes untersucht und ikonologisch in das damals verbreitete Modell der visuellen Wissensordnung eingeordnet werden soll. Nach einigen technischen Informationen über die an der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln vorliegende Enzyklopädie und Erläuterungen zum Inhalt folgen eine genauere Beschreibung und Analyse des Titelblattes sowie seiner Komposition, um schließlich Bezüge zwischen dem Werk und frühneuzeitlichen Konzepten der Weltanschauung und Wissensorganisation beleuchten zu können. Der Kurztitel des 731 Seiten schweren Bandes lautet dem italienischen Vorbild entsprechend Pizza Vniversale – übersetzt also‚ ‘universeller Platz‘ bzw. ‘Universalplatz‘.1 Der Kerngedanke und das Anliegen der Publikation wird im Titel fortlaufend wie folgt erörtert: „[…] das ist: Allgemeiner Schauwplatz / oder Marckt / und Zusammenkunfft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händlen und Handtwercken / so in der gantzen Welt geübt werden […]“.2 Ausgehend von ebendieser Formulierung soll im Folgenden gezeigt werden, wie einerseits die Schauplatz- bzw. Marktmetapher mit andererseits der Vorstellung einer universellen Wissenssammlung in der frühen Neuzeit zusammenhängt und wie derlei im Buch eingeschrieben ist. Gleichzeitig soll beleuchtet werden, wie die zahlreichen Tätigkeiten und Berufe im Rahmen des Theatermodells dargeboten werden. Wie ist die Praxis des Sammelns, Ordnens und Repräsentierens von Informationen mit der szenischen Einbettung in den Ort der Präsentation schlechthin – dem Schauplatz – zu verbinden?
Der vollständige Titel des Bandes, welcher ob seiner Ausführlichkeit schon zahlreiche Informationen und Aspekte der Selbstdefinition bereithält, lautet im Weiteren wie folgt:

Deßgleichen Wann / und von wem sie erfunden: Auch welchermassen dieselbige von Tag zu Tag zugenommen: Sampt außführlicher Beschreibung alles dessen / so darzu gehörig: Beneben der darin vorfallenden Mängel-Verbesserung / und kurze Annotation uber jeden Discurs insonderheit. Nicht allein allen Politicis, sondern auch jedermänniglich wes Standts sie seynd / sehr lustig zu lesen. Erstlich durch Thomam Garzonum auß allerhand Authoribus und experimentis Italiänisch zusammengetragen / und wegen seiner sonderlichen Anmühtigkeit zum offternmal in selbiger Sprach außgangen. Nunmehro aber gemeinem Vatterlandt Teutscher Nation zu gut Auffs trewlichste in unsere Muttersprach übersetzt / Und so´wol mit nohtwendigen Marginalien, als unterschiedlichen Registern geziert. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn / bey Nicolao Hoffman / in Verlegung L C V AE Iennis. 1619



Technisches und Objektbiographie

Wie aus dem Titel hervorgeht, ist die umfangreiche Wissensenzyklopädie eine Übersetzung der italienischen Erstedition von Tomaso Garzoni (z.dt.: Thomam Garzonum), welche im Jahr 1585 unter dem Titel La piazza universale di tutte le professioni del mondo zur ersten Auflage kam. Garzoni, ein gelehrter Kanoniker, wurde im Jahr 1549 in Bagnacavallo geboren und verstarb 1589 ebenda.3 Das italienische Original erfreute sich wohl einiger Beliebtheit, wie die Vielzahl an Nachdrucken – 25 an der Zahl – belegt,4 und wurde im Jahr 1619 schließlich unter dem Verleger und Buchhändler Lucas Jennis (1590-1630) in einer deutschen Ausgabe in Frankfurt am Main gedruckt und erstveröffentlicht. Der Text und das Titelkupfer entstanden folglich nicht im Rahmen einer Zusammenarbeit von Autor und Stecher. Eine solche deutsche Erstausgabe liegt an der Kölner Universitätsbibliothek vor. Dieser folgten noch drei weitere und leicht variierende, deutschsprachige Editionen aus den Jahren 1626, 1641 und 1659. Bleibt in den ersten beiden Ausgaben der Übersetzer noch gänzlich unerwähnt, so gibt die textlich identische dritte Ausgabe immerhin den vagen Hinweis „von einer wohlerfahrenen Person vom Italienischen ins Deutsche übertragen worden“ zu sein.5 Mehr zum Übersetzer ist nicht bekannt.
Das an der Universitätsbibliothek Köln befindliche Exemplar lässt sich zudem durch einen handschriftlichen Vermerk zwischen den Zeilen des Titeltextes genauer zuschreiben. Dort steht geschrieben: „Collegij Societatis Jesu Colonia 1622“. Spätestens also ab 1622 war der Band im Besitz der katholischen Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu – dem Jesuitenorden in Köln. Folglich dürfte das Buch als Teil der Bibliothek des Jesuitenkollegs unter französischer Besetzung (1794-1814) in den Bestand der Kölner Gymnasialbibliothek übergegangen sein, der wiederum 1920 in den Korpus der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln einging.6
Der Zustand der Ausgabe ist heute insgesamt mittelmäßig. Der Schweinsledereinband mit gut erhaltenen Blinddruckverzierungen und das Büttenpapier sind von starkem Wurmfraß betroffen. Auf dem Einband sind zudem Spuren von Verschlussschnallen zu sehen, die allerdings nicht mehr vorhanden sind. Die Bindung ist noch weitestgehend intakt und ermöglicht eine gute Handhabung. Der Druck und der Schnitttitel sind trotz der Beschädigungen im Papier gut erhalten und immer noch lesbar.



Inhalt und Struktur

In der Tradition frühneuzeitlicher Lexika versammelt der Band das Wissen und die Kenntnisse über zahlreiche Personengruppen, ihre ausgeübten Berufe und Tätigkeiten, und dokumentiert deren Ursprünge und Entwicklungen bis zum damals aktuellen Stand. Das Spektrum reicht von Fürsten, Verwaltern, Geistlichen und Juristen, über Ärzte, Alchemisten, Kalenderschreiber, Zauberer und Poeten, bis zu Teufelsbannern, Bettlern und Prostituierten. Im Rahmen dessen lässt sich der Band in die Tradition mittelalter- und frühneuzeitlicher Ständebücher einordnen, wenn auch weniger eine bildliche Darstellung, als eine ausführliche Dokumentation der Geschichte und Praxis der Tätigkeit im Vordergrund steht. Das Werk geht über eine rein anekdotenhafte und also der Unterhaltung dienenden Darstellung von Ständen hinaus und vertritt vielmehr einen historisch wissenschaftlichen Anspruch.
Vor dem enzyklopädischen Inhalt findet sich zuallererst das Titelblatt, gefolgt von einer Dedication Lucas Jennis´ an seinen Taufpaten und Vormund sowie einige Subskribenten, Handelsherren und Freunde (S. III-VII). Darauf folgt eine ebenso von Jennis verfasste Vorrede An den günstigen Leser (S. VIII-IX).7 Im Anschluss an diese der deutschen Ausgabe vorbehaltenen Ergänzungen folgen die auch im italienischen Original enthaltenen Ehrwidmungen an Garzoni. Die knappen Widmungen von Zeitgenossen aus dem Umfeld des Autors sind in Italienisch und Deutsch abgedruckt (S. X-XII). Anschließend findet sich ein Tomaso Garzoni gewidmetes Gedicht des Poeten Johann Flitners, welches sowohl in Deutsch als auch in Latein abgedruckt ist (S. XIII-XVII).8 Dieses ist nicht in den italienischen Ausgaben vorhanden und folglich eine posthume Würdigung Garzonis aus der Feder Flitners. Daraufhin folgt ein erstes alphabetisches Autorenregister (S. XVIII-XXVII), welches diejenigen Schriftsteller listet, die im Band herangezogen bzw. zitiert worden sind. Dort sammeln sich allerlei Autoren und Literaturgenres von der römischen Antike bis in das christlich geprägte 16. Jahrhundert.9 Daran schließt ein zweites Register der Discursen / und Professionen / so auff diesem Marckt zusammenkommen an (S. XXVIII-XXXII). Dieses bietet eine Übersicht über die in 153 Diskursen organisierte Wissenskompilation. Dort sind die Diskurse abweichend von der alphabetischen Sortierung der italienischen Ausgabe, nummerisch entsprechend der Diskursreihenfolge sortiert. Noch vor dem eigentlichen Inhalt findet sich eine ins Deutsche übertragene Vorrede Garzonis (S. 1-16). Ab hier beginnt auch die Paginierung mit der arabischen Ziffer 1. Im Anschluss folgen die Ausführungen zu den 153 Diskursen (S. 17-731), welche in einer hierarchisierenden Ordnung von den höheren bis zu den niederen Ständen organisiert sind und der Sortierung Garzonis entsprechen. Das Werk schließt mit einem dritten, nun wieder unpaginierten Register, welches mit einem alphabetischen Schlagwortverzeichnis vergleichbar ist. Dieses ist in der italienischen Erstausgabe nicht enthalten.
Neben den Ergänzungen – im Wesentlichen durch Lucas Jennis verfasste Schriften – entspricht die deutsche Erstausgabe inhaltlich wie organisatorisch der italienischen. Ursprüngliche Sinngedichte und Widmungen sind original sowie in deutscher Übersetzung abgedruckt. Die markantesten Unterschiede der deutschen Version sind das nummerisch geordnete zweite Register, die Hinzufügung des dritten alphabetischen Sachregisters – dieses wurde womöglich angehängt, um der objektiv lexikalischen Funktionalität der ursprünglichen Edition gerecht zu werden – und das deutlich aufwendiger gestaltete Titelkupfer.



Das Titelkupfer

Dieses Titelkupfer von 1619 stammt aus der Hand Matthäus Merians dem Älteren, der in zweiter Ehe Vater der bekannten Maria Sybilla Merian war.10 Seine Signatur Matt. Merian fecit findet sich ganz unten an der Kante des zentralen Textfeldes. Der gebürtige Baseler lebte von 1593 bis 1650 und arbeitete eine Weile in Frankfurt am Main, wo er schließlich das Bürgerrecht beantragte und sich niederließ.11 Merian schuf insbesondere topographische Arbeiten – also Karten und Stadt- bzw. Landschaftsansichten – sowie Historienbilder. Für Publikationen des Frankfurter Verlegers Lucas Jennis fertigte er einige Titelkupfer,12 bis er später schließlich selbst als Verleger aktiv wurde und in den Jahren 1641 und 1659 noch zwei weitere deutschsprachige Auflagen der Piazza Universale herausgab.
Im Zentrum des 16,6 x 27 cm großen Titelblattes befindet sich das blanke, hochrechteckige Textfeld (Abb. 1). Die schwarzen Lettern sind in variierender Typographie und Schriftgröße gedruckt. Gerahmt wird das Titelfeld von einem architektonisch getragenen und in barockem Stuckwerk ornamental gefassten Bildprogramm aus insgesamt 18 Vignetten mit jeweils verschiedenen Motiven. Neben allegorischen und programmatischen Darstellungen finden sich zwölf Abbildungen verschiedener Tätigkeiten und Berufe, welche sich in zwei Pfeilern zur rechten und linken mit jeweils sechs kreisrunden Vignetten vertikal türmen und sich oben in einer abschließenden, oval liegenden Vignette zusammenfinden. Die linke Gruppe wird über dem Sockel von einer allegorischen Darstellung der Diligentia – Personifikation der Sorgfalt und Genauigkeit – getragen (Abb. 2). Die Frauenfigur steht vor einem Stadtpanorama, hält eine Tischuhr in der Rechten und Sporen in ihrer demonstrativ, beinah darreichend erhobenen Linken – eine deiktische Geste, die durch ihren eindringlichen, aus dem Bild heraustretenden Blick noch unterstrichen wird. Hinter ihr steht, leicht verdeckt von ihrem aufwehenden Beinkleid, ein Spinnrad, dessen charakteristische Merkmale, das Schwungrad und die Spindel, zu beiden Seiten der Figur deutlich erkennbar sind. In dem Sockel unter ihr ist der Sinnspruch Fleiß bringt Nahrung eingeschrieben. Ihr Pendant am rechten Pfeiler ist die Personifikation der Erfahrung und Probe – Experientia (Abb. 3). Sie steht ebenfalls vor einer Stadtansicht und ist von einem Stuhl und Globus umgeben. In ihrer Linken hält sie ein aufgeschlagenes Buch, mit der Rechten, in der sie eine schreibbereite Feder hält, weist sie auf ihren Kopf, auf dessen Haar eine geflügelte Sanduhr steht. Der Sockel unter ihr trägt die Devise Zeit bringt Erfahrung. Die Sinnsprüche und allegorischen Figuren ergänzen sich also; vertreten einerseits eine körperliche, andererseits eine geistige Konstitution hinsichtlich der Tätigkeiten, deren Beschaffenheit gemäß der Bedeutung der Sinnsprüche in zwei Momente differenziert wird; aufzubringender Aufwand und resultierender Ertrag. In der Mitte zwischen den allegorischen Figuren gibt eine in die Waagerechte gestreckte und gleichsam größte Vignette des Blattes einen Einblick in das Innere einer Druckwerkstatt (Abb. 4). In dem Innenraum finden sich die gängigen Berufe und Arbeitsschritte des Druckprozesses versammelt; ein Formschneider, Buchdrucker mit ihren Farbballen, Setzer vor ihren Typenkästen und in der Mitte eine Druckpresse, neben der ein Knabe dem Meister Blätter zur Begutachtung darreicht. Neben der Tatsache, dass das Druckereihandwerk selbst innerhalb der Diskurssammlung vertreten ist, verbildlicht die Darstellung als einführendes Element im Titelblatt programmatisch den Ort der schriftlichen Manifestation des Wissens durch das gedruckte Wort bzw. Buch, und kann demgemäß auch als Selbstverweis auf die eigene Praxis gelesen werden. In der Bildkomposition des Titelkupfers bildet sie gewissermaßen das Fundament für das über ihr sich auftürmende Titelfeld.
Ihr auf der vertikalen Mittelachse befindliches Pendant findet die Druckerei oberhalb des Drucktextes. In der ovalen Vignette öffnet sich hinter einem schattigen Arkadengang ein Marktplatz; ebenjener Ort, den schon der Titel metaphorisch anführt (Abb. 5). Menschen versammeln sich zu kleineren Gruppen, einander zugewandt und gestikulierend. Hier und da stehen sie im Ausfallschritt und kommen ob des angeregten Gespräches noch etwas näher aufeinander zu. Tatsächliche Marktwaren finden sich hingegen nicht, und also liegt der Akzent, neben dem sozialen Wesen, ganz auf der immateriellen Warenförmigkeit des Wissens, welches die Menschen hier dar- bzw. anzubieten haben, um sich schließlich darüber zu verständigen. Da Märkte ohnehin nicht ausschließlich Verkaufsplätze waren, vielmehr zentrale Orte des gesellschaftlichen Lebens, wird durch die Abwesenheit tatsächlicher Waren die metaphorische Qualität des Motivs hinsichtlich der enzyklopädischen Buchgattung noch weiter akzentuiert – der Marktplatz ist hier insbesondere als symbolischer Verständigungsort universellen Wissens begriffen.
Diese Darstellung wird gerahmt von Minerva zur linken und Merkur zur rechten Seite, die sich in ihren jeweiligen Vignetten der zentralen Marktszene zuwenden. Beide sind mitsamt ihren gängigen Attributen dargestellt. Zu den Füßen Merkurs fallen darüber hinaus zwei schwere Buchbände auf (Abb. 6 und 7). Minerva und Merkur treten beide in der Vorrede Garzonis auf und sind hier gewissermaßen bildlich vorweggenommen. Erstere gilt mitunter als Schutzgöttin der Handwerker und des Gewerbes sowie der Dichter und Lehrer, allesamt Disziplinen, die vom Band abgedeckt sind, womit sie derlei Wissensfelder repräsentiert und ferner als Patronin behütet. Gleichzeitig gilt sie auch als Göttin der Weisheit, Kunst und des Wissens, womit sie sich schlussendlich für die Zuverlässigkeit und Redlichkeit des Buchinhaltes verbürgt. Letzterer hingegen gilt als Gott der Händler; allein schon dadurch mag seine Platzierung neben einem Marktplatz plausibel gewählt sein, zumal er hier das Wissen über den Handel, aber auch, seiner Beredsamkeit entsprechend, die Distribution der buchgewordenen Informationen – als angebotene Ware – versinnbildlichen dürfte. Er verkörpert folglich auch die praktische Ebene des Handels und „keineswegs nur Informationen über den Handel, […] also Initationsakte von Wissenschaften“, sondern ob seiner praktischen Tätigkeiten, „vor allem Tauschgeschäfte bis hin zum Diebstahl, […] also Operationen intensiver und intimer Kommunikation“.13 In den beiden Gottheiten kulminieren folglich einerseits theoretisch wissenschaftliche und andererseits praktisch methodische Qualitäten. Insofern die beiden der Marktplatzdarstellung flankierend zur Seite gestellt sind, mag sich ihre Schutzfunktion sinngemäß auch auf die gedruckte Piazza übertragen lassen.
In den übrigen zwölf Vignetten, aus zwei 6er Gruppen links und rechts, sind ausgewählte Darstellungen aus den 153 Diskursen zu finden. In absteigender Reihenfolge gruppieren sie sich dabei zu folgenden horizontalen Paarungen: Doktor (17. Dis.) und Apotheker (89. Dis.), Malerei (90. Dis.) und Bildhauerei (92. Dis.), Papyrerei (28. Dis.) und Buchbinderei,14 Jagd und Fischerei (jeweils 59. Dis.), Müllerei (65. Dis.) und Bäckerei (132. Dis.) und zuletzt Metzgerei (16. Dis.) und Kochkunst (93. Dis.). Diese Darstellungen orientieren sich an Holzschnitten Jost Ammans (1539-1591), welche in dem Band Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden, hoher und nidriger, geistlicher und weltlicher, aller Künsten, Handwercken und Händeln bereits 1568 veröffentlicht wurden. Das Ständebuch führt kurze Gedichte zu 114 Berufen von Hans Sachs (1494-1576) auf, die jeweils mit den Schnitten von Jost Amman illustriert sind. Alle zwölf Berufe, welche auf dem Titelblatt der Piazza Universale dargestellt sind, finden sich unter den Dartstellungen dieses Werkes in frappierender Ähnlichkeit hinsichtlich der Darstellung von Raum und Haltung der Figuren, obschon die Gestaltung der Kleidung bei Merian deutlich weniger detailliert ausfällt – was auch an der wesentlich kleineren Bildfläche der Vignetten liegen mag (Vgl. Abb. 8 und 9). Geblieben ist den merian‘schen Darstellungen einerseits die bildliche Fixierung innerhalb exemplarischer Handgriffe der Tätigkeiten, andererseits die Tatsache, dass den Figuren jeweils ein entsprechendes Attribut – etwa in Form eines Werkzeuges – in die Hand geben ist. Die Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden wurde im Verlag Sigmund Feyerabends (1528-1590) in Frankfurt am Main herausgegeben.15 Es ist davon auszugehen, dass Matthäus Merian den Band bzw. die Holzschnitte Ammans kannte und aufgriff.16
Die Auswahl der zwölf Berufe und Handwerke bedeutet eine starke quantitative Limitierung des eigentlich so umfangreichen Inhalts. Aber auch kategorisch geben die Darstellungen dem Leser keinen Überblick über das breite inhaltliche Spektrum, welches der Band abdeckt. So sind lediglich profane Handwerke und Berufe, nicht aber Stände (z. B. Herrscher [1. Dis.], Bischöfe [2. Dis.]) oder allgemeinere Tätigkeiten (z. B. das Baden [123. Dis.] oder das Scherzen mit Worten und Gebärden [50. Dis.]) repräsentiert. Gezeigt sind also praktische Tätigkeiten, die dem körperlich-weltlichen Bereich, anstatt dem Geistigen angehören. Zudem entspricht die vertikale Flächenorganisation der zwölf Darstellungen nicht der Paginierung und folglich auch nicht der von Garzoni gegebenen Hierarchie. Die horizontal nebeneinandergestellten Paarungen auf dem Titelbild sind darüber in Garzonis lexikalischer Zusammenstellung bisweilen nicht in unmittelbarer Nachbarschaft aufgeführt und somit semantisch nicht direkt aufeinander bezogen. Merian folgt also nicht der Organisationsstrategie des italienischen Autors und ordnet die ‚Waren‘ in der Bildfläche neu, worin sich die systematische Gebrauchsfunktion des Lexikons spiegeln mag, der zufolge ein partiell auswahlhaftes Lesen, anstatt eines teleologischen angeboten wird.
Nichtsdestotrotz gibt es bildimmanente, über die Fläche organisierte Bezüge und Verbindungen zwischen den Darstellungen. In horizontaler Axialität sind zwischen vier Paaren jeweils zwei Phasen eines sukzessionslogischen Prozesses beschrieben. Dies gilt für den Apotheker und Doktor, Papyrer und Buchbinder,17 Müller und Bäcker, und schließlich für den Metzger und Koch. Die übrigen zwei horizontalen Paarungen – der Handmaler und Bildhauer, sowie Jäger und Fischer – sind ihrem praktischen Wesen nach verwandt und bilden damit Äquivalenzpaare. Auffällig ist, dass die untersten drei Gruppierungen dabei alle Formen der Nahrungsmittelbeschaffung bzw. -verarbeitung darstellen und damit eine Entsprechung zur Devise Fleis bringt Nahrung bilden. Darüber kommt die Buchkunst, gefolgt von den Bildkünsten und an oberster Stelle die Medizin. Zumindest in Form der obersten beiden Gruppen vereinen sich hier hingegen akademische Disziplinen – der Buchdruck mag aber symbolisch auch die Schriftkunst umfassen – deren Wesen eher von der Devise Zeit bringt Erfahrung bestimmt ist.
Obgleich Matthäus Merian der ursprünglichen Ordnung der 153 Diskurse der italienischen und also auch deutschen Erstausgabe in seinem Titelkupfer keine Entsprechung verleiht, etabliert er eine konstruktive Struktur und organisatorisches Element in seinem Bild. Solche vielbildlichen Titelblätter sind dabei nicht unüblich für die Zeit, bieten sich aber zur Illustration von Wissenskompendien und deren summarisches Prinzip besonders an. So schuf Merian etwa für eine Textanthologie – die Atalanta Fugiens – ein ähnlich organisiertes, um den Titeltext herum organisiertes Titelkupfer (Abb. 10). In szenischen Einblicken werden hier Etappen einer kontinuierlichen Narration gezeigt, allerdings nicht durch innerbildliche Rahmungen getrennt. Diese kontinuierende Bildform unterstreicht die Dauer einer kausallogisch fortlaufenden Diegese. Anders hingegen verhält es sich bei der Piazza Universale. In ihren jeweils geschlossenen Vignetten werden die Tätigkeiten partiell eingefasst, bleiben aber rezeptionsästhetisch rekombinierbare Teile innerhalb der gesamten Bildfläche. Das additiv, summarische Element unterstreicht die Praxis des Zusammentragens und Ordnens des Wissens, welches, eingebettet in eine architektonische Struktur, Dauer und Anschaulichkeit gewinnt. So finden die Elemente des Ordnens und Zusammenstellens in der kompositorischen Struktur und Organisation des Titelkupfers ein Äquivalent.



Frühneuzeitliche Formen der Wissensordnung zwischen Architektur und Darbietung

Die Aspekte des Sammelns, Ordnens und Darbietens von Wissen sind in Bezug auf die sich in der frühen Neuzeit entwickelnde Vorstellung von Wissenserfassung besonders relevant und wurden häufig im Rahmen der Theater- und Marktplatzmetaphorik gedacht und erfasst. Dieses Modell bringt neue Formen der Darstellung hervor, schließt dabei an konzeptuelle Aspekte des Theaters an und erlaubt aufgrund der Konstruktion der Zurschaustellung, Aussagen über die Konstitution von zeitgenössischen Weltbildern. Hinsichtlich dieser Metaphorik weisen das Titelkupfer und der Inhalt der Piazza Universale einige Entsprechungen auf. Daher zunächst einige Anmerkungen zur Theatermetaphorik im vorliegenden Buch und im Allgemeinen.
Neben dem Buchtitel und der Darstellung des Titelkupfers gibt es in der Piazza Universale noch weitere semantische Referenzen zum Theater. In der von Tomaso Garzoni verfassten und ins Deutsche übertragenen Vorrede (S.1-16) wird die Schauplatzmetaphorik narrativ weiter ausgebreitet. Die Vorrede trägt den folgenden Titel:

Vorrede / In welcher MOMVS, als ein Oberster Gott der Tadeler und Verleumbder den Authorem vor dem Richterstul der Götter verklagt. MINERVA aber / als eine Göttin der Weißheit sich desselbigen Schutzes annimbt / darauff dann die Götter in fauorem deß Authoris das Urtheil sprechen.18

Garzoni arbeitet also nicht nur im metaphorischen Sinne mit der Gattung Theater, sondern rekurriert auch konkret textuell auf das Genre. Der Autor fingiert hier seine eigene Anklage durch Momus, den Gott der Tadler und Verleumder, vor dem Richterstuhl der Götter. Diese theatralische gefasste Einleitung teilt sich in verschiedenen Reden jeweils unterschiedlicher Protagonisten.19 Dort wird Garzoni, der sich als „Author deß Theatri, und Schauwplatz aller Wissenschafften / Künsten und Handthierungen / so in der ganzen Welt gefunden werden […]“,20 auftreten lässt, durch Minerva, die Göttin der Weisheit, vertreten und schließlich von jedweder Anklage durch das Urteil der Götter freigesprochen. In einem zweiten Teil der Vorrede (ab S. 9) tritt auch Merkur, zwar weniger prominent, aber doch als handelnde Person, auf. Die Darstellung beider Gottheiten auf dem Titelkupfer dient also nicht lediglich einer allgemein programmatischen Funktion, sondern präfiguriert den Inhalt Garzonis textlicher Vorlage.
Mit dem Aufgreifen der Metapher des Schau- bzw. Marktplatzes entspricht Garzoni einem europäischen Modell der Wissenschaftsdarstellung, welches sich an der im Laufe des 16. Jahrhunderts immer geläufiger werdenden theatrum mundi-Konzeption orientiert.21 Diese denkfigürliche Weltanschauung, die das Leben als ein Schauspiel versteht,22 bestimmte und legitimierte den Rahmen und Anspruch zahlreicher Publikationen zur Zeit der erstveröffentlichen Piazza Universale von 1585.23 Die Welt wird hier sinngemäß als eine Bühne begriffen,24 welche den göttlichen Schöpfungen und demgemäß allen Dingen und Menschen einen Raum gibt, um sich als kosmisches Schauspiel zu offenbaren.25 Folglich bleibt dieses Denkmuster nicht nur auf die Gattung des Berufskataloges beschränkt. In der Universae Naturae Theatrum (1596) wird so etwa ein ‚Schauspiel‘ naturwissenschaftlicher Phänomene geboten, ähnlich einer Wunder- oder Schaukammer. Das Titelblatt (Abb.11) ist hier weniger opulent, zeigt aber doch eine von Architektur eingefasste und von allegorischen Figuren besetzte Vignette, die einen Einblick in eine landschaftliche Szene bietet. Im Theatrum Europaeum (1643) hingegen wird die europäische Geschichte gemäß der Metaphorik in Form eines historischen Theaters erzählt. Diese im 16. Jahrhundert sich vollends durchsetzende Form gerät zum „Paradigma des Denkens jener Zeit“ und wird zum Prinzip und Merkmal frühneuzeitlicher Wissenskompilationen,26 welche das prosperierende Wissen im metaphorischen Körper des Schau- bzw. Marktplatzes einfassen. Dabei ist bei enzyklopädischen Buchpublikationen allerdings weniger der durch die Theatermetapher implizierte Topos von ‚Schein und Sein‘ relevant, als vielmehr das raum- und Standpunkt gebende sowie das legitimierende Element einer transzendenten Bestimmung, die sich letztendlich auf die in dem ‚gedruckten Schauplatz‘ befindlichen Inhalte bezieht.
Der Umgang mit der Theatermetapher innerhalb lexikalischer Bände lässt sich in der Regel aus dem Theaterdispositiv und seinen Begleitmetaphern – Ort, Bühne, Regisseur, Aufführung, Publikum usw. – ableiten.27 Allerdings war der Terminus damals wesentlich allgemeiner begriffen; nämlich als Schaustellung bzw. Ort, an dem überhaupt Etwas ausgestellt wurde,28 weshalb die Begrifflichkeiten Markt und Theater nicht synonym, doch aber in enger Verwandtschaft, nämlich jeweils als Schauplätze begriffen werden. Neben den Spielarten mit der Metapher werden auch die verschiedensten Inhalte in ihre Struktur eingebettet, stets im Bemühen um eine attraktive Kommunikationsform. Gleichzeitig bieten die topologischen Qualitäten dieser Begriffe eine Form der Systematisierung und Fixierung des Wissens an. Die Metaphorik wirft hinsichtlich des Werkes also zwei Fragen auf; einerseits die nach der Architektur, und andererseits die nach der Darbietung. Obwohl sich beides nicht streng trennen lässt, soll das Werk hinsichtlich dieser zwei Kategorien im Folgenden differenziert betrachtet werden.



Architektur – Ort der Fixierung und Universalität

Im Rahmen einer zunächst räumlich verstandenen Lesart der Metapher orientiert sich ihre Bedeutung am Wesen realer Schau- oder Marktplätze als raum- und ortgebende Architekturen, welche einem gewissen Spektrum an Dingen einen Platz geben. In metaphorischer Übertragung gibt dies auch den Leitgedanken für die Piazza Universale vor. Hinsichtlich der vorliegenden Enzyklopädie geht es um eine Strategie der Wissenssammlung und -ordnung, der zufolge sich auf einem architektonisch gerahmten Ort die unterschiedlichsten, aus dem Leben entnommenen Protagonisten, Berufe und Tätigkeiten in ihrer Vollkommenheit versammeln, und sich dem Publikum zeigen, um dieses zu belehren, erbauen und unterhalten. Die Organisationsform des aufgeschriebenen Wissens folgt derweil dem architektonischen Leitmotiv des Theaters bzw. Marktes als determiniertem und folglich eingrenzendem Raum, um dem partikularen und stets florierenden Wissen Halt und Anschaulichkeit zu geben. Garzoni folgt diesem Gedanken und formuliert in seiner Vorrede:

„In summa / wie andere die Welt gleichsam mit iren wunderbaren und künstlichen Gebäuwen gezieret / also hab ich auch in nachfolgung deroselbigen / in wenig tagen und mit geringen Unkosten eine solche Burz [Burg M.W.]29 oder Marckt wollen anrichten / von welcher Schöne und weitem Begriff die Nachkommende mit sonderlichem Lust und Ergetzung zu lesen / und sich selbst auch darauff zu ergetzen betten.“ 30

Der Autor weist hier auf das überdauernde Element der Architektur hin, im Rahmen dessen das nun fixierte Wissen auch dem Vergnügen folgender Generationen dienlich sei. Im direkten Bezug auf den realen Markt, leitet er auch das inhaltliche Spektrum seines Bandes ab:

„Sehet derhalben allhie einen allgemeinen universal Marckt oder Bursz / auff welcher allerhandt Leute / oder alle Professionen / so in der Welt / beydes hohe und geachte / unnd nidrige oder verachte / zusammen kommen […].“ 31

Garzoni lässt hier das kategoriale Panorama seines Bandes metaphorisch aus den örtlichen Grenzen des realen Platzes folgen. Sein Werk umfasse folglich alle Personen, welche auf einem Markt – verstanden als urbaner Ort – direkt oder indirekt zusammenkommen. Im Rahmen dieser Denkfigur erhalten alle Protagonisten einen festen Platz, was Struktur und Ordnung suggeriert. Derlei deutet sich auch im Titelkupfer an, welches den Tätigkeiten in ihren einzelnen Vignetten eine Rahmung verleiht und diese dann im bildimmanenten Architektursystem an einen Platz verankert. Das Kontur gebende und fixierende Element im Rahmen einer architektonischen Determinierung ist hier im Bild aufgegriffen und unterstreicht die praktischen Bemühungen des Kompilators. Zudem deutet Garzoni in dem vorangehenden Zitat an, dass er innerhalb dieser architektonischen Grenzen, die im Buch gewissermaßen durch die lexikalische Bandbreite von ‚A bis Z‘ gespiegelt sind, gemäß des universalen und polyhistorischen Ansinnens Vollständigkeit beansprucht. Dazu noch etwas konkreter Garzonis folgende Formulierung:

„Wann es euch nun geliebt / diesen wunderbaren Bauw zu besichtigen / so findet ihr ihn allhie also geöffnet / daß ihr euch uber der grossen menge / die er begreifft / möget entsetzen / oder zum wenigsten bekennen müsset / daß es vielleicht die grösseste Bursz / oder der berühmbteste Marckt in der ganzen Welt seye.“ 32

Der Kompilator unterstreicht hier sein Anliegen einer Gesamtdarstellung, indem er von seiner Piazza Universale als der tatsächlich größten und berühmtesten Architektur spricht, und legitimiert gleichzeitig den allumfassenden Inhalt, der eben auch niedere Stände, so diese ja auch auf jenem Platze versammelt sind und denen demgemäß auch ein Platz in seiner gedruckten Piazza zusteht, erfasst. Trotz der Möglichkeit angesichts der niederen Stände entsetzt zu sein, wird hier eine lückenlose Beschreibung aller Tätigkeiten und Berufe vorgezogen. Der hohe Anspruch an Universalität und Vollständigkeit lässt sich an der Menge an Darstellungen des Titelkupfers ablesen. Die Vielzahl der kleinen Vignetten, welche sich um das Titelfeld reihen, entsprechen den verschiedensten Diskursen des Werkes, von früh genannten (Doktor, Dis.17) bis zu den Hinteren (Bäckerei, Dis. 132) und umreißen so den inhaltlichen Umfang. In ihrem Detailgrad und der Bewegtheit lassen sie bisweilen an das rege Treiben eines realen Marktes denken. Gleichzeitig markiert der Markt- oder Schauplatz überhaupt erst den Ort, an dem etwas zur Schau gestellt wird, was zur Betrachtung dargeboten ist. Dies deutet Garzoni im vorigen Zitat an, wenn er sagt, dieser wunderbare Bau sei zu besichtigen, womit ein spezifischer Rezeptionsmodus aufgerufen wird. Der Schauplatz ist der Ort an dem Anschauung und Austausch praktiziert werden. Zur Funktion der Form der Schaustellung bzw. Darbietung folgt später noch mehr, hier sei aber auf die doppelte Spielart der Metapher hingewiesen, die einerseits in ihrer sozialen Referenz zum Ort des Marktes den Inhalt legitimiert, folglich im enzyklopädischen Interesse des Autors steht, und andererseits, im Bezug zur (Theater-)Bühne, bzw. dem Schauplatz als Raum einen gewissen Rezeptionsrahmen impliziert, also hinsichtlich des Betrachters wirkt.



Darbietung – Anschaulichkeit von Inhalt und Ordnung

Die Metaphorik des Theaters bzw. Schauplatzes verlangt schließlich auch nach einer Untersuchung der Form der Inszenierung, insofern „die Metapher auch eine vom Autor vorgeschlagene Relation des Lesers zum Dargestellten ausdrücken will […].“33 Unter dem Begriff der Darbietung sei das kollektive und kommunikative, bisweilen unterhaltende, Momentum des Schau- und Marktplatzes gemeint, der wie bereits erwähnt nicht nur Ort des Warenhandels, sondern auch gesellschaftlicher Treffpunkt war. Die Metapher bedingt also nicht nur das Produktionsmodell, sondern auch den Rezeptionsrahmen, den Garzoni ebenso bedenkt, wenn er sagt, er sei der Hoffnung „ein angenemmes Spectaculum“ zu bieten, welches er „jedermänniglichen fürstelle“.34 Hierin drückt sich einerseits die Rolle Garzonis als ‚Regisseur‘ des Darzustellenden aus, und andererseits der Wille, eine attraktive Form zu finden sowie einen breiten Rezeptionskreis zu adressieren.
In der Rolle des Regisseurs ist Garzoni gewissermaßen Verwalter der Fülle an Informationen, wählt aus und versetzt diese in einen systematisierten Präsentationsmodus. Hier ist die Theatermetapher zunächst im selbstreferenziellen Bezug zum Enzyklopädisten zu verstehen, welcher seine Protagonisten gewissermaßen auf einer Bühne versammelt. Wenn er jedoch schreibt, auch ein angenehmes Spectaculum bieten zu wollen, fungiert die Metaphorik zudem als Implikation hinsichtlich einer Attraktivität der Darbietung, also bezüglich des Betrachters – oder eben des Lesers. Die Attraktivität der ‚Anschauung‘ liegt bereits in der Quantität, die aber nicht nur dem enzyklopädischen Interesse des Urhebers geschuldet ist, sondern weiter auch eine ästhetisch erhabene Anschauung mit sich bringt. Derlei deutet Garzoni an, wenn er sagt, dass die Piazza Universale sein voriges Werk um Weite, Begriff und Schönheit überträfe.35 Die Enzyklopädie ermöglicht so vor allem weniger ein Lesen, welches sich „von Seite zu Seite“ vollzieht, „als ein Verharren in der Fülle der Anschauungen […].“36 Ähnlich wie bei Sammelkabinetten oder Wunderkammern ist es mitunter die schiere Masse, welche den Betrachter in Erstaunen versetzt. Derlei mag sich im Kupferstich Merians verdeutlichen, welcher keinen Einblick in eine kohärente Bildwelt, sondern einen Überblick über die summarisch additive Zusammenstellung unterschiedlichster Tätigkeiten und Berufe gibt.
Die Menge an Informationen ist bereits in Garzonis Ursprungsedition in eine hierarchisch wertende Ordnung versetzt, deren System ebenso eine Attraktivität anbietet. So bleiben trotz der Intention einer lückenlosen Beschreibung aller Tätig- und Möglichkeiten des Gelderwerbs gewisse moraldidaktische Ambitionen des Kanonikers erhalten, worin sich die belehrende Funktion des Theaters ausdrücken mag. Derlei ist schon durch das metaphorische Dispositiv des Theaters impliziert, innerhalb dessen der Leser durch die konstruierte „Außenperspektive das Werk in seiner Spiegelfunktion als Selbsterkennungsinstrument wahrnimmt […].“37 Die organisatorische Attraktivität mag darüber auch praktischer Natur sein. Das Inhalts- und Begriffsverzeichnis, sowie die dem Drucktext beiseite gestellten Marginalien, welche der Titel besonders hervorhebt („Und so‘wol mit nohtwendigen Marginalien […] geziert“), ermöglichen ein schnelles Auffinden, Querlesen und Herstellen allerlei systematischer Verbindungen, womit sich wiederum der weniger teleologische, als vielmehr flächenhaft organisierte Charakter des Textkörpers verstärkt. Johan Flitners Gedicht der deutschen Ausgabe unterstreicht diesen Aspekt. Dort heißt es: „Diesem Schauplatz Garzonii, welchen du, Leser, sichst alhie, darinnen alle Künst und Gaben, so jemals florirt mögen haben, gleich als auf einem offnen Plan, können geschauet werden an.“38 Die Organisationsform des Kompilators versammelt alles Wissen auf einem Platz – oder eben einem Plan – auf dem der Rezipient in systematischer Weise sehend und lesend am aktuellen Wissensstand partizipieren kann. Derlei mag sich auch in der bildflächig organisierten Komposition des Titelblattes ausdrücken, welche die Figuren nicht in einer einheitlich kohärenten Bildwelt auftreten lässt und diese nicht diegetisch bzw. situativ verankert, sondern sie im partiellen Vignettensystem, welches Querverbindungen über die Bildfläche zulässt, ‚aufführt‘ und so den Inhalt wie tatsächliche Waren in Kisten sortiert anbietet. Dabei entwickelt das Titelkupfer bisweilen eine eigenständige Systematik, wenn dort etwa hinsichtlich des Inhaltes die Kategorien einerseits körperlicher und andererseits geistiger Tätigkeiten differenziert werden oder aber mit sukzessiv- oder äquivalenzlogischen Paarungen verschiedene Typen der Systematisierung angewendet werden.
Schließlich orientiert sich die Verständlichkeit – also die kommunikative Zugänglichkeit – an der Marktmetapher. Wie der Titeltext der deutschen Ausgabe verspricht, strebt die Publikation eine jedermann zugängliche Einsehbarkeit und Sprache an, welche gemäß dem Titel bisweilen sogar sehr lustig zu lesen sei, also sogar einen sprachlichen Unterhaltungswert bereithält. Allein die Publikation in deutscher Sprache ist Beleg eines solchen Anliegens. Obwohl Latein im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend durch die Nationalsprachen abgelöst wurde,39 behielt sie in wissenschaftlichen Publikationen den Vorrang, galt sie doch bis dahin als die Sprache der Wissenschaft und adressierte folglich eine limitierte Leserschaft.40 Die Wahl einer deutschsprachigen Publikation dürfte obschon der weniger prestigeträchtigen Sprache, dem breiteren Rezeptionskreis geschuldet sein. Der Metaphorik des Marktplatzes folgend wird hier eine zugängliche und offene Architektur angestrebt.



Resümee

Inhalt und Titelkupfer der Piazza Universale wurden hinsichtlich ihrer Verbindungen und schließlich mit Blick auf die Denkfigur des Schauplatzes untersucht. Dabei zeigte sich, dass sowohl das Titelkupfer als auch der Inhalt mannigfache Bezüge zu Spielarten der Metaphorik übernommen haben. Dabei folgt das Titelkupfer Merians nicht streng dem Text und der Ordnung Garzonis, geht aber nichtsdestoweniger mit der Metapher um. Entsprechend der Bedingungen der Metaphorik, vermag das Titelbild als Bedeutungsträger einerseits dem Leser eine gut strukturierte, leicht verständliche und attraktive Organisationsstrategie anzubieten und demgemäß auch den Rezeptionsmodus und das Leseverhalten anzuleiten, und andererseits einen frühneuzeitlichen, literarischen Umgang mit Wissen zu kommunizieren, also Produktions- und Organisationsbedingungen zu unterstreichen. Demgemäß fungiert das Titelblatt als visueller Paratext sowohl didaktisch einleitend als auch ergänzend zum Inhalt des Bandes.
Mit einer von gerade mal 18 Erstausgaben an deutschen Standorten41 hat die Kölner Bibliothek ein herausragendes Beispiel eines Wissenskompendiums von Berufen und Tätigkeiten des frühen 17. Jahrhunderts in ihrem Bestand.





Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis
Garzoni, Tomaso: Piazza Vniversale. Hg. von Lucas Jennis. 1. Ausg. Frankfurt/M. 1619.


Literaturverzeichnis
Battafarano, Italo Michele: „Vom polyhistorischen Traktat zur satirischen Romanfiktion. Garzonis Piazza Universale bei Albertinus und Grimmelshausen“. In: ders. (Hg.): Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. (= IRIS Forschungen zur europäischen Kultur, Bd. 3), Bern 1991, S. 109-124.
Becker, C.: Jost Amman. Zeichner und Formschneider, Kupferätzer und Stecher. Leipzig 1854.
Friedrich, Markus: „Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel“. In: Theo Stammen, Wolfgang E.J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (= Colloquia Augustana, Bd. 18), Berlin 2004, S. 2017-232.
Fuss, Ulrike Valeria: Matthäus Merian der Ältere. Von der lieblichen Landschaft zum Kriegsschauplatz – Landschaft als Kulisse des 30jährigen Krieges. Univ.-Diss. Tübingen, 2000.
García, José M. Gonzáles: „Zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie: die Metapher des ‚Theatrum mundi‘“. In: Christiane Schildknecht, Dieter Teichert (Hg.). Philosophie in Literatur, Frankfurt/M. 1996. S. 87-108.
Heßelmann, Peter: „Tomaso Garzoni: Piazza Universale“. In: Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit. Repertorium. Nikola Roßbach, Thomas Stäcker (Hg.). Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2011. (05.10.2018).
Langbehn, Claus: „Theater“ in: Ralf Konersmann (Hg.) Lexikon der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2001, S.449-463.
Leonhardt, Jürgen: Latein. Geschichte einer Weltsprache. München 2009.
Lochner, Elmar: „Das Spital unheylsamer Narren. Zur Wahnsucht bei Garzoni und Harsdörffer“. In: Italo Michele Battafarano (Hg.): Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. (= IRIS Forschungen zur europäischen Kultur, Bd. 3), Bern 1991, S. 77-108.
Meier, Christel: „Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz“. In: Martin Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens (= Pluralisierung und Autorität, Bd. 18), Berlin 2009, S. 3-40.
Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/M. 1998.
Schneider, Ulrich Johannes: „Merkur und andere enzyklopädische Götter“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft I/2, 2007, S.89-100.
Wüthrich, Lucas Heinrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae. Band II, Basel 1972.


Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Matthäus Merian: Titelblatt, 1619, Radierung mit Drucktext; 16,6 x 27 cm. In: Tomaso Garzoni: Piazza Vniversale. Hg. von Lucas Jennis, Frankfurt/M. 1619.

Abb. 2-8: Details aus Merian 1619.

Abb. 9: Jost Amman: Der Müller, 1568, Holzschnitt: o.A. In: Eygentliche Beschreibung aller Stände auff Erden. Hg. von Sigmund Feyerabend, Frankfurt/M. 1568. Abb.: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org.

Abb. 10: Matthäus Merian: Titelblatt, 1618, Kupferstich mit Drucktext; o.A. In: Michael Maier: Atalanta Fvgiens. Hg. von Jh. Th de Bry, Oppenheim 1618. Abb.: http://en.wikipedia.org.

Abb. 11: O.A.: Titelblatt, 1596, Radierung mit Drucktext; o.A. In: Jean Bodin: Vniversae Natvrae Theatrvm. Hg. von Jacob Rossini, Lyon 1596. Abb.: Internet Archive (7.10.2018).






Abbildung 1:




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Abbildung 3:




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1: Anm. Im Folgenden als Piazza Universale benannt und zitiert.

2: So auf dem Titelblatt der deutschen Erstausgabe der Piazza Universale.

3: Italo Michele Battafarano: „Vom polyhistorischen Traktat zur satirischen Romanfiktion. Garzonis Piazza Universale bei Albertinus und Grimmelshausen“. In: Ders. (Hg.): Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. (= IRIS Forschungen zur europäischen Kultur, Bd. 3), Bern 1991, S. 109-124, 109.

4: Peter Heßelmann: „Tomaso Garzoni: Piazza Universale“. In: Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit. Repertorium. Nikola Roßbach, Thomas Stäcker (Hg.). Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2011. (05.10.2018).

5: Lucas Heinrich Wüthrich: Das druckgraphische Werk von Matthaeus Merian d. Ae., Band II, Basel 1972, S. 42.

6: Anm. Mehr zur Geschichte der Kölner Gymnasialbibliothek in: Wolfgang Schmitz: „Die Kölner Gymnasialbibliothek. Buchbestände und Handschriften aus sechs Jahrhunderten“ In: O.A. (Hg.). Bildung stiften. Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds (= Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds), Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds, Köln 2000, S. 84-93.

7: Anm. Ab einschließlich des Titelkupfers bis zur ersten arabisch paginierten Seite gibt es 32 unpaginierte Seiten, die in der Folge durch den Autor in römischen Zahlen kenntlich gemacht werden.

8: Anm. Johann Flitner war auch im Verlage Merians als Korrektor beschäftigt; vgl. Carl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Literatur, Band 3. Leipzig, 1786. S. 195.

9: Heßelmann 2011.

10: Ulrike Valeria Fuss: Matthäus Merian der Ältere. Von der lieblichen Landschaft zum Kriegsschauplatz – Landschaft als Kulisse des 30jährigen Krieges. Univ.-Diss. Tübingen, 2000, S. 26.

11: Fuss 2000, S. 25.

12: Einen guten Überblick über Merians druckgraphisches Werk verlagsfremder Radierungen bietet das dritte Kapitel in: Wüthrich 1972, S. 93-140.

13: Ulrich Johannes Schneider: „Merkur und andere enzyklopädische Götter“. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft I/2, 2007, S.89-100, 96.

14: Anm. Die Buchbinderei kommt nicht explizit in den 153 Diskursen vor.

15: C. Becker: Jost Amman. Zeichner und Formschneider, Kupferätzer und Stecher. Leipzig 1854, S. 62.

16: Anm. Die dritte deutschsprachige Ausgabe der Piazza Universale von 1641 führt im Fließtext schließlich die originalen Holzschnitte Jost Ammans, welche bereits 1568 in der Eigentlichen Beschreibung aller Stände auf Erden herausgegeben wurden. Die Holzstöcke habe Merian „mit sondern Kosten zu Handen gebracht“ Siehe. C. Becker 1854, S. 65.

17: Anm. Dieser Paarung ließe sich noch die Darstellung der Druckwerkstatt zuordnen.

18: Tomaso Garzoni: Piazza Universale. Hg. von Lucas Jennis. Frankfurt/M. 1619, S. 1

19: Momus, S. 1-4/Minerva, S. 4-7/Urtheil der Götter, S. 8/Zoili, S. 9-10/Moscus, S. 10-11/Protho, S. 12/Battus, S. 12-13/Garzoni an den Chorum Deorum, S. 13-15/ Vorrede deß Authoris an die Zuseher, S. 15-16.

20: Piazza Universale 1619, S. 1.

21: José M. Gonzáles García: „Zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie: die Metapher des ‚Theatrum mundi‘“. In: Christiane Schildknecht, Dieter Teichert (Hg.). Philosophie in Literatur, Frankfurt/M. 1996. S. 87-108, 91.

22: Claus Langbehn: „Theater“ in: Ralf Konersmann (Hg.): Lexikon der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2001, S.449-463, 449.

23: Markus Friedrich: „Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel“. In: Theo Stammen, Wolfgang E.J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (= Colloquia Augustana, Bd. 18), Berlin 2004, S. 205-232, 205.

24: Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/M. 1998, S. 124.

25: Christel Meier: „Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz“. In: Martin Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens (= Pluralisierung und Autorität, Bd. 18), Berlin 2009, S. 3-40, 19.

26: Langbehn 2011, S.449.

27: Langbehn 2011, S.449.

28: Meier 2009, S. 14f.

29: Anm. In der deutschen Ausgabe ist das italienische Wort „edificio“ mit „Burg“ übersetzt.

30: Piazza Universale 1619, S. 15.

31: Piazza Universale 1619, S. 16.

32: Piazza Universale 1619, S. 16.

33: Friedrich 2004, S. 207.

34: Piazza Universale 1619, S. 16.

35: Piazza Universale 1619, S. 16.

36: Meier 2009, S. 19.

37: Elmar Lochner: „Das Spital unheylsamer Narren. Zur Wahnsucht bei Garzoni und Harsdörffer“. In: Italo Michele Battafarano (Hg.): Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. (= IRIS Forschungen zur europäischen Kultur, Bd. 3), Bern 1991, S. 77-108, 77.

38: Piazza Universale 1619, S. XV.

39: Jürgen Leonhardt: Latein. Geschichte einer Weltsprache. München 2009, S. 193.

40: Leonhardt 2009, S. 11.

41: Heßelmann 2011.